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Manifest, trug bürgerlich-demokratische Züge. Mit Beginn des Aufstandes sollte eine Bauernbefreiung ohne Entschädigung der Grundbesitzer verkündet werden. Auf diese Weise wollte die Polnische Demokratische Gesellschaft die soziale Basis der zukünftigen Erhebung erweitern. Nicht nur in der Emigration liefen die Vorbereitungen an. Emissäre wurden in die alte Heimat geschickt, um konspirative Komitees zu gründen. Im Gegensatz zu den russisch oder österreichisch besetzten polnischen Gebieten erleichterte ein äußerer Umstand zunächst die Arbeit des Posener Komitees.
     1840 bestieg Friedrich Wilhelm IV. (1795–1861, König bis 1858) nach dem Tode seines Vaters den preußischen Thron. Der Monarch stand in dem Ruf, im Gegensatz zu seinem Vorgänger ein vielseitig interessierter und geistig aufgeschlossener Mann zu sein. Eine allgemeine Amnestie für politische Vergehen brachte politischen Gefangenen die Freiheit. Das liberale deutsche Bürgertum war jedoch bald enttäuscht, als es begann, konkrete Forderungen zu stellen, so nach einer Verfassung, die ihm zumindest die Beteiligung an der Machtausübung sichern sollte.
     Die Führung des Posener Komitees hatte 1842 der Philosoph und Publizist Karol Libelt (1807–1875), ein Anhänger Hegels, übernommen. Als Ludwik Mieroslawski (1814–1878), von der Zentrale der Polnischen
Daniela Fuchs
Der Polenprozeß 1847 in Berlin

Am 2. August 1847 begann in Berlin der erste öffentliche politische Prozeß in der Geschichte Preußens. Der sogenannte Polenprozeß erregte die ganze Stadt. Was waren die Hintergründe?
     Von 1795 an, nach der 3. Teilung Polens, lebten mehrere polnische Generationen ohne eigenes Vaterland. Dieser Zustand dauerte 123 Jahre an. Die Monarchen Rußlands, Österreichs und Preußens versuchten mit unterschiedlichen Mitteln und Methoden, das polnische Volk zu unterwerfen, zu germanisieren und zu russifizieren. Es sollte ihnen jedoch nicht gelingen. Davon zeugten eine Reihe kleinerer und größerer nationaler Erhebungen und Aufstände, die oft blutig endeten. Polnische Freiheitskämpfer waren berühmt für ihren Mut und ihre Opferbereitschaft.
     Nach der Niederlage des Novemberaufstandes 1830/31 bereiteten polnische Patrioten einen erneuten Aufstand vor. Im März 1832 gründeten polnische Emigranten in Paris die Polnische Demokratische Gesellschaft, die sich schnell zur größten politischen Organisation der Polen entwickelte. Das Programm der Gesellschaft, das Große

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Demokratischen Gesellschaft zum Oberbefehlshaber der nationalen Erhebung bestimmt, im Großherzogtum Posen eintraf, wurde der Beginn des Aufstandes auf den 21. Februar 1846 festgelegt.
     Von dem geplanten Aufstand erfuhr der damals 19jährige Wilhelm Liebknecht (1826–1900), der spätere Führer der deutschen Sozialdemokratie. Er hatte während seiner Lehr- und Wanderjahre junge Polen kennengelernt. In seinen Erinnerungen schrieb er: »... wäre damals nicht durch vorzeitige Entdeckung des Anschlags der
Ausbruch und Aufstand in Preußen im Keim erstickt worden, so hätte ich möglicherweise die Feinde meines deutschen Vaterlandes zuerst als polnischer Freischärler bekämpft. Denn das an den Polen begangene Verbrechen brannte mir in der Seele.«1)
Die großangelegten Vorbereitungen für die nationale Erhebung blieben auch der Polizei nicht verborgen. Rußland und Österreich hatten bereits 1833 das Bündnis von Münchengrätz geschlossen, dem später auch Preußen beitrat. Es sah u. a. den Austausch von Polizeiinformationen und gemeinsam abgestimmte politische Maßnahmen gegen die polnische Unabhängigkeitsbewegung vor. Am 13. Januar 1846 erließ der preußische König eine Allerhöchste Kabinettsorder, in der er die Bildung einer Sonderkommission zur Untersuchung der Verschwörung befahl.
     Am 5. Februar 1846 meldete sich der polnische Adlige Henryk Poninski, der zu den Aufständischen gehörte und dann Angst vor der eigenen Courage bekam, bei der preußischen Polizei und gab den kompletten Aufstandsplan sowie die Namen der Verschwörer preis. Massenverhaftungen setzten ein, anderthalb Jahre versuchte die Sonderkommission, Einzelheiten über die Verschwörung zu erfahren.
Ludwik Mieroslawski
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Das Gefängnis in Moabit
Dann begann im August in Berlin der Prozeß.
     254 Polen standen vor den Schranken des königlichen Kammergerichts, das wegen der vielen Angeklagten in die extra für diesen Zweck umgestaltete Gefängniskirche des neuen Zellengefängnisses in Moabit umziehen mußte. Den vor allem aus dem Kleinadel und dem Bürgertum stammenden Polen wurde vorgeworfen, die Wiederherstellung des polnischen Staates in den Grenzen von 1772, also vor der 1. Teilung, betrieben zu haben. Obwohl der Aufstand nicht zum Ausbruch kam, klagte der Staatsanwalt nach viermonatiger Verhandlungsdauer auf Hochverrat. Acht Todesurteile, darunter gegen Ludwik Mieroslawski, und 97 Haftstrafen wurden verhängt. Karol Libelt sollte für 20 Jahre hinter Gitter. Viele der Verurteilten legten Berufung ein.
Der Prozeß stieß von Anfang an bei der Bevölkerung und bei der Presse auf großes Interesse. Menschenmassen versuchten lange vor Prozeßbeginn, sich Einlaß in den Verhandlungssaal zu verschaffen. Polizei und Armee mußten eingesetzt werden, um die Ordnung aufrechtzuerhalten. Die in Berlin erscheinenden »Vaterlandsblätter« schrieben: »Großes Interesse erregen in diesem Augenblicke die Verhandlungen des Polenprozesses, der in der Geschichte der Kriminaljustiz einzig dasteht. Die Augen von ganz Europa sind auf den Ausgang dieses Riesenprozesses gerichtet und mit der größten Spannung verfolgt man den Verlauf der Verhandlungen.«2)
Was nun während des Prozesses geschah, überstieg die Vorstellungskraft der preußischen Behörden. Den angeklagten Polen
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schlug aus der Bevölkerung eine Welle der Sympathie entgegen. Der Kampf um einen unabhängigen polnischen Staat deckte sich mit dem Streben deutscher Demokraten nach einem einheitlichen und demokratischen Deutschland. Während der Aufstands- vorbereitungen gab es von polnischer Seite den Versuch, Kontakt zu deutschen Demokraten aufzunehmen. In einer Grußadresse, in deutscher Sprache verfaßt, hieß es: »Hier ist unsere Bruderhand. Wir bieten sie Euch im Namen unserer Nation dar, da sie Euch die Ihrige noch nicht reichen kann, die in einer fremden Fessel liegt. Schlagt ein, sie bewaffnet sich für Eure Freiheit und die Freiheit Europas.«3)
     Die mit Spannung erwartete Rede Ludwik Mieroslawskis am 3. August 1847 vor Gericht war zweifellos der Höhepunkt des Prozesses. Die »Deutsche Zeitung« berichtete darüber: »Der Vortrag und Aktion waren feurig und bewegt und übten auf die Landsleute ebenso mächtige Wirkung aus, wie auf die Zuhörer, die des Polnischen unkundig, ihn nur mit den Augen, nicht mit den Ohren vernahmen.«4)
     Der 33jährige Mieroslawski war General, Schriftsteller und Publizist. Als Teilnehmer des Novemberaufstandes 1830/31 hatte er bereits Erfahrungen gesammelt. Später sollte er an den Aufständen 1848 im Großherzog- tum (Provinz) Posen und 1849 in Baden und Sizilien und dem Januaraufstand 1863 in Polen aktiv mitwirken. Friedrich Engels
schrieb 1852 an seinen Freund Karl Marx: »Dieser Mieroslawski ist doch der bedeutendste aller Polacken und wird noch eine Karriere machen.«5)
     Mieroslawski wurde durch seine Rede, die er mit viel Pathos hielt, sehr populär. Die Zeitung »Der Leuchtturm« verglich ihn mit Mirabeau. Bismarck fand, daß er gut ausgesehen habe. Überliefert ist auch, daß Berlins vornehme Damenwelt ihn enthusiastisch verehrte.
     Im Gegensatz zu einigen Angeklagten, die beharrlich schwiegen, hatte Mieroslawski den Aufstandsplan offengelegt und sich zu seiner Verantwortung bekannt. Er warb um Verständnis für den Kampf eines unterdrückten und von fremden Staaten okkupierten Volkes.
     Bettina von Arnim (1785–1859), die den Prozeß aufmerksam verfolgt hatte, schrieb einen Brief an Friedrich Wilhelm IV. Darin klagte sie die Methoden der preußischen Polizei an, die gegen Mieroslawskis Schwester angewendet wurden. Diese hatte vergeblich versucht, ihren inhaftierten Bruder zu besuchen. Obwohl der König die Sym- pathie der Schriftstellerin zu den angeklagten Polen nicht teilte, wollte er einen Besuch gestatten. Doch in der Zwischenzeit hatten preußische Polizeibeamte Mieroslawskis Schwester bereits des Landes verwiesen.6)
     Nach dem Prozeß wurden alle Verurteil- ten in das Gefängnis von Moabit gebracht. Ludwik Mieroslawski, vom Tode bedroht,
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schrieb in seiner Zelle, daß der Kampf der Polen um Unabhängigkeit nur möglich mit der Entwicklung des Fortschritts in Deutschland sei; in einem konservativen Preußen würden die Polen nie einen Verbündeten finden.
     Die revolutionären Ereignisse im März 1848 waren ein Beweis dafür. Am 18. März 1848, an dem Tag, als die revolutionäre Welle Berlin erreichte, saß in der Taubenstraße 6 eine Gruppe deutscher und polnischer Studenten und Beamter beieinander. Sie beriet über eine Petition an Friedrich Wilhelm IV., die den verurteilten Polen Amnestie bringen sollte. Die Beratung wurde von Arbeitern aus der Borsigfabrik unterbrochen. Sie schlugen vor, die Polen mit Waffengewalt zu befreien. Doch man entschied sich zunächst für die Petition. Eine Gruppe polnischer Delegierter überreichte sie dem König am 19. März. Die Nachricht von der Übergabe der Petition verbreitete sich blitzartig in ganz Berlin. Schon am Morgen des 20. März versammelten sich Menschenmassen vor dem Schloß. Es wurden Stimmen laut, bei Ablehnung das Gefängnis zu stürmen. Unter diesem Druck gab Friedrich Wilhelm IV. schließlich nach. Ein Augenzeuge berichtete, daß alles, was Beine hatte, zum Moabiter Gefängnis eilte, um die befreiten Polen zu begrüßen. Im Triumphzug wurden sie durch die Straßen geführt, allen voran Ludwik Mieroslawski und Karol Libelt. Überall hörte man die Rufe »Es lebe Polen«, »Es
lebe die Freiheit«, »Es lebe Deutschland«.
     Als sich die Demonstranten dem Schloß näherten, stand Friedrich Wilhelm IV. auf dem Balkon und verneigte sich vor ihnen. Einige Male mußten Mieroslawski und Libelt Ansprachen halten, so vom Balkon der Universität. Mieroslawski redete in französischer Sprache und rief das deutsche Volk auf, die Unabhängigkeitsbestrebungen der Polen zu unterstützen und gemeinsam den Kampf gegen das zaristische Rußland aufzunehmen.
     Der Kampf um die Unabhängigkeit Polens und die Schaffung eines einheitlichen demokratischen deutschen Nationalstaates ließen die Demokraten beider Länder in den Märztagen des Jahres 1848 zu Verbündeten werden.

Quellen:
1 Wilhelm Liebknecht, Erinnerungen eines Soldaten der Revolution, Berlin 1976, S.39 f.
2 »Deutsche Vaterlandsblätter«, August 1847
3 Marian Zychowski, n. Proces Moabicki i jego glówny oskarzony – Ludwik Mieroslawski. In: Studia z najnowszych dziejów powszechnych, Bd. 2, Warschau 1962, S. 183
4 »Deutsche Zeitung«, Nr. 40, 9. 8. 1847, Heidelberg
5 Celina Bobinska, Marx und Engels über polnische Probleme, Berlin 1958, S. 158
6 Bettina von Arnim, Die Sehnsucht hat allemal Recht, Berlin 1984, S. 270 ff.

Bildquelle: Illustrierte Zeitung, 1847

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