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hung des Berliner Kalandshofes nicht belegt ist, dürfte die ursprüngliche Anlage des später aus mehreren Gebäuden bestehenden Hofes vermutlich ins 13. Jahrhundert zurückgehen. In den Rekonstruktionen des mittelalterlichen Grundrisses von Berlin und Cölln um 1400 auf der Grundlage der ältesten bekannten Stadtpläne von Memhardt (um 1650) und Lindholz (um 1660) sowie bei Ausgrabungen im Schloßbereich erscheint das Areal des Kalandshofes am nördlichen Stadtrand zwischen der alten Stadtmauer und der Marienkirche, etwa 250 bis 300 Meter nordwestlich vom »Oderbergischen Dohr« (Oderberger Tor, später in Georgen- und 1701 in Königstor umbenannt) bzw. nordöstlich vom »Nye (Neuen) Markt«.1)
     Unmittelbar neben dem Kalandshof lag der Hof des Bischofs von Brandenburg, dessen Gerichtsbarkeit die Geistlichkeit Berlins unterworfen war; jenseits des Schnittpunktes Oderberger Straße/ Brüder- straße (Klosterstraße) befand sich das Gelände des markgräflichen Stadtwohn- hauses, des sogenannten Hohen Hauses, das in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts begonnen, 1316 vollendet und auf einem Areal errichtet worden war, das schon 1261 als »Aula Berlin« und später »Olden (Alten) Hof« urkundlich erwähnt und als Wohnsitz brandenburgischer Markgrafen in Anspruch genommen wurde. An das Terrain des »Olden Hofes« wiederum grenzte das ehemalige Franziskanerkloster.
In den »sehr freien Rekonstruk-
Herbert Schwenk
Elendengilden und Kalandsbrüder

Ein Kapitel sozialer Fürsorge im mittelalterlichen Berlin
 

Zur Topographie des mittelalterlichen Berlins gehörte eine soziale Einrichtung besonderer Art: der Hof der Kalandsbrüder in der Klosterstraße, die zuvor – wie die gleichnamige Straße in Cölln – Brüderstraße hieß. Der Name der Kalandsbrüder geht auf das lateinische Wort Calendae zurück: Mit Calend oder Caland wurden ursprünglich Versammlungen bezeichnet, die den Calenda, den ersten Tag jedes Monats, religiösfestlich und gesellig begingen. Daraus entwickelten sich die Kalandsbrüderschaften (oft kurz Kalande genannt), die aus geistlichen und aus weltlichen Personen aller Stände und beiderlei Geschlechts bestanden. Ihr Zweck bestand ursprünglich in der Stiftung und Abhaltung von Seelenmessen für verstorbene Mitglieder, deren Verwandte und Freunde. Zunehmend widmeten sich diese Vereinigungen auch der Armenunterstützung, Krankenpflege und nicht zuletzt der Bewahrung und Vermehrung des Kirchenvermögens.
     Obwohl der genaue Zeitpunkt der Entste

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tionen« des mittelalterlichen Stadtbildes der beiden Spreestädte von Karl Friedrich Klöden (1786–1856) vom Jahre 1839 und Johann Marius Friedrich Schmidt (1776–1849) aus dem Jahr 1835, die den Stadtgrundriß von 1270 bzw. 1415 darzustellen versuchten, ist das Areal des Kalandshofes nicht ausdrücklich benannt, jedoch kartiert.2)
Die Entstehung des Kalandshofes steht im engen Zusammenhang mit der Ausbreitung von Elendengilden und Kalandsbruderschaften in der Mark Brandenburg. Bei beiden handelt es sich um eng miteinander verbundene geistliche Körperschaften, die sich auf spezifische religiöse Weise sozialen Anliegen verpflichtet fühlten. Der älteste Hinweis auf ihre Existenz im Berliner Stadtgebiet findet sich in einer Urkunde vom 24. Dezember 1317. Darin bestätigt Markgraf Waldemar (oder Woldemar, 1305–1319, geb. um 1280) die Stiftung eines »Altars Exulum« in der Kirche St. Petri zu Cölln zum Zwecke von Seelenmessen: Priester, die den Altar bedienen, mögen bei jeder Messe »Aller derer besonders andächtig gedenken, die in gedachter Stadt in Armuth und Elend sterben, zu deren heilsamen Gedächtniß besonders der genannte Altar gestiftet ist«.3) Einige Jahre später (1323) wurde dieser »Elenden«-Altar auch von Herzog Rudolf I. von Sachsen-Wittenberg (1298–1356) bedacht, nachdem Waldemar am 14. August 1319 verstorben und die Regentschaft in der
Mark vorübergehend an Waldemars Witwe, Markgräfin Agnes (1296–1333) unter Vormundschaft Herzog Rudolfs übergegangen war. Der gestiftete Altar wurde von mehreren Bürgern mit Land beschenkt. Aus der Stiftung entwickelte sich eine religiöse Elendengilde.
     Im mittelalterlichen Sprachgebrauch wurden mit Exules anfangs Menschen bezeichnet, die als Elende in der Ferne lebten, wobei das Wort Elend damals »lediglich die Verbannung« im Sinne von Heimatferne bedeutete.4) Das bezog sich vor allem auf die umherwandernden und nicht selten kranken Priester, »die von allen Mitteln entblößt, obdach- und hülflos innerhalb der Städte Berlin und Cölln auf den Kirchhöfen sich aufgehalten haben und wegen mangels des Nothdürftigsten vor Hunger, Durst und Kälte fast haben umkommen und zuletzt ohne alles Ceremoniel haben bestattet werden müssen«.5) Nach Adolf Streckfuß hatten in jener Zeit (bei ca. 6 000 Einwohnern der Doppelstadt) etwa 200 Geistliche und Mönche ihren ständigen Wohnsitz in den Schwesterstädten6); Zahlen zu den Exules fehlen. Dieser nahmen sich auch in Berlin und Cölln einige Priester aus christlicher Nächstenliebe an, kümmerten sich um deren leibliche Versorgung, im Todesfalle aber auch um ein christliches Begräbnis. Aus diesen Ursprüngen entstand die Brüderschaft der Elendsgülden oder Elendengilden mit entsprechenden Gildeeinrich
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tungen. Vermutlich hatte jene Elendengilde, welcher der gestiftete Altar in der Petrikirche zu Cölln gehörte, ihren Sitz in Berlin, was im Bestätigungsbrief des Bischofs Ludwig von Brandenburg vom Jahre 1344 seinen Niederschlag fand.7) Daneben besaß auch Berlin seine gesonderte Elendengilde, in deren Auftrag – laut Urkunde von 1350 – dem Priester Friedrich Ruleke die Verwaltung des Altars der heiligen Barbara in der Marienkirche samt damit verbundener Enkünfte übertragen worden war.8)
Neben den Elendengilden bestand im mittelalterlichen Berlin und Cölln auch die andere Form geistlicher Körperschaften: die Kalandsgesellschaften. Die Sorge um die Toten hatten die Kalandsgesellschaften mit den Elendengilden zwar gemein, sie war jedoch bei den ersteren erklärtes vorrangiges Anliegen. Kalandsbrüderschaften entstanden im frühen 13. Jahrhundert zuerst im alten Bistum Halberstadt und verbreiteten sich rasch im nördlichen und nordöstlichen Deutschland. Eine Karte »Spitäler, Elendengilden und Kalandsbruderschaften bis 1520«, bearbeitet von Gerd Heinrich (1969), zeigt deren Verbreitung in der Mark Brandenburg und angrenzenden Territorien. Dabei fällt neben der Abnahme von West nach Ost zugleich ein Zusammenhang mit der Stadtgröße und Siedlungsdichte und mit dem »Kulturgefälle zwischen dem Altsiedelland und den von der Ostbewegung erfaßten Gebieten« auf.9) Leopold von Lede
bur nennt in seiner Untersuchung insgesamt 184 Kalande in Orten deutscher Diözesen; davon 45 in der Mark Brandenburg, je 23 allein in den Diözesen Halberstadt und Brandenburg.10)
Die Kalandsbrüderschaften entwickelten sich im Laufe der Zeit zu mehr oder weniger bedeutenden wohltätigen Anstalten und nahmen schließlich einen wichtigen Platz im mittelalterlichen Fürsorge- und Spitalwesen ein. Bis zum Jahre 1375 bestanden sowohl die Elendengilden als auch die Kalandsgesellschaften in Berlin und in Cölln getrennt. Das große Landbuch Kaiser Karls IV. (1346–1378, geb. 1316) von 1375, das ein Verzeichnis all dessen enthielt, was in den einzelnen Dörfern, Schlössern oder Städten an den Markgrafen zu zahlen war, machte noch einen Unterschied zwischen dem Kaland zu Cölln und dem zu Berlin bezüglich ihrer getrennten Einkünfte: Der Berliner Kaland hatte z. B. »Hebungen« aus Schöneberg und Wartenberg, der Cöllner hingegen Einkünfte aus der Rudower Mühle.11) Allmählich wuchsen jedoch beide Kalande zu einer großen »Fraternitas Calendarum seu Exulum in oppidis Berlin et Cölln« zusammen, der ein Dechant (Dekan), ein Kämmerer und mehrere Provisoren (Verwalter) vorstanden. Die Kalandsbrüderschaft, die den Charakter eines Ordens annahm, umgab sich mit der Aura des Geheimnisvollen, um den Wunsch, in die Brüderschaft aufgenommen zu werden, noch
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   7   Probleme/Projekte/Prozesse Soziale Fürsorge im Mittelalter  Vorige SeiteNächste Seite
mehr anzureizen; durch Eid wurden die Brüder verpflichtet, die Geheimnisse des Ordens zu wahren.12) Der Berlin-Cöllner Kaland soll nicht nur eine Badestube in Cölln als Seelenbad und eine Zeitlang sogar den Rummelsburger See besessen haben, sondern vor allem auch ein Vereinshaus in Berlin, das zum Kalandshof in der Brüderstraße (später Klosterstraße) ausgebaut wurde. Die Einnahmen waren beträchtlich, sowohl aus dem Patronat über Altäre in der Petri-, Marien- und Nikolaikirche mit den dort dargebrachten Opfern als auch den Eintrittsgeldern und Jahresbeiträgen der Mitglieder, die »die besten Bürger Berlins (waren), welche mit ehrwürdigen Geistlichen und frommen Frauen sich in dieser Gesellschaft zusammenfanden«.13) War das gemeinsame Mahl anläßlich der monatlichen Zusammenkünfte anfangs recht bescheiden, nahmen später, als einige Kalande zu größerem Reichtum gelangt waren, die Gastmähler opulentere Formen an, worauf Ausdrücke wie Kalandern oder »Er trinkt wie ein Kalandsbruder!« hindeuten: »... da floß dann der edelste Wein in Strömen, da sollen selbst in dem düsteren Kalandshofe Freudenfeste gefeiert worden sein, welche dem Keuschheitsgelübde der vielen geistlichen Mitglieder keineswegs entsprachen«.14) Ein Erlaß des Papstes Eugen IV. (1431–1447) vom 5. Februar 1446 zeigt jedenfalls, daß die römische Kirche um Disziplinierung der Kalandsbrüderschaften bemüht war: Kurfürst Friedrich II. (1413–1471, Kurfürst von 1440–1470) wurde darin ermächtigt, die Kalande aufzuheben, falls durch sie »Zwistigkeiten und Ärgernisse« entstünden.15) Im Urkundenbuch zur Berlinischen Chronik finden sich immer wieder Beispiele von Zuwendungen an die Berliner Kalandsbrüder. »Der Kurfürst Joachim erlaubt Hans v. Krummensee, den Kalandsbrüdern eine jährliche Rente von 6 Gulden auf den Krug von Schönfließ zu verschreiben«, heißt es am 9. April 151816) und ein Jahr später (5. April 1519): »Auf Bitten der Kalandsbrüder und mit Genehmigung des Besitzers des Altars Erasmi überträgt der Bischof dem Kalandsorden zu Berlin die Einkünfte des gedachten Altars.«17)
      Aber schon zwei Jahrzehnte später sollte die Reformation in der Mark Brandenburg den mittelalterlichen Bruderschaften ein Ende bereiten, was dem damaligen Fürsorge- und Spitalwesen erheblichen Schaden verursachte: Es geriet »zeitweise in eine bedrohliche Krise, weil die Zahl der verfügbaren Plätze zu stark verringert worden war«.18)
      Und was wurde aus dem Berliner Kalandshof? Annähernd drei Jahrhunderte hatte er die Topographie Alt-Berlins mitgeprägt. 1548 übergab ihn Kurfürst Joachim II. Hektor (1535–1571, geb. 1505) im Zuge der Neuordnung des Kirchenwesens in der Kurmark nach der Reformation (1539) »dem Rathe der Stadt zum Besten«. 19) Der alte Kalands
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hof wurde umfunktioniert: Hier nahm der Kriminalrichter der Stadtgerichte sein Domizil, das Hinterhaus diente noch von 1698 bis 1797 – vor der Stadtvogtei am Molkenmarkt – als Stadtgefängnis. Heute erinnert nichts mehr an diesen Ort, an dem einst ein bedeutendes Kapitel sozialer Fürsorge im mittelalterlichen Berlin geschrieben wurde.

Quellen und Anmerkungen:
1 Vgl. Winfried Schich: Das mittelalterliche Berlin (1237–1411). In: Wolfgang Ribbe (Hrsg.): Geschichte Berlins, erster Band, München 1987, S. 165
2 Vgl. Wolfgang Schneider/Wolfgang Gottschalk: Berlin. Eine Kulturgeschichte in Bildern und Dokumenten, Leipzig und Weimar 1980, S. 32 u. 58
3 Urkunden-Buch zur Berlinischen Chronik, hrsg. vom Verein für die Geschichte Berlins durch Ferdinand Voigt, Berlin 1869, Dok. XLV, S. 30
4 Vgl. Oskar Schwebel: Geschichte der Stadt Berlin, Berlin 1888, S. 362
5 Leopold von Ledebur: Die Kalands-Verbrüderungen in den Landen Sächsischen Volks-Stammes mit besonderer Rücksicht auf die Mark Brandenburg. In: Märkische Forschungen, hrsg. vom Verein für die Geschichte der Mark Brandenburg, 4. Band, Berlin 1850, S. 50
6 Adolf Streckfuß: 500 Jahre Berliner Geschichte. Vom Fischerdorf zur Weltstadt, vierte Auflage, erster Band, Berlin 1886, S. 11
7 Vgl. ebenda

8 Vgl. Leopold von Ledebur, a. a. O., S. 50
9 Vgl. Gerd Heinrich: Spitäler, Elendengilden und Kalandsbruderschaften um 1520. In: Historischer Handatlas von Brandenburg und Berlin, Lieferg. 27, Berlin 1963, S. 1
10 Vgl. Leopold von Ledebur, a. a. O., S. 76
11 Vgl. ebenda, S. 51
12 Adolf Streckfuß, a. a. O., S. 12
13 Nach O. Schwebel: Geschichte der Stadt Berlin, S. 367
14 Adolf Streckfuß, a. a. O., S. 12
15 Oskar Schwebel, a. a. O., S. 367
16 Urkunden-Buch zur Berlinischen Chronik, S. 470
17 Ebenda, S. 471
18 Gerd Heinrich, a. a. O., S. 6
19 Leopold von Ledebur, a. a. O., S. 51
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