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keit – sicher alles etwas kleiner ausfallen.
     Vor 235 Jahren, am 2. November 1763, nahm im Hause des Rittergutsbesitzers und Niederbarnimer Landrats Nüßler eine türkische Gesandtschaft Quartier. Der Gesandte des Großmoguls, Ahmed Efendi, hatte den Auftrag, Friedrich II. zum erfolgreichen Ende des Siebenjährigen Krieges zu gratulieren und den Abschluß eines Freundschaftsvertrages vorzubereiten. Die Türken blieben mehrere Monate in Berlin, ihre Anwesenheit beeindruckte die Berliner sehr, und eine richtige »Türken-Manie« war die Folge.
     Vor 210 Jahren, am 27. September 1788, führte der Franzose François Blanchard seinen berühmt gewordenen Ballonaufstieg in der Nähe des heutigen Brandenburger Tores durch. Er landete nach gut verlaufener Fahrt auf den Feldern zwischen Karow und Buch. Heute erinnern die Namen mehrerer Straßen im neuerrichteten Wohngebiet Karow-Nord hieran.
     Vor 125 Jahren, am 1. November 1873, nahm die Pferdeomnibuslinie Alexanderplatz – Weißensee ihren Betrieb auf. Sie sollte der besseren Erschließung des im Aufbau begriffenen Vorortes dienen, mußte aber bald wegen der schlechten Straßenverhältnisse wieder eingestellt werden.
     Erst 1877 wurde sie durch die erste Pferdebahnlinie im Norden der Reichshauptstadt ersetzt.
     Vor 120 Jahren, am 24. Juni 1878, gründe-
Joachim Bennewitz
Weißenseer Jubiläen 1998

Rück-Blicke sind immer wieder lohnenswert, verdeutlichen sie doch, wie viele – auch heute noch – als wichtig einzuordnende Termine fast schon vergessen waren. Weißensee, einer der kleinen Berliner Bezirke, ist da keine Ausnahme. Im Gegenteil, eine jetzt vorliegende Übersicht des Vereins Weißenseer Heimatfreunde e. V. weist eine Fülle von Daten auf, derer im Jahre 1998 mit mehr oder weniger Ernst zu »gedenken« wäre. Sie offenbart zugleich, daß Weißensee und seine Ortsteile zwar immer an der Peripherie Berlins lagen, niemals jedoch völlig außerhalb der Reichweite von Ereignissen, die für die Haupt- und Residenzstadt von Bedeutung waren.
     Einige Auszüge aus der o. g. Liste sollen das verdeutlichen:
     Vor 685 Jahren, am 11. April 1313, wurde in einer Schenkungsurkunde der Ort Weißensee – nach heutigem Wissen erstmalig – erwähnt. Damit ist er eindeutig jünger als Berlin; was jedoch die Stadt nicht daran hinderte, den Ortsteil in die Feierlichkeiten zu den Gründungsjubiläen 1937 und 1987 einzubeziehen. In diesem Jahr wird – wegen der gebotenen Sparsam-

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te der Berliner Gefängnispfarrer Ernst Berendt die Stiftung »Bethabara«, eine Einrichtung für strafentlassene Mädchen und Frauen, die 1889 um die Stiftung »Beth Elim« für schwangere Mädchen erweitert wurde. Die Einrichtung mußte 1941 auf staatliche Weisung anstelle des alttestamentarischen Namens den eines antisemitischen Geistlichen annehmen. Heute ist sie, nachdem in den Jahren zuvor grundlegende Änderungen der Schwerpunkte der Anstalt erfolgten, weit über die Grenzen Berlins hinaus als Stephanus-Stiftung bekannt.
     Acht Tage zuvor fand in Weißensee das erste Berliner Trabrennen statt. Die neue Bahn zog in den Folgejahren Woche für Woche Tausende an; besonders beliebt waren neben den normalen Läufen die Droschkenrennen. 1912 wurde der Betrieb eingestellt, neue Bahnen waren entstanden und hatten der Weißenseer den Rang abgelaufen. Nach dem Zweiten Weltkrieg entstand an gleicher Stelle auf Trümmern die Radrennbahn, die aber inzwischen – auch durch die gescheiterte Olympiabewerbung der Stadt – verwaist ist.
     Vor 110 Jahren, am 13. Februar 1888, gründeten die Alexianer-Brüder aus Neuss am Rhein in Weißensee ihre Berliner Niederlassung. Es entstand daraus 1892 das St. Joseph-Krankenhaus. Diese in der Stadt seit Jahrzehnten anerkannte psychiatrische Einrichtung beging 1992 ihr 100jähriges Bestehen.
Vor 90 Jahren waren es gleich drei Ereignisse, an die heute erinnert werden sollte: Die kleine Landgemeinde, die alles tat, um Stadt werden zu können, erwarb zur Komplettierung des im Bau befindlichen eigenen Entwässerungssystems (die Stadt Berlin hatte einen Anschluß abgelehnt, obgleich ihre Rohre durch den Ort verliefen) das Gut Birkholz als Rieselgut. Sie behielt es bis zur Eingemeindung und nutzte es über alle Jahre auch als Ferieneinrichtung für die Kinder des Ortes.
     Ebenfalls als Beitrag zur Stadtwerdung eröffnete Weißensee am 26. September die als Kernstück des »Munizipalviertels« gedachte Stadthalle in der Pistoriusstraße.
     Das Mehrzweckgebäude wurde noch im Februar 1945 durch Bomben zerstört und später abgetragen. Erhalten blieb das Restaurant, heute Sitz des Vereins »Frei-Zeit-Haus« e. V. Im Mai dieses Jahres wird es nach umfassender Modernisierung wieder vollständig seiner Nutzung übergeben werden.
     Am 1. November nahm die Industriebahn Tegel–Friedrichsfelde ihren Betrieb auf. Daran wird an diesem Tage kaum jemand denken, hat sie doch in den letzten Jahren endgültig ihre vormalige Bedeutung verloren und in Weißensee nur noch einen Anlieger. Das Ziel, sie einmal zweigleisig auszubauen oder gar für den Personenverkehr zu nutzen, wurde nicht weiterverfolgt, zudem sie durch die Stadtteilung und
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durch Neubaugebiete schon lange nur noch in Fragmenten erhalten blieb.
     Vor 85 Jahren, am 1. Mai 1913, öffnete in einem ursprünglich als Konzerthalle errichteten Gebäude am Weißen See das »Milchhäuschen«, in dem die Gäste Milch aus dem gemeindeeigenen Kuhstall im Säuglingskrankenhaus kaufen konnten. Auch nachdem Bier und Wein die Milch ablösten, erfreute es sich großer Beliebtheit. Heute ist die Gaststätte, die die Spaziergänger am See nach ihrer Schließung 1990 sehr vermißten, wieder ein beliebtes Ausflugsziel mit Blick auf die Fontäne im See.
     Am 1. Oktober des gleichen Jahres öffnete das erste von später mehreren Filmateliers im Ort. Durch sie wurde Weißensee für fast 20 Jahre zu einer »Filmstadt« und einem Zentrum des deutschen Stummfilms. Hier entstanden bekannte und beliebte Streifen, »Monumentalfilme«, Krimiserien und Schmachtfetzen, aber auch »Das Cabinet des Dr. Caligari«. Die junge Marlene Dietrich stand hier zehn Jahre später zum ersten- mal vor der Kamera. Nur noch eines der Ateliers, längst anderen Zwecken dienend, zeugt von einstiger Betriebsamkeit. Und auch eine Gedenktafel an der Berliner Allee erinnert an jene Zeit.
     Landschaftliche Schönheiten um den Weißen See herum sind die Parkflächen an der Albertinenstraße und am Goldfischteich. Beide wurden ebenfalls 1913 ihrer Bestimmung übergeben und entstanden nach Ent-
würfen des auch für die Stadthalle verantwortlichen Gemeindebaurates Carl James Bühring.
     Vor 65 Jahren, am 16. November 1933, wurde als eines der ersten innerstädtischen Naturschutzgebiete das Gelände um den Faulen See (damals zu Hohenschönhausen gehörig) eingerichtet.
     Im gleichen Jahr entließen die National-sozialisten 126 Mitarbeiter des Bezirksamtes aus politischen oder rassischen Gründen.
     Vor 50 Jahren, am 25. Januar 1948, bildete sich eine Weißenseer Ortsgruppe der VVN als Vertretung der Opfer des Naziterrors.
     Am 30. November kam es zu einschneidenden Veränderungen in der Stadt, die auch den Bezirk betrafen. Die Spaltung Berlins schritt weiter fort; nach der Bildung des Ostberliner Magistrats trat der Weißenseer Bezirksbürgermeister, der seit den Wahlen von 1946 im Amt war, zurück und verließ Weißensee. Drei Wochen später, am 20. Dezember, wurde ein neues Bezirksamt, diesmal ohne die bei den Wahlen von 1946 mit hohem Stimmenanteil führende SPD, gebildet.
     Vor 45 Jahren, am 18. April 1953, gründete sich im damals zum Bezirk gehörenden Ortsteil Wartenberg die zweite (Ost-)Berliner LPG (Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft) mit dem Namen »1. Mai«.
     Am 17. Juni waren Beschäftigte der volkseigenen Betriebe Stern-Radio und 7. Oktober (Niles) an den Arbeitsniederlegungen beteiligt, sie führten den Weißenseer
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Demonstrationszug auf dem Weg ins Stadtzentrum an.
     Im Oktober verließ das Ehepaar Brecht-Weigel seine seit 1949 genutzte Weißenseer Wohnung und zog in die Räume in der Chausseestraße (heute Brecht-Haus).
     Am 11. Oktober 1953 wurde auf dem Jüdischen Friedhof in der Herbert-Baum-Straße das Denkmal zur Erinnerung an die Toten der Shoa eingeweiht.
     Vor 40 Jahren begannen die umfangreichen Restaurierungsarbeiten in der Karower Kirche (damals Bezirk Pankow), am Weißen See nahm im Mai eine Parkbücherei ihre Tätigkeit auf, und am 25. Januar war bereits die Dynamo-(Sport-)Halle am Weißenseer Weg eröffnet worden.
     Vor 35 Jahren, am 1. Juli 1963, nahm der neue Omnibushof in der Lichtenberger Straße, heute Indira-Gandhi-Straße, seinen Betrieb in vollem Umfange auf. Zur Leipziger Frühjahrsmesse stellte der VEB Sternradio das erste kleine Transistorradio »Mikki« vor. Das erste »Weißenseer Blumenfest« nach dem Krieg fand am 23. August statt, es entwickelte sich inzwischen zu einer traditionellen Veranstaltung des Stadtbezirks.
     Vor 20 Jahren, am 23. Januar 1978, statteten die BVB nach längerer Probephase die Straßenbahn der Linie 75 (Pasedagplatz –
Stadion der Weltjugend) als erste der Stadt vollständig mit Tatra-Zügen aus.
     Vor 10 Jahren, am 23. November 1988,
starb der viele Jahre in Weißensee wohnhafte Verleger und Lyriker sowie Ehrenbürger von Berlin Wieland Herzfelde.
     Vor 5 Jahren, im November 1993, wurde der Ortsteil Karow mit dem ersten Spatenstich zwischen den Straßen 42 und 53 zum zeitweilig größten Neubaugebiet der Bundesrepublik. Inzwischen ist ein großes Wohnviertel zu wesentlichen Teilen fertiggestellt, weitere sind im Entstehen.
     Der Verein Weißenseer Heimatfreunde e. V. beabsichtigt, seine Datensammlung fortzuführen. Sie wird sicherlich dazu beitragen, die Arbeit an einer neuen Chronik des Bezirks zu beschleunigen, und sie bietet zugleich Voraussetzungen für einen angemessenen Umgang mit Daten der Vergangenheit.
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© Edition Luisenstadt, 1998
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