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Billy Wilder
Der Prinz von Wales geht auf Urlaub

Berliner Reportagen, Feuilletons und Kritiken der zwanziger Jahre

Fannei & Walz Verlag, Berlin 1996

Die seit einigen Jahren laufende Versuchsreihe, Berlin zu einer Weltstadt zu entwickeln, bisher mit untauglichen politischen Mitteln betrieben, legt den Gebrauch verschiedener Reagenzien und Prüfmethoden nahe. Hierzu gehören – zum Beispiel – analytische Vergleiche mit tatsächlichen Metropolen wie Paris, London, New York, um nur drei zu nennen, sowie mit dem Berlin der zwanziger Jahre. Für sowohl nostalgische als auch vorwärtsführende Rückbesinnung auf diese Zeit gibt es unerschöpflichen Stoff. Der vorliegende Band mit Reportagen, Feuilletons und Kritiken Billy Wilders, in Berliner Tageszeitungen gedruckt oder von der BBC gesendet, bereichert das Anschauungsmaterial auf originelle und originäre Weise. Originär ist die von Wilder autorisierte Sammlung, weil seine Tagespublizistik aus den Jahren 1927 bis 1930 so bisher nicht ans Licht gebracht und zusammengestellt wurde. (1933, unmittelbar nach dem Reichstagsbrand, ist Samuel »Billy« Wilder über Paris in die USA emigriert; zu der Zeit hatte er bereits als Drehbuchautor einen Namen.) Originell ist die Sammlung, weil hier eine weitgehend unbekannte kreative Vergangenheit des weltbekannten Autors und Regisseurs aufgeblättert wird. Aus beiden Gründen, vor allem wegen des faszinierenden Inhalts, des glänzenden Stils, des menschlichen Einblicks in eine stadtgeschichtliche Epoche erweist sich dieser großformatige Band (160 Seiten) mit dem gelungenen Cover

als literarisches Schnäppchen. Es beginnt mit dem köstlichen Bericht aus dem Leben eines Eintänzers, vier Folgen in B.Z. am Mittag ab 19. Januar 1929, und endet mit eher lapidaren, wie schnell hingeschrieben wirkenden Filmkritiken, von Juni 1927 bis November 1930 in B.Z. und B.Z. am Mittag ver-öffentlicht.
     Die autobiographische Eintänzerei des aus Galizien via Wien 1924 nach Berlin gekommenen mittellosen jungen Mannes, Jahrgang 1906, ist das unübertroffene Prachtstück der Sammlung. Es kann sich messen mit Tucholskys Beobachtungen des Berliner Lebens, hat zwar eine weit weniger scharfe Diktion, aber ebensoviel Kolorit und Ironie. Den meisten von Wilders Artikeln merkt man an, daß sie nicht für eine literarisch und politisch ambitionierte Zeitschrift wie etwa die Weltbühne geschrieben wurden, sondern für Ullsteins Boulevardzeitungen, deren Chefs keinen oppositionellen Journalismus goutierten. Wilders tägliche Kunst aber ging zuerst nach Brot.
     So manches liest sich aktuell, erinnert beispielsweise an jene ebenso kostspielige wie blamable Bewerbung für Olympische Spiele: Eine Bauausstellung sollte stattfinden, berichtet Wilder, und, »wie alles in Berlin, das größte internationale Unternehmen werden, das es in ihrer Art gibt.
     Von Geld war dabei überhaupt nie die Rede ...
     Und nun stellt es sich mit einem Male heraus: Wer wird die Sache bezahlen? Keiner will es gewesen sein, und keiner will es tun ...« Wilder fragt »Was wird aus dem Potsdamer Platz?« und merkt an, »daß diese Sache schon weit über ihre Vorbesprechungen und Pläne hinaus beschlossen ist, ohne daß wir Berliner etwas davon wissen ...« Wilder berichtet nach einem Schneefall über »vollkommenes Versagen der Straßenreinigung« und erinnert an eine sicherlich nicht selbst erlebte Zeit, da Berlin »die sauberste Stadt der Welt war«, wenn es denn wahr war.
     Bissig die Geschichte über den Prinzen von Wales,
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der auf Urlaub geht, »der Welt berühmtester junger Mann« (nicht ersichtlich, warum sie zum Titel gemacht wurde und nicht der exquisite Eintänzer-Bericht). Hier begegnen wir gewissermaßen dem Vorfahren einer weltberühmten Prinzessin. Wie bissig hätte Wilder wohl über Diana geschrieben (de mortuis nihil nisi bene)? Anrührend der kurze Beitrag »Vor einem Jahr starb Klabund«. Zu ihm trug Wilder seine Erinnerungen eines Eintänzers, an denen er drei Nächte geschrieben hatte. Sehr armselig erschienen ihm diese Memoiren. »Aber Klabund hatte Freude an ihnen, er saß eine Stunde da und korrigierte. Was hätte der daraus gemacht, fiel mir ein.« Und man erkennt an diesen Zeilen – wie an vielen anderen Stellen des Buches – den künftigen Drehbuchautor und Filmregisseur, genau beobachtend, mit knappen Worten schildernd, die Emotion in zwei, drei Sätzen komprimierend: »Als wir da saßen, an diesem grauen Wintermorgen, sah er noch schmaler, noch blasser aus. Er hielt sich das Taschentuch vor den eingefallenen Mund und hustete. >Es ist nichts<, sagte er, und es war wirklich nichts. Nur ein winziges, rotes Pünktchen. Daran ist er gestorben.«
     Ein sachkundiges Nachwort des Herausgebers, Quellennachweis und biographische Notiz schließen das Buch ab. Unter den eingestreuten kleinen Illustrationen aus Zeitungen einer scheinbar längst vergangenen Zeit diese Annonce: »Hotel Adlon, Unter den Linden 1, am Pariser Platz.
     Modernster Komfort. Von keinem Hotel der Welt erreicht. Preise mässig.« Jawohl, ohne ß! »Arrangements für längeren Aufenthalt vorteilhaft ...
     Lorenz Adlon, Kaiserlicher und Königlicher Hoflieferant«.
     Welch erfolgversprechende Möglichkeit, von der heutigen Werbebranche noch nicht entdeckt, schlummert in dieser Annonce: Sobald die allerhöchsten Institutionen der Bundesrepublik Deutschland vollständig nach Berlin umgezogen
sind, sollte es wieder Hoflieferanten geben. Eine Weltstadt braucht das.
     Karl-Heinz Arnold
Evelyn Roll (Hrsg.)
Ecke Friedrichstraße

Ansichten über Berlin

Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1997

Wer unter dem Titel ein neues Buch über die Friedrichstraße erwartet, hat sich getäuscht. Die wieder werdende Einkaufs- und Bummelmeile im Herzen Berlins wie auch ihre diversen Ecken kommen als solche gar nicht vor. Der Sammelband ist keiner über Straßen und Plätze, mehr einer über Situationen und Stimmungen. Es sind – da ist der Untertitel stimmiger – Ansichten über Berlin. Und zwar vorwiegend aus Münchener Sicht. Zwanzig der Autoren sind Journalisten der »Süddeutschen Zeitung«. Einige wenige stammen aus anderen Gegenden der alten Bundesrepublik, aus West- und sogar aus Ostberlin. FranzösischeEcke Friedrichstraße, so erfährt der unaufgeklärte Leser gleich im Vorwort, befindet sich seit einiger Zeit das Berliner Büro der »Süddeutschen«. Dort kamen die aus München herbeigeströmten Damen und Herren zu der löblichen Ansicht, »daß der einzig wahre Journalismus über das neue Deutschland ... wohl nur jetzt und hier, aus dieser großen, brodelnden, schmutzigen, aufgeregten, aufregenden und ungewissen Stadt denkbar« sei. (S.9) Worauf sie beschlossen, zuerst einmal wöchentlich eine Berliner Sonderseite für die »SZ« und dann dieses Buch zu machen.
     Das Buch enthält 53 Beiträge: kurze Feuilletons,

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Skizzen, Minireportagen, kleine Porträts und Berichte. Hineingestellt ist, als zusätzliche Information, ein Berlin-Brevier: lexikonartige, aber humorvolle Erläuterungen zu Berliner Begriffen. Uns Einheimischen kommt die Autorensicht manchmal sehr naiv vor. Gelegentlich stört auch der Blickwinkel aufs Nur-Exklusive. Aber immer scheint Engagement und irgendwie auch Liebe zu dieser Stadt dahinter zu stecken. Die Themen reichen von A wie – bekanntlich von Wolf Biermann so tituliert – «Arschloch« Anderson bis Z wie Zigarettenhandel. Berlins Wasserstraßen kommen ebenso vor wie die Weiße mit Schuß, Beate Uhses Erotikmuseum und die Liebe im alten Osten ebenso wie Stasi und Gauck-Behörde. Porträtiert werden u.a. der Biologe und Bürgerrechtler Jens Reich, der Dissidenten-Dichter Bert Papenfuß, die »ins Theater hineingeborene« Katharina Thalbach, der als »James Last der DDR« bezeichnete Horst Krüger, wie auch Sahra Wagenknecht, von der es heißt, sie sei »die einzig lebende prominente Kommunistin der Bundesrepublik Deutschland«. (S.174) Das Erstaunlichste oder Schockierendste im Buch ist für mich der Bericht von den 28 eingemauerten Frauen im Anbetungskloster Sankt Gabriel an der Preußenallee. Wegen ihrer sprachlichen Dichte gefallen mir besonders der Minikrimi »Die Türkin« von Jakob Augstein aus Hamburg und der »Nachruf auf Westberlin« von Mathias Greffrath. Besonders stimmig zum Ost-West-Verhältnis: »Vermüllt, verrucht, vital« von Regine Sylvester.
     Im Vorwort der Herausgeberin wird festgestellt, »daß die Fremdheit zwischen den Menschen in beiden Teilen Berlins, wie im ganzen Land, nicht sanfter geworden ist mit den Jahren seit dem Fall der Mauer, sondern im Gegenteil.« (S.11) Die Absicht, solche Fremdheit abzutragen, sei ihr und den anderen Autoren geglaubt. Aber es gibt leider auch einiges im Büchlein, was geeignet ist, das Vorurteil von den oberflächlichen oder besserwisserischen Westjournalisten zu stärken. Als kultur-
interessierten Alt-Ossi ärgert es einen schon, wenn der Beitrag über die Ostberliner Theaterlandschaft mit »Häßlich währt am längsten« überschrieben ist, B.E. mit »Böses Erwachen« übersetzt wird. Und man wundert sich, daß Evelyn Roll, die Leiterin des Berliner Büros der »SZ«, bei einer Bootsfahrt über den Landwehrkanal »an den Tiergehegen und Flamingovolieren des Tierparks« vorbeikommt und von der Spree aus das Schloß Charlottenburg zum Wohn- und Amtssitz des Bundespräsidenten macht (beides S. 36). Da möchte man der Dame doch glatt einen Berliner Stadtplan schenken, damit sie die geographischen Unterschiede von Tierpark und Zoo kennen lernt oder die Lage von Schloß Bellevue. An das Klischee vom Bonzen-Ghetto Pankow hat man sich ja schon gewöhnt. Aber man fragt sich doch, wer Herbert Riehl-Heyse wohl die Mär aufgebunden hat, daß die Goldenen Hausnummern, die im Mach-Mit-Wettbewerb für gepflegte Vorgärten und ähnliches verliehen wurden, zur Markierung der Häuser der Partei-Aktivisten dienten und daß in die Pankower Wilhelm-Pieck-Schule natürlich »nur die Kinder aus gläubigen Parteikreisen gehen durften«. (S. 76)
Horst Wagner
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© Edition Luisenstadt, 1998
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