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Durchschlagskraft, weil sich der politisch orientierte Liberalismus auf die sozial motivierte Bewegung der Unterschichten stützen konnte, die sich oft – eine schwere Hungerkrise 1846/47 war fast nahtlos im Herbst 1847 in eine Wirtschaftskrise übergegangen – in einer verzweifelten Lage befanden. Da den Obrigkeiten überzeugende Machtmittel gegen eine derart losgebrochene Massenerhebung fehlten, wichen sie zurück, bewilligten die Forderungen und bildeten die Regierungen durch die Einbeziehung prominenter Liberaler aus der bisherigen Opposition um.

10 000 am 13. März
auf den Straßen Berlins

Diese sogenannten Märzminister machten allerdings ihrerseits ohne Verzug Front gegen radikale Ausschreitungen und traten
z. B. sozial aufbegehrenden Kräften entschieden entgegen; denn die nun mit bürgerlich-liberalen Errungenschaften versehene Staatsobrigkeit sollte keinesfalls von »der Straße« unter Druck gesetzt werden. Hinter den Kulissen wurde ohnehin noch eifrig intrigiert und auf einen Erfolg der zwischen Wien und Berlin laufenden Bemühungen gesetzt, die Bewegung mit Zuckerbrot und Peitsche noch in den Griff zu bekommen. Solche Hoffnungen erlitten erst Schiffbruch, als am 13. März in Wien das System Metternich auf dem Müllhaufen der Geschichte

Kurt Wernicke
Mißverständnisse

Die Märzrevolution in Berlin

Anfang März 1848 schlug in Deutschland eine schwelende revolutionäre Krise in die akute Revolution um. Der Anstoß zur Auflösung des lange anstehenden Reformstaus kam allerdings aus dem schon weiter entwickelten Frankreich, wo ein Knoten aus
sozialen Widersprüchen platzte, die sich in Deutschland erst gerade ankündigten. Ähnliches war schon 1830 passiert, aber diesmal war die deutsche Krise so tief, daß auch die beiden deutschen Großmächte Österreich und Preußen von der revolutionären Welle ergriffen wurden; so fielen sie als Interventionsmächte aus.
     Dennoch begann die deutsche Revolution von 1848, ganz der Struktur eines Staatenbundes gemäß, zunächst mit konkreten Aktionen in süd- und mitteldeutschen Einzelstaaten. Der Ablauf der Ereignisse ähnelte sich: Volksversammlungen, Demonstrationen, von wartenden Massen unterstützte Petitionen an den jeweiligen Fürsten (sogenannte Sturmpetitionen), die Pressefreiheit, Schwurgerichte, Finanzkontrolle, Amnestie für politische Vergehen und Schritte zur deutschen Einheit einforderten. Die revolutionäre Welle erreichte eine erhebliche

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landete. Noch war allerdings Preußen ein Trumpf im Spiel der Rückwärtsgewandten – seine Armee war intakt, sein Hof von Konservativen beherrscht, sein König zutiefst von seinem Gottesgnadentum überzeugt und jeder geschriebenen Verfassung abhold. Aber schon seit der ersten Märzdekade hatten nicht nur im preußischen Rheinland, sondern auch in der Hauptstadt Berlin auf Versammlungen und in Petitionen sich Forderungen des Volkes artikuliert. Am 13. März waren in Berlin erstmals 10 000 Menschen auf den Straßen, und das spezifische Preußentum wußte nur mit der Waffe darauf zu antworten: Seit diesem Tag floß jeden Abend das Blut von Zivilisten in Berlins Straßen. Eine große Demonstration vor dem Schloß sollte die Welle der Sturmpetitionen am
18. März auch nach Berlin tragen und Zurückziehung des Militärs, seinen Ersatz durch eine Bürgergarde, Pressefreiheit und Einberufung einer neuen Session des preußischen Parlamentersatzes Vereinigter Landtag zwecks Verabschiedung einer Verfassung fordern. Die beiden letzten Forderungen waren jedoch zum Zeitpunkt der Demonstration vom König schon bewilligt, wofür er nun prompt Jubel erntete.
     Aber die freudig erregte Menge versickerte ganz allmählich, und unmittelbar vor den Wohngemächern der königlichen Familie über dem Portal Nr. 2 (gegenüber der Einmündung der Breiten Straße auf den Schloßplatz) mußte anstelle der vorher jubelnden
Berliner Spießbürger der Anblick von Angehörigen der Berliner Unterschichten konstatiert werden. Sehr wahrscheinlich hatte der Berliner Handwerkerverein seine etwa 3 000 Mitglieder zur Teilnahme mobilisiert – seine Anwesenheit ist jedenfalls belegt, ebenso die aus ihm heraus vorgetragene Artikulation, daß die ganzen schönen politischen Zugeständnisse dem armen Volk noch lange nichts hülfen ... Aus dem unguten Gefühl heraus, das man gegenüber der auch in Berlin nicht gern gesehenen Anwesenheit »der Straße« empfand (ebendiese »ließ mit Recht Arges befürchten«, wollte sich der König in der folgenden Nacht vor seinen »lieben Berlinern« rechtfertigen), wurde nun in des
Königs Umgebung jenen Scharfmachern nachgegeben, die schon seit Tagen auf das Machtmittel Militär gesetzt und den Berlinern seit dem 15. März schon vier Tote beschert hatten: Kavallerie und Infanterie erhielten den Befehl, den Schloßplatz von dort Anwesenden zu säubern. Das schuf aber sofort wieder eine Einheitsfront unter den sozial sicher aus sehr verschiedenen Umfeldern stammenden Demonstranten: »Militär zurück!« war nun der einhellige Schrei. Just da ertönten mindestens zwei, vielleicht auch mehr Schüsse. Deren Herkunft ist bis heute ungeklärt, auch wenn tatsächlich zwei Infanteristen aus Versehen Schüsse gelöst haben. Aber seit Ernst Benda 1988 die Aufzeichnungen seines gleichnamigen Urgroßvaters (1825–1905) veröffentlichte (»Der Bär
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von Berlin. Jahrbuch 1988 des Vereins für die Geschichte Berlins«, S. 23 ff.), der direkter Augenzeuge der Vorgänge auf dem Schloßplatz am 18. März 1848 war, liegt doch immerhin der Verdacht nahe, daß auch aus der Volksmenge zwei Signalschüsse abgegeben worden sein können. Das würde das merkwürdige Phänomen erklären, daß von allen Seiten des Schloßplatzes gleichzeitig davongestoben und »Verrat! Rache!« geschrien wurde – obgleich ganz offensichtlich niemand verletzt war – und an Orten, die viele hundert Meter vom Schloßplatz entfernt lagen, von einzelnen vor Empörung zitternden angeblichen Augenzeugen die Nachricht verbreitet wurde, daß sich vor dem Schloß Hunderte in ihrem Blut wälzten. Für eine Massenpsychose wären die Zufallsschüsse zweier Infanteristen eine etwas dürftige Ursache, selbst wenn man die gereizten Nerven der Berliner Zivilbevölkerung bedenkt, die seit einer Woche den militärischen Brutalitäten ausgesetzt gewesen war.

Prittwitz löste den
Militärreformer Pfuel ab

Jedenfalls genügte dieser Vorfall auf dem Schloßplatz, um die Stadt in offene Rebellion zu versetzen und etwa 200 Barrikaden emporwachsen zu lassen. Zu deren Errichtung als – zunächst schwache – Hindernisse gegen freies Passieren der Straßen bedurfte es

keiner besonderen Anstrengung, denn die über den straßensäumenden Rinnsteinen liegenden Abdeckbohlen konnten als überall sofort verfügbares Baumaterial genutzt werden. Ob man auf der Seite der Barrikadenbauer wirklich mit einem systematischen Angriff des Militärs auf die Barrikaden rechnete, ist nicht nachweisbar – politisch aufgewertet worden wären die auf Veränderung orientierten politischen Kräfte auch ohne Kampf und Sieg in den Straßen Berlins, wenn sie nur darauf verweisen konnten, daß einige noch ausstehende Punkte aus ihrem Forderungskatalog (z. B. Vereinsfreiheit, Religionsfreiheit, evtl. auch die am Vortag bei der Diskussion der Forderungen ins Spiel gebrachte »Berücksichtigung der sozialen Frage«) erst durch die Barrikaden erzwungen worden waren. Tatsächlich hätte die ganze Krise immer noch unblutig gelöst werden können, wenn der militärische Befehl zur Einnahme und Räumung der Barrikaden ausgeblieben wäre. Der zur Befehlsgebung berechtigte Gouverneur von Berlin – damals General Ernst von Pfuel (1779–1866), der noch aus der Schar der Militärreformer der preußischen Reformzeit stammte – hätte mit Bestimmtheit keinen Angriffsbefehl erteilt. Aber da ihn die Scharfmacher in der Suite des Königs, an ihrer Spitze der Thronfolger Prinz Wilhelm (1797–1888), der spätere König und Kaiser, für »zu lasch« hielten, wurde er unter dem Vorwand, er sei nicht zu erreichen, gerade am Mittag des 18. März
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übergangen und durch den Generalleutnant Karl Ludwig von Prittwitz (1790–1871) ersetzt, einen Intimus des Prinzen Wilhelm, der ihm eben erst im Kommando des Gardekorps nachgefolgt war. Er erteilte gegen drei Uhr nachmittags den Angriffsbefehl, etwa zu der Zeit, als aufgeschreckte Bürger ein schnell gefertigtes Transparent über den Schloßplatz trugen mit der Inschrift: »Ein Mißverständnis!!! Der König will das Beste!«
Abgesehen davon, daß dieser Beschwichtigungsversuch die wütenden Barrikadenbauer gar nicht erreichen konnte – ein Mißverständnis war die nun blutig einsetzende Konfrontation keineswegs: Einerseits schäumten die militärischen Chargen vor Wut über die widersetzlichen Untertanen; andererseits hatten es die Berliner unterhalb der adligen wie der Geldaristokratie satt, sich als Freiwild für hauende, stechende und schießende Soldaten betrachtet zu sehen. Deshalb gab es neben den sichtbaren Barrikaden die ganze Stadt durchziehende unsichtbare Barrikaden der Angst und des Abscheus vor Militärbrutalität. Diese letzteren waren es wohl in erster Linie, die es möglich machten, daß 14 000 Soldaten die etwa 5 000 aktiven Kämpfer an den realen Barrikaden nicht zu besiegen vermochten. Letztere – ganz wenige Studenten und Intellektuelle, in der Hauptsache Arbeiter, Kleinmeister, Handwerksgesellen – mußten, schlecht bewaffnet, wie sie waren, angesichts der häufig selbst mit Artillerieunter-
stützung vorgetragenen Angriffe Barrikade für Barrikade aufgeben. (Nur die den Alexanderplatz nach Norden abschließende, an deren Verteidigung sich gutbewaffnete Mitglieder der Berliner Schützengilde beteiligten, widerstand ungebrochen.) Aber nach 15 Stunden war die Truppe erschöpft und moralisch entnervt. Hatte sie eine Barrikade genommen, stand sie an der nächsten Kreuzung vor der nächsten, und die Befehlshaber bemerkten mit einem wachsend unguten Gefühl, daß sich auch im Rücken ihrer Einheiten wieder Zivilisten sammelten. Das war eben nur möglich, weil es bei der Mehrheit der Berliner aller sozialen Schichten eine momentane Abgrenzung vom Militär gab, die sich in einer stillschweigenden Unterstützung für die aktiven Barrikadenkämpfer niederschlug und diesen Haustüren, Bodenkammern, Kellergelasse und Durchgänge öffnete. Zudem wurde der Widerstand hinter den Barrikaden nicht schwächer, sondern sogar stärker. Die Kämpfer hatten von der mörderischen Brutalität des Militärs gegen entwaffnete und gefangene Barrikadenverteidiger erfahren (tatsächlich geht ein Großteil der Ziviltoten der Barrikadennacht auf die Abschlachtung schon geschlagener Barrikadenbesatzungen zurück!); die Barrikaden wurden mit der Zeit systematisch verstärkt und erhöht; die Bewaffnung der Verteidiger verbesserte sich durch die Inbesitznahme des Landwehr-Zeughauses in der Lindenstraße; er-
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müdete Kämpfer konnten zudem ihr Haupt zeitweilig in benachbarten Häusern betten – während die Soldaten, schlecht verpflegt, sich allenfalls unter ihrem Mantel auf das Pflaster legen konnten. Morgens gegen fünf Uhr waren die Militärs nicht in bester Verfassung und der König entnervt. Er ließ also das Feuer einstellen, befahl schließlich den Abmarsch der auswärtigen Einheiten in ihre Standorte und der Berliner Garnison in deren diverse Kasernen. Beunruhigt von der nachlassenden Disziplin der Mannschaften, die unter dem Druck der die Kasernen umlagernden, durch die Massakrierung ihrer Verwandten, Kollegen und Nachbarn in der Barrikadennacht aufs höchste erregten Haufen zorniger Berliner deutlich psychischen Streß zu zeigen begannen, entschloß sich Prittwitz, die Berliner Garnison ganz aus der Stadt herauszuziehen. In der Nacht vom 20. zum 21. März marschierten die letzten Einheiten ab.
     Die Erfüllung der alle vereinigenden Forderung »Militär zurück!« brachte aber sofort die Diskrepanz zwischen den Zukunftsvorstellungen des Berliner Bildungs- und Besitzbürgertums mit seinem Schweif an Beamten, Hof- und Militärlieferanten bis hinab zu den noch einigermaßen situierten Handwerksmeistern einerseits und den städtischen Unterschichten andererseits zutage.
     In die momentane Einheitsfront gegen die Militärdiktatur auf den Straßen und Plätzen hatte sich offenbar ein wirkliches Mißver-
ständnis eingeschlichen: das von der Deckungsgleichheit aller (oder doch wenigstens der meisten) sozialen Interessen in einer Residenz- und Gewerbestadt von ca. 400 000 Einwohnern! Dieses momentane Mißverständnis wurde schon am Tage nach der Barrikadennacht aufgeklärt. Den in der Sozialstruktur weiter oben Angesiedelten wurde nun schlagartig klar, daß ja jetzt jede Schranke gegen die drohende Begehrlichkeit der – zudem noch bewaffneten und siegestrunkenen – »Straße« fehlte und eine prompte Reaktion auf diesen bedrohlichen Zustand erforderlich war. In Windeseile wurde eine Gegenstrategie entwickelt, die in drei Richtungen wirkte.

Die Barrikadenkämpfer
wurden trickreich entwaffnet

Die erste Richtung sorgte für die schnellstmögliche Aufstellung einer bürgerlichen bewaffneten Schutzmacht, aus der Angehörige der städtischen Unterschichten ausgeschlossen waren. Das geschah durch die Aufstellung der Bürgerwehr, in die sich nur im
Chaos der ersten Tage auch Einheiten einschleusen konnten, in denen wirkliche Barrikadenkämpfer präsent waren (Fliegendes Korps des Handwerkervereins, Rotte Monecke des Studentenkorps). Als erste Aufgabe sahen es die honetten Bürger in den Bezirksbataillonen der Bürgerwehr (wie übrigens auch im Magistrat) an, Barri-

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   17   Probleme/Projekte/Prozesse Zur Berliner Märzrevolution  Vorige SeiteNächste Seite
kadenkämpfern trickreich ihre Waffen abzunehmen. Höhepunkt des erfolgreichen Wirkens dieser Richtung war schließlich der 16. Oktober 1848, als die Ordnungsmacht Bürgerwehr mit der Erschießung von fünf demonstrierenden Arbeitern auf dem Köpenicker Feld (Luisenstadt) deutlich machte, entlang welcher sozialen Trennungslinie aus bürgerlicher Sicht Ordnung und Anarchie verliefen. Die zweite Richtung knüpfte unmittelbar an diese erste an. Typischerweise ging gerade von der Bürgerwehr bereits am 25. März die Initiative aus, doch um Gottes Willen wieder Militär nach Berlin zu holen. Das Berliner Bildungs-, Besitz- und Spießbürgertum war durch den Mund seiner Bürgerwehrkommandeure geradezu versessen darauf, vor der Welt zu demonstrieren, daß Berlin keineswegs mit der Armee gebrochen habe.
Angesichts solcher Bekundung konnte die Öffentlichkeit außerhalb Berlins schon schlußfolgern, daß der ganze Barrikadenkampf am 18./19. März vielleicht doch wirklich ein Mißverständnis gewesen sei.

Friedrich Wilhelm IV. willigte am
19. März 1848 in die Bürgerbewaffnung ein

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Dem Drängen der ruhigen und daher auf Ruhe bedachten Bürger seiner Residenz konnte der König natürlich nicht widerstehen: Am 30. und 31. März zog wieder Militär in Berlin ein, zwar gegen den zagen mündlichen Widerstand etlicher Demokraten, aber dafür bejubelt von Publikum, der Bürgerwehr und der Aristokratie der Berliner Arbeiterschaft, den Borsigschen Maschinenbauern. Die Auswahl der beiden Infan terieregimenter, die die neue Berliner Garnison stellten, enthüllt psychologisches Geschick des preußischen Generalstabs: Das 24. Infanterieregiment aus Neuruppin war just jenes, das der allseits verehrte »Alte Fritz« als Kronprinz befehligt hatte, und das Infanterieregiment Nr. 9 (2. Pommersches) war jenes Kolbergische Regiment, das am 23. August 1813 durch den abendlichen Angriff bei Großbeeren Berlin vor erneuter napoleonischer Okkupation gerettet hatte ...
     Die dritte Richtung lag ebenfalls auf psychologischer Ebene. Durch die verzerrte Darstellung der sozialen Zugehörigkeit der siegreich gebliebenen Barrikadenkämpfer wurde sofort eine machtvolle Gehirnwäsche betrieben. Seit dem 19. März war es bei Publizisten und Literaten jeglicher Couleur absolutes Muß, die Einigkeit aller – aber wirklich aller! – Schichten der Berliner Ein-
wohnerschaft beim Bau und bei der Verteidigung der Barrikaden pastos auszumalen. Der tatsächlich für einen einzigen Fall belegte Fakt, daß auch ein vornehm gekleideter
Herr mit Hand anlegte beim Bau einer Barrikade – er wurde ausgewalzt bis zum letzten. Dieser nicht namentlich belegte barrikadenbauende Vertreter der Oberschicht geistert durch die zeitgenössischen Reportagen zum Barrikadenkampf wie das inzwischen sprichwörtliche »alte Mütterchen« als Ingredienz journalistischer Leistungen bis in unsere Zeit. Der von federfleißigen Literaten ins Unermeßliche vervielfältigte gutgekleidete Herr suggerierte die harmonische Einheitsfront der Veränderungswilligen, die mit Ausnahme namentlich bekannter Bösewichter (zumeist in der bisherigen engeren Umgebung des eo ipso »guten« Königs) sich nach dem Sieg auf den Barrikaden brüderlich in den Armen zu liegen hatten und diese alles überdeckende Brüderlichkeit dann auch am 22. März bei der Beisetzung der zivilen Revolutionsopfer vorbildlich demonstrierten. Eine nach dem 19. März 1848 verbreitete Farblithographie mit dem Motto »Einig und frei«, die die verdienstvollen Erringer der neugewonnenen Freiheit feierte, zeigte in brüderlicher Umarmung einen gutgekleideten Bürger, einen Angehörigen der Berliner Schützengilde in seiner schmucken Vereinsuniform und einen Studenten im vollen Wichs – fürwahr das typische soziale Spiegelbild der eher proletarisch zu nennenden Berliner, die hinter den Barrikaden gestanden hatten! Die Hetzjagd aller Fraktionen des Bürgertums gegen den Herausgeber der »Berliner Zeitungs-Halle«, Gustav Julius
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– er hatte es gewagt, in einem Leitartikel vom 23. März der Verbrüderungsbesoffenheit die nüchterne Wahrheit entgegenzustellen, daß es im realen Leben der Gesellschaft längst den Bruch zwischen Bürgern und Arbeitern als zwei sich entgegenstehenden Klassen gäbe –, fügt sich paßrecht in dieses Erscheinungsbild ein. Die massive Gehirnwäsche zur Einlullung der gefürchteten Unterschichten mittels bewußt geschürten Brüderlichkeitstaumels erfüllte jedoch ihren Zweck, und das deutschlandweit kolportierte Mißverständnis hinsichtlich der wahren sozialen Herkunft und den damit verbundenen Interessen derer, die auf den Barrikaden Berlins die konstitutionelle Ära für Preußen eingeleitet und damit erst die Bedingungen geschaffen hatten, daß Wahlen für eine Deutsche Nationalversammlung deutschland Weit durchgeführt werden konnten, setzte sich in den Köpfen fest. Es wirkt nicht unerheblich bis in die Gegenwart.
     Auf den Berliner Barrikaden hatte »die Straße« nun auch in Preußen im ersten Ansturm die Revolution siegen lassen. Die Märzministerien in den anderen deutschen Staaten waren damit der ärgsten Bedrohung durch den Konservativismus ledig. Folgerichtig bekam nun auch Preußen seine Märzminister; deutlicher als in anderen deutschen Staaten manifestierten sie in der Führungsmacht des Zollvereins den dem Liberalismus eigentlich wesenseigenen materiellen Rückhalt: das in Handel und In-
dustrie sicher verankerte Besitzbürgertum. Zwar hatte der preußische Königshof zunächst noch geglaubt, mit Adligen – wenn auch liberalen – an der Spitze des Staates weitermachen zu können. Das stellte sich aber innerhalb von zehn Tagen als ein Mißverständnis heraus, das der massive Protest des Besitzbürgertums in ganz Preußen schnell aufklärte: An die Spitze der Regierungsgewalt gelangte mit natürlicher Konsequenz die Geldaristokratie! Preußischer Ministerpräsident wurde der Kölner Bankier Ludolf Camphausen (1803–1890), Finanzminister jener Textil- und Eisenbahnunternehmer David Hansemann (1790–1864), der im Juni des Vorjahres den königlichen Ministern das stolze Wort entgegengeschleudert hatte, daß in Geldfragen die Gemütlichkeit aufhöre.
     Angesichts solch klaren Programms war kaum noch ein Mißverständnis möglich, wer die Ernte aus der Revolution in seine Scheuer einzufahren auf dem Wege war.

Bildquelle: Archiv LBV

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