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er einst Mitglied der Burschenschafts- bewegung war. Der Arabistiker Nauwerk, Dozent an der Philosophischen Fakultät mit gutbesuchten Vorlesungen zu philosophischen Themen radikal-demokratischen Inhalts, wurde auf Betreiben von Kultusminister Johann Albrecht Friedrich Eichhorn (1779–1856) am 1. März 1844 suspendiert.
     Um Eingriffe in die Lehrfreiheit unter Umgehung der Fakultäten vornehmen zu können, erhielt Eichhorn von seinem König am 17. Januar 1847 die Ermächtigung, disziplinarisch gegen »öffentliche Lehrer« vorzugehen.
     Rektor und Senat der Universität sowie durchweg alle berufenen Ordinarien betrachteten sich in ihrem Amte lediglich als Sachwalter statutenmäßig festgelegter Obliegenheiten, nicht aber als selbständig politisch handelnde Personen. Die Studentenschaft bot ein differenzierteres Bild, in dem monarchistische Ansichten bei weitem überwogen. Aufmerksamkeit erregten jedoch einige liberal und demokratisch gesinnte Studenten, die sich weit in der Minderheit befanden. Ihre Wortführer waren die gemäßigt liberalen Studenten Heinrich Abeken und Karl Ludwig Ägidi sowie Paul Börner, der Schweizer Salis-Seewis und Edmund Monecke vom demokratischen Flügel. Sie bewegten sich an der Seite von Handwerkern und Kaufleuten, die In den Zelten im Tiergarten wiederholt zusammenkamen und fordernde Adressen verfaßten.
Bernhard Meyer
Bewegte Tage an der Universität

Verhalten und Ambitionen der Wissenschaftler und Studenten der Friedrich-Wilhelms-Universität während der Märzrevolution werden unterschiedlich beschrieben und bewertet. Max Lenz vermerkt in seiner mehrbändigen Universitätsgeschichte (1910): »In den Fakultäten war am Vorabend der Revolution vom revolutionären Geist nichts zu spüren.« (S. 172) Karl Obermann konstatiert in seiner Festschrift zur 150-Jahr-Feier der Universität (1960), »daß die oppositionellen Bestrebungen keineswegs an den Toren der Universität haltmachten«. (S. 175) Für Rudolf Virchow (1821–1902) kam, wie er seinem Vater mitteilte, die Revolution überraschend. Er hatte sie nicht gewünscht, jedenfalls nicht zu diesem Zeitpunkt. Verbote und Zensur der preußischen Regierung lange im Vorfeld der Märztage führten zum Verschwinden des »Lesevereins« in der Universität ebenso wie zur Disziplinierung und Eliminierung der wenigen bekennenden Demokraten unter den Hochschullehrern. Der talentierte Jakob Henle (1809–1885), der frühe geistige Vorbereiter der späteren Bakteriologie, erhielt in Berlin schon in den 30er Jahren keine Chance, weil

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Zum Rektor der Wahlperiode 1847/48 wählten sich die Universitätsprofessoren den berühmten Mediziner Johannes Müller.
     Natürlich keineswegs in Vorahnung dessen, was auf ihn und seinen Prorektor Boeckh sowie auf seinen engen Berater, den Senator und Medizinhistoriker Justus Friedrich Karl Hecker (1795–1850), in den bewegten Märztagen 1848 zukommen würde. Dem Trubel der verwirrendwidersprüchlichen Ereignisse der Märztage stand ein in der Forschung anerkannter und weithin geachteter Wissenschaftler gegenüber, der philosophisch gebildet, aber politisch ohne Erfahrung amtierte. Wenn er eine politische Absicht verfolgte, dann wohl die, dem preußischen König zu dienen und jedweden Schaden von ihm fernzuhalten. So blieb ihm als oberstem Universitätsrepräsentanten des »geistigen Leibregiments der Hohenzollern«, wie sein späterer Amtsnachfolger Emil du Bois-Reymond (1818–1896) die Funktion der Universität 1871 beschrieb, nur die konsequente Amtstreue nach Recht und Gesetz und den Anweisungen der vorgesetzten preußischen Kultusbehörde.
     In der Wissenschaft gilt der am 14. Juli 1801 in Koblenz geborene Müller als der Brückenschlag von der sich überlebenden Naturphilosophie zur naturwissenschaftlichen Richtung in der Medizin. Das war der bedeutsame Beginn zur Überwindung der spekulativen Medizin durch das strenge Experiment und die exakte Beobachtung
der Natur und des Menschen. Noch zu Beginn seines Studiums in Bonn schwankte er zwischen Theologie und Medizin. Seine nie bereute Hinwendung zur Medizin faßte er 1819 in die Worte: »Da weiß ich, was ich habe und wem ich diene.« 1833 erhielt Müller den Ruf als ordentlicher Professor für Anatomie und Physiologie nach Berlin. Er nahm Quartier am Kupfergraben, nicht weit vom Anatomischen Institut, das sich Hinter der Garnisonkirche 1 befand. In den folgenden 25 Jahren erwarb er sich den Ruf des letzten deutschen Universalgelehrten der biologischen Wissenschaften, der die Anatomie, Histologie, Physiologie, Pathologie, Zoologie und Paläontologie beherrschte. Seine Schüler, die es zu Ruhm und Ehre in den Wissenschaften brachten, sind Legion: Emil du Bois-Reymond, Ernst von Brücke (1819–1892) und Hermann von Helmholtz (1821–1894) wurden die Begründer der selbständigen Physiologie; Jakob Henle, Theodor Schwann (1810–1882), Karl Bogislaus Reichert (1811–1883), Albert von Koelliker (1817–1905) und Wilhelm Hissen (1831–1904) wurden berühmte Anatomen mit der Spezialisierung in Embryologie und Histologie; Friedrich Robert Wilms (1842–1880) wurde ein stadtbekannter Chirurg am Bethanien-Krankenhaus; Ludwig Traube (1818–1876), Robert Remak (1815–1865) und Hermann Senator (1834–1911) angesehene Internisten; Ernst Haeckel (1834–1919) wurde ein weltberühm-
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   85   Geschichte und Geschichten Bewegte Tage an der Universität  Vorige SeiteNächste Seite
ter Zoologe und Rudolf Virchow Pathologe und deutscher Medizin-Papst über ein halbes Jahrhundert hinweg.
     Müller war ein Gelehrter, der nebenbei noch als Direktor dem Anatomischen Museum vorstand und die dort erworbenen Objekte eigenhändig beschriftete und katalogisierte, der unablässig sezierte, mikroskopierte, notierte, systematisierte und seine Ergebnisse in umfänglichen Büchern publizierte, Studenten prüfte und seine zahlreichen Assistenten zu selbständigem wissenschaftlichen Denken brachte. Da tauchte ein Plakat im Hauptgebäude der Universität auf, das für den 10. März zu einer Studentenversammlung im Auditorium maximum aufrief. Das Verbot dieser Zusammenkunft fiel noch leicht, denn auf dem Plakat wurde gefordert: »Nieder mit Eichhorn, Lehr und Lernmittelfreiheit, Wegfall der Honorare und Promotionsgebühren, freie Erziehung!« Das war radikal-demokratisch und in allem gegen seinen Dienstvorgesetzten gerichtet. Schon einen Tag später mußte Müller jedoch eine ähnliche Versammlung in der Aula genehmigen. Dort sollte es gemäßigter zugehen, wobei politische Fragen nicht zur Sprache kommen durften. Minister Eichhorn stand von nun an bis zu seiner Demission am 18. März ständig mit dem Rektor in Kontakt. Müller appelierte an seine Studenten, nicht an Zusammenrottungen teilzunehmen und Tumulten fernzubleiben. Das Auditorium maximum
wollte Müller nun jederzeit für Beratungen zur Verfügung stellen, wenn er zuvor die Tagesordnung gesehen und genehmigt habe. Am 15. März versammelten sich an die 200 Studenten spontan vor der Aula, um die allgemeine Volksbewaffnung einzufordern. Gewählte Studenten zogen daraufhin zum Berliner Militärgouverneur Ernst von Pfuel (1779–1866).
     Am 18. und 19. März überschlugen sich die Ereignisse. Von diesem Tage an traf sich der Senat der Universität täglich um die Mittagszeit zur Beratung der aktuellen Lage. Am 18. frühmorgens debattierten die Studenten in der Aula über die Bewaffnung der Bürgerschutzkommissionen. Dann hieß es, alle sollten sich zum Schloß begeben, und der König hätte die Pressefreiheit gewährt. Gerüchteweise verbreitete sich in Windeseile die Nachricht, Eichhorn sei zurückgetreten. Damit schien für viele Studenten alles gelöst zu sein. Gegen 14 Uhr zeigte sich der König auf dem Balkon des Schlosses und ließ mehrere Reformen und die Einberufung des Vereinigten Landtages zum 2. April verkünden. Das Militär blieb in der Stadt, und auf dem Schloßplatz gingen Schüsse los.
     Die auf dem Schloßplatz Versammelten waren empört, errichteten in der Innenstadt Barrikaden und verlangten Waffen. Der Universitätsfechtboden wurde gestürmt.
Andere Studenten gingen zum Schloß, um den Rückzug der Truppen zu fordern. Sie trafen dort auf ihren in seinen Talar ver-
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   86   Geschichte und Geschichten Bewegte Tage an der Universität  Vorige SeiteNächste Seite
mummten Rektor und einen Senat, die das gleiche Anliegen vorzutragen beabsichtigten. Der König lehnte ab, und die Kämpfe begannen. Berichte belegen, daß von den etwa 1 800 immatrikulierten Studenten rund 100 an den Auseinandersetzungen auf den Straßen beteiligt waren, von denen vier ums Leben kamen.
     Der 19. März begann mit dem durch den König angeordneten Rückzug der Truppen. Um die Mittagszeit wurde bekannt, daß Maximilian Heinrich Graf von Schwerin-Putzar (1804–1872) den Posten des Kultusministers übernommen habe. Zusammen mit der Bekanntmachung über die »Bürgerbewaffnung« glaubten die Liberalen unter den revoltierenden Studenten, alles erreicht zu haben. Da nun von Schwerin schleunigst Studentenkorps aufzustellen gedachte, brachte er sie ohne Probleme hinter sich. Rektor Müller übernahm sofort das Ruder und förderte am 20. März die Debatte über dieses Thema in der Aula. Nach kontroverser Diskussion billigte der Polizeipräsident ihnen Gewehre statt Säbel und Hirschfänger zu und gestattete ihnen die Farben Schwarzrotgold. Um die 300 Studenten beteiligten sich an den Korps, auch radikal-demokratische. Die Führung der Studentenkorps mußte der Rektor übernehmen. Sie wurden zur Bewachung des Palais von Wilhelm von Preußen (»Kartätschenprinz«) eingesetzt, der am 20. März nach England geflüchtet war. Plötzlich hieß es am 21. März
morgens, der Kultusminister käme in die Aula. Von ihm vernahmen die Studenten in Anwesenheit des Rektors »mit umgeschnalltem Säbel« die königliche Absicht, mit Gefolge durch die Straßen von Berlin zu ziehen, wobei die Studenten ihm ehrenvolles Geleit geben sollten. Die Ankündigung wurde mit Jubel aufgenommen, da sie mit einem Dank für die studentische Treue der letzten Tage verbunden war. Bereits um 11 Uhr begann der Umzug von König Friedrich Wilhelm IV., der ihn auch an der Universität vorbeiführte. An der Stelle, wo das Reiterdenkmal für Friedrich II. vorgesehen war, hatte sich der Rektor mit seinen studentischen Korps postiert. Dort standen auch die anderen Studenten und jubelten ihrem König mit dem Ruf »Es lebe der Kaiser von Deutschland!« zu. Friedrich Wilhelm IV. begrüßte den Rektor mit Handschlag und nutzte die Gelegenheit zu einer kurzen Ansprache. Er wolle nichts usurpieren, sagte er, nur deutsche Freiheit und Einigkeit bewahren. Universitätschronist Max Lenz vermerkt: »Es waren Worte, wie sie dem Romantiker auf dem Thron so leicht entquollen; rauschenden Tones und gefühlsmäßig geformt, wie es das leicht aufwallende Empfinden der akademischen Jugend gern hat.« (S. 227) Einen Tag später, am 22. März, fand die Beerdigung von 183 Märzgefallenen statt. Unmittelbar hinter den Särgen ging die Geistlichkeit mit den Hinterbliebenen. Dann kam bereits die Uni-
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versität in vollem Ornat – voran der Rektor und der weitgereiste Alexander von Humboldt (1769–1859).
     Für die Beschwichtigung der Volksmassen spielte die Einberufung des Vereinigten Landtags eine bedeutsame Rolle. Rektor Müller rief zum 27. März die Professoren und Dozenten zu einer Versammlung, um mit deren Zustimmung die königstreue Haltung der Universität besonders augenfällig zu machen. Außerdem galt es, den Studenten in diesen Tagen die Meinung ihrer Lehrer zu präsentieren. Um allen Eventualitäten aus dem Weg zu gehen, ließ Müller vorsichtshalber eine Diskussion nicht zu. Die Abstimmung erbrachte ein eindeutiges Votum, so wie es das Kultusministerium erwartete: Von den 107 Anwesenden stimmten 98 für den Zusammentritt des Landtags, während sich zwei der Stimme enthielten und sieben dagegen stimmten. Stimmenthaltung übte Emil du Bois-Reymond, später Sekretar der naturwissenschaftlichen Klasse der Preußischen Akademie der Wissenschaften und zweimaliger Rektor der Universität. Gegenstimmen kamen u. a. von George Adolphe Erman (1806–1877), namhafter Professor der Geographie, und vom Privatdozenten an der Charité Rudolf Virchow, kurz zuvor noch »Liebling der Generalärzte«, später Mitbegründer der Fortschrittspartei, Stadtverordneter und Reichstagsabgeordneter.
     Die revolutionären Ereignisse verebbten
und mit ihnen die bewegten Tage an der Universität. Rektor Müller war es zufrieden, bald darauf die für ihn zur Bürde gewordene Würde des Rektorats abgeben zu können. Die Studentenschaft trug die konstitutionellen monarchistischen Bestrebungen, die sie ihrer meist bürgerlichen Herkunft nach für angemessen hielt. Radikal-demokratische Studenten wurden von der Universität verwiesen oder gar, wie Edmund Monecke, zu Festungshaft verurteilt. Rudolf Virchow wurde zum 31. März 1849 von der Charité suspendiert, was jedoch seinen wissenschaftlichen Lehrer Müller sieben Jahre später, 1856, nicht davon abhalten konnte, sich wärmstens für dessen Berufung von Würzburg an die Charité zu verwenden.
Johannes Müller verstarb am 28. April 1858.
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