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»auf der grünen Wiese« seien einer gewissen Megalomanie der SED-Politbürokratie entsprungen und hätten deren Selbstbespiegelung gedient (das zunächst verbreitete höhnische Herabwürdigen der Bauleistungen im Zusammenhang mit allem, was »Platte« genannt werden konnte, verstummte bekanntlich schon in dem Moment, als für die »Platten«-Bauten nach Käufern gesucht wurde ...).
     Die Ausstellung beweist im Gegenteil den ziemlich langen Atem, mit dem Berliner Stadtplaner auf die Explosion der großstädtischen Ballungsräume in und unmittelbar bei ihrer Stadt reagiert haben, um auf Jahre und Jahrzehnte hinaus im Voraus Nutzungs- und Bebauungstrends in den Griff zu bekommen. Ein kurzer (wirklich sehr kurzer) Rückgriff auf den Hobrechtplan leitet zu der ersten Phase Berliner Planungsinteresses an den nordöstlichen Nachbardörfern über, als in der Hauptsache Standorte für das Anlegen von Rieselfeldern interessierten. Aber schon der nur wenig ins Blickfeld der Standardliteratur zur Berlin-Geschichte (allerdings mit der bedeutenden Ausnahme von Michael Erbe in dem Kapitel »Berlin im Kaiserreich« in Wolfgang Ribbes zweibändigem Standardwerk »Geschichte Berlins«, 1987) gelangte amtliche städtebauliche Wettbewerb von 1910 sah eine äußere Ringstraße von Erkner über Rüdersdorf, Altlandsberg, Seefeld nach Bernau vor, innerhalb derer an mit Grün durchmischte Wohngebiete gedacht war. Der in der Weimarer Republik angedachte Generalbebauungsplan blieb bei Einzelplänen stecken, weil der Republik 1933 der Garaus gemacht wurde; aber der Bevölkerungsplan von 1928 sah doch immerhin schon eine Erhöhung der damaligen Einwohnerzahl auf der Fläche der heutigen Neubaugebiete von 28 000 auf 366 000 vor. Speer als »Generalbauinspektor für die Reichshauptstadt« ging 1939 von dem notwendigen Wohnungsbau für 445 000 Menschen im Siedlungsgebiet östlich von Friedrichsfelde bis zum Autobahnring aus. Der Generalbebauungs- und Generalverkehrsplan für Ost-Berlin von 1968 legte
Historische Stadtplanungen
für den Berliner Nordosten

Ausstellung im Heimatmuseum Marzahn

Das Heimatmuseum des »Neu-Bezirks« Marzahn hat sich in den letzten Jahren bereits durch eine Reihe von Ausstellungen zu lokalhistorischen Themen zum Wort gemeldet und damit über die Bezirksgrenzen hinaus Beachtung gefunden. Erinnert sei z. B. an die Würdigung von Propst Grüber als Seelsorger in Biesdorf und an die in sensibler Manier nachgezeichnete Zeit des schwierigen Neuanfangs nach dem Mai 1945. Mit glücklicher Hand greift das Museum unter seiner engagierten Leiterin Dorothee Ifland dabei oft genug auf einheimische Kenner der jeweils angesprochenen Materie zurück. Dieser Gewohnheit ist es mit vorliegender Ausstellung wieder treu geblieben: Dr. Günther Peters, über viele Jahre Stadtbaudirektor von Ost-Berlin und an vorderster Stelle involvierter Begleiter der Planungs- und ersten Aufbauphase der Neubaugebiete Marzahn, Hellersdorf, Hohenschönhausen, hat der Ausstellung durch sein Wissen und die archivalischen Bestände seiner »Forschungsstelle Baugeschichte Berlin« ihr wesentliches Skelett geliefert (und den Text für das Begleitheft verfaßt).
     Die Ursprungsabsicht der Ausstellung war offensichtlich, das planerische Problematisieren des heutigen Lebensgroßraums der drei zu DDR-Zeiten geschaffenen neuen Berliner Bezirke in den Kontext der historisch nachweisbaren Abläufe zu stellen. Daß dabei eine solide Auseinandersetzung mit zeitweilig modischen flotten journalistischen (aber auch manchen Politiker-) Sprüchen herausgekommen ist, kann als nützlicher Nebeneffekt verbucht werden: Ein kennerischer Blick in die Geschichte der letzten hundert Jahre führt nämlich das Märchen ad absurdum, diese großen Wohngebiete

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unter dem Aspekt der Verlagerung von Industriezonen aus den innerstädtischen Regionen zunächst nur den Aufbau einer Industriezone Nordost fest, die auch bis 1976 zusammen mit einer damit verknüpften Anbindungsstruktur entstand. Letztere war es dann, die das Augenmerk der Planer auf das Gebiet lenkte, als mit dem von Honecker inspirierten Wohnungsbauprogramm ab 1972 die Planungsphase für großdimensionierte Neubauwohngebiete begann. Das Hauptstadtprogramm von 1976 korrigierte daher schon die Planung von 1968, die eigentlich bis 1980 verbindlich sein sollte. Ein neuer Generalplan sorgte 1980 für jene Bebauungsrichtung des neunten Jahrzehnts im Berliner Nordosten, die das riesige Gebiet prägten, das der Besucher heute in Marzahn- Hellersdorf- Hohenschönhausen vorfindet und das für 1971–1990 einen Bevölkerungszuwachs von 62 000 auf 408 000 Einwohner mit sich brachte. Die abschließende Vorstellung des Berliner Flächennutzungsplans von 1994 – der über zwei Jahrzehnte hinweg in die Zukunft blickt – relativiert das besorgte Gezisch aus manchen Ecken über drohende Verslumung der »Plattenbau-Großsiedlungen« völlig unspektakulär dadurch, daß er für den Nordosten keineswegs nur Sicherung der Gebäudesubstanz und Nachbesserungen in Wohnumfeld und Infrastruktur vorsieht, sondern auch mehrere neue Wohngebiete – von denen das Gebiet »Landsberger Tor« gegenwärtig schon als Großbaustelle zu besichtigen ist.
     Man möchte angesichts des wertvollen inhaltlichen Anliegens der Ausstellung eigentlich auf jedes kritische Wort verzichten. Aber gerade wegen des unaufdringlich belehrenden Inhalts ist es doch schade, daß der beengte Raum offenbar zu einem Verzicht auf großzügige grafische Gestaltung zwang. Das geht leider auch zu Lasten der Didaktik, die in einer Tafelausstellung nach großflächigen Anziehungspunkten verlangt, an denen es hier weithin fehlt. Dieser Mangel läßt sich natürlich ausgleichen, wenn man sich einer Führung durch
Dr. Peters anvertraut, der sich nach Voranmeldung im Heimatmuseum Marzahn (Tel. 5 42 40 53) dafür zur Verfügung stellt.
Kurt Wernicke
Moses Mendelssohn
Gesammelte Schriften

Jubiläumsausgabe, Band 24: Porträts und Bilddokumente. Bearbeitet von Gisbert Porstmann

Friedrich Frommann Verlag, Günther Holzboog, Stuttgart 1997

Mit Band 24 der gesammelten Schriften Moses Mendelssohns (1728–1786) liegt nun der 29. der auf 37 Bände konzipierten Jubiläumsausgabe vor. Gesamtherausgeberin Eva J. Engel und Verleger Günther Holzboog haben auch mit diesem Band das Besondere der Jubiläumsausgabe unterstrichen: Porträts und Bilddokumenten wird in einer Gesamtausgabe ein eigenständiger Platz eingeräumt. Der Kunsthistoriker Gisbert Porstmann nutzte diese Chance weidlich und hat ein erstaunlich vielseitiges Buch vorgelegt. Es ermöglicht auf ganz eigene Weise einen Blick ins Gesicht und in die Gesichter des Zeitalters der Aufklärung. Gezeigt werden nicht nur die 51 verschiedenen Porträts von Moses Mendelssohn, die bis 1800 entstanden sind. Der »deutsche Sokrates« erscheint im Reigen mit den wichtigsten Zeitgenossen, Mentoren, Freunden, Schülern, Briefpartnern. Gezeigt werden Frontispize und Titelblätter seiner Schriften, man kann Mendelssohns Handschrift in deutsch, hebräischen Kursiven und hebräischer Quadratschrift anschauen und auf historischen Abbildungen Aufenthalte und Reisen nachvollziehen. Selbst der erst kürzlich entdeckte Toravorhang,

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Schattenrisse von Moses Mendelssohn, abgebildet auf den Seiten 88/89

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wurde«. (S. 6) Das früheste bekannte Bildnis Mendelssohns, eine Miniaturmalerei auf Elfenbein, stammt aus dem Jahre 1767, in dem auch sein »Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele« erschien. Diese Arbeit hat Mendelssohn berühmt gemacht und ihm den Beinamen »deutscher Sokrates« eingebracht. Als Gegenstück zur herrschaftlichen Ahnengalerie, so Porstmann, eroberte das Bild des deutschen Bürgers die Salons, hing als Vorbild in Studierstuben. Und Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Domstiftsekretär in Halberstadt, schuf sich einen »Tempel der Musen und der Freundschaft«: »Ich will in meinem Cabinet meine Freunde um mich herum hängen; sie sollen sehen, was ich mache, und die Erinnerung ihrer Tugenden soll meine Lehrerin seyn.« (S. 6) Gleim bestellte beim Berliner Maler Christian Bernhard Rode ein Ölbildnis Mendelssohns.
     Porstmann unterscheidet bei den Gemälden zwei Bildnistypen: Porträts, die der klassischen Idealisierung des Abgebildeten folgen, und Darstellungen, die das Charakteristische herausarbeiten. Zur ersten Gruppe gehören das Bild von Rode, des weiteren u. a. ein Porträt des Malers Anton Graff, das der Leipziger Johann Friedrich Bause in Kupfer gestochen hat. Porstmann zitiert aus einem Dankschreiben Mendelssohns an Bause: »Herrn Grafs Pinsel und Ihr Grabstichel haben meinem Bilde alles wiedergegeben, was die Natur dem Originale versagt hat. Ich erkenne mein Bildniß, aber nicht so, wie ich es etwa im Spiegel warnehme; sondern wie ich meiner besten Freundin dreist in einem Morgentraume erschienen seyn mag.« (S. 29) Die Rückgratverkrümmung des Aufklärungsphilosophen, im Bild angedeutet, erscheint erstmalig in einem Porträt, das der Berliner Hofmaler und Akademiepräsident Johann Christoph Frisch von Mendelssohn schuf. »Dieser Makel, im Gegensatz zur idealisierten Körperproportion, wird seit Frischs Gemälde zum bildnerischen Topos. Die >äsopische Hülle< Mendels-
1759 erschienen bei Nicolai die »Briefe, die neuste Literatur betreffend«, abgebildet auf Seite 291
den Moses und seine Frau Fromet einer Berliner Synagoge spendeten, ist zu sehen. Auf diese Art einer für die Geistesgeschichte bedeutenden Zeit nahezukommen, ist eine überaus spannende Angelegenheit. Und selten dazu: Ein Bildband in einer Gesamtausgabe ist einzig zu dem Mathematiker und Philosophen Bernard Bolzano erschienen, auch im Frommann-Holzboog Verlag.
     Porstmann widmet sich am Anfang der Beantwortung der Frage, »welche gesellschaftlichen Konstellationen es ermöglichten, daß ein Jude ohne jedes staatliche oder kirchliche Amt bildwürdig
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   113   Berichte und Rezensionen   Vorige SeiteNächste Seite
sohns erhält die Bedeutung eines symbolischen Attributes. Sie wird das Zeichen des Philosophen.« (S. 33)
     Wie nun hat Moses Mendelssohn wirklich ausgesehen? Die 51 Bildnisse zeigen den Wandel vom jungen Mann zum Weltweisen. Allgemein sei man geneigt, so Porstmann, sich an das beeindruckende Frisch-Porträt zu halten. (Schade, daß sich der Leser beim »kleinen Frisch« aussuchen kann, ob das Gemälde 1784, wie auf Seite 34, oder 1786, wie im Bildtext auf Seite 35 berichtet wird, entstanden ist.) Für die größte Wirklichkeitsnähe spreche allerdings die Arbeitsweise Daniel Chodowieckis, von Schadow deshalb einst gerügt. »Ganz in diesem Sinne gilt eine Rötelzeichnung Chodowieckis von 1773 als das Mendelssohn ähnlichste Porträt.« (S. 41)
     Das Kapitel über Mendelssohns Zeitgenossen beginnt Porstmann mit dem Vorstellen seiner philosophischen Lehrer und Anreger, es folgen Mentoren, Freunde und Schüler, Mitglieder der Königlichen Akademie der Wissenschaften, Vertreter gelehrter Gesellschaften, Regenten, Dichter, Schriftsteller, Philosophen, Theologen, Naturwissenschaftler. Ihnen allen kann man ins Gesicht schauen, sie alle sind in ihrer Beziehung zu Mendelssohn auch in Textskizzen dargestellt. Sehr bereichernd die vorangestellten Zitate, zumeist Briefen entnommen, die Mendelssohn an die Dargestellten schrieb oder von ihnen erhielt. So Immanuel Kant an Mendelssohn: »Es sind wenige so glücklich, vor sich und zugleich in der Stelle anderer dencken und die ihnen allen angemessene Manier im Vortrage treffen zu können. Es ist nur ein Mendelssohn.« (S. 235) 55 Zeitgenossen stellt Porstmann so vor, und das macht den vorliegenden 24. Band der Gesamtausgabe zu einer wahren Fundgrube für alle, die sich gewissermaßen auf einen Blick auch über die geistigen Kämpfe der Zeit informieren wollen. Porstmann hat die Personen, mit denen Mendelssohn die wichtigsten Auseinandersetzungen führte, unter einem eigenen
Der berühmte »Phaedon«, 1767 erschienen, Abbildung auf der Seite 295
Kapitel zusammengefaßt: Michaelis, Lavater, Jacobi, Reimarus. Da aber beispielsweise der Streit um den Spinozismus Lessings sowohl bei den involvierten Personen als auch in Kommentierungen durch andere abgehandelt wird, wären Querverweise eine Hilfe für den Leser gewesen. Zumal es zwar ein gutes Personen-, aber kein Sachwortregister gibt.
     Das Besondere der Jubiläumsausgabe liegt nicht zuletzt in ihrer Entstehungsgeschichte: Begonnen 1929, anläßlich des 200. Geburtstages von Moses Mendelssohn, nach Erscheinen des siebenten Ban-
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des während der Zeit des Nationalsozialismus abgebrochen, nach unendlichen Mühen durch den Verleger Günther Holzboog 1972 wieder aufgenommen. Seit 1987 leitet Eva J. Engel die Geschicke der Jubiläumsausgabe als Gesamtherausgeberin. »Noch immer hat Moses Mendelssohn in der Literatur-, der Philosophie- und der Wissenschaftsgeschichte nicht den ihm gebührenden Platz ... Bisher unzureichend gewürdigt sind Mendelssohns Verdienste um die deutsche Sprache und die Sprachwissenschaften sowie sein Einfluß auf die Literaturberühmtheiten des 18. Jahrhunderts.« (Eva J. Engel in BM 1/95, S. 29 ff.) Band 24 der Jubiläumsausgabe, der ohne das Engagement der Oppenheim Stiftung nicht hätte erscheinen können, bringt nicht nur das Bild des Aufklärungsphilosophen und Menschenfreundes nahe, sondern auch seine Welt. Der Band, der – wie künftig auch andere der Gesamtausgabe – einzeln erworben werden kann, wird auch auf reges Interesse bei allen stoßen, die sich mit der Berliner Geistesgeschichte beschäftigen.
Jutta Arnold
zum eingesessenen ostelbischen Adel, in welche Gesellschaftsschicht auch die in die Kunst abgewanderte Kardorff-Linie vielfältig eingebettet war. Ursula landete nach einigen Vorgeplänkeln im November 1937 als Journalistin bei der in Berlin erscheinenden alteingeführten »Deutschen Allgemeinen Zeitung«(DAZ), zog sich Anfang Februar 1945 angesichts der herannahenden Roten Armee aus Berlin zurück und trat seit Sommer 1948 wieder kontinuierlich journalistisch bei der in München angesiedelten »Süddeutschen Zeitung« in Erscheinung, der sie bis zu ihrem Tod treu verbunden blieb. Für Berlin gewann sie Bedeutung durch ihre zuerst 1962 im Druck erschienenen »Berliner Aufzeichnungen 1942 bis 1945« (2. Auflage 1976), die bei ihrem Erscheinen auf dem Buchmarkt in den Bestsellerlisten landeten. Sie stellte sich damit in die Reihe von Zeitzeugen, und tatsächlich wurden ihre »Aufzeichnungen« immer wieder gern als authentisch befragt, wenn es sich für Nachgeborene darum handelte, Antworten zur Atmosphäre der angesprochenen Zeit zu finden.
     Auch in der »Berlinischen Monatsschrift« (Nr.  3/1996) wurden die »Berliner Aufzeichnungen 1942 bis 1945« freundlich rezensiert. Die Rezension beruhte allerdings nicht mehr auf den von der Verfasserin besorgten Ausgaben von 1962 bzw. 1976, sondern auf der von Peter Hartl nach dem Tode der Autorin besorgten von 1992 (Verlag C. H. Beck, München; die der Rezension in BM 3/1996 zugrunde liegende dtv-Ausgabe von 1994 ist eine unveränderte Lizenz-Ausgabe in Paperback und Taschenbuchformat). Diese kann man getrost in Anlehnung an die traditionellen Unternehmungen bei Klassiker-Editionen eine »kritische Ausgabe« nennen. So wird auch die irritierende diffuse Wertung seitens des BM-Rezensenten verständlicher: Er muß ein ungutes Gefühl gehabt haben angesichts der Aufgabe, diese »Aufzeichnungen« nach ihrem Quellenwert einzuordnen! Daher also das sibyllinische Urteil, daß das Buch »weder eine subjektivemotionale Dar-
Postume Demontage
einer Selbstdarstellung

Oder: Nachbetrachtung zu einer Rezension

Am 25. Januar jährte sich zum zehntenmal der Tag, an dem die Journalistin Ursula von Kardorff ihre Feder für immer aus der Hand legte. Am 10. 1. 1911 in Berlin als Tochter eines akademischen Kunstmalers – seit 1924 Professor an Kunstakademien bzw. Kunsterziehungsschulen in Breslau und (seit 1928) Berlin-Grunewald, 1934 jedoch vorzeitig pensioniert – geboren, gehörte sie durch ihr familiäres Milieu

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stellung der Kriegsjahre in Berlin, noch eine objektive Beschreibung der Berliner Verhältnisse zwischen 1943 bis (sic!) 1945 und auch kein Text, der dazwischenliegt«(BM 3/1996, S. 103), sei.
     Da hat der Rezensent durchaus recht – aber warum sagt er dann nicht, als was v. Kardorffs »Aufzeichnungen« dank Peter Hartl uns in dieser kritischen Ausgabe entgegentreten? Hartl hat die Neuausgabe der Publikation zwar mit einer feinfühligen Einleitung versehen, die der Protagonistin Gerechtigkeit widerfahren lassen möchte und für einen Wert des Vorliegenden als authentische Quelle ficht. Das muß ihm im Interesse der verstorbenen Verfasserin hoch angerechnet werden – denn es wäre natürlich auch eine andere Gewichtung möglich gewesen beim Abwägen zwischen Dichtung und Wahrheit als den beiden essentiellen Bestandteilen des Gedruckten: beim Hartl'schen Vergleich zwischen den im Nachhinein – erst 1947! – formulierten »Aufzeichnungen« und den tatsächlichen zeitgenössischen Eintragungen im erhaltenen Tagebuch der Ursula von Kardorff bleibt dem Leser in Dutzenden von Fällen das Verständnis für die Authentizität des Mitgeteilten verschlossen.
     Stellt man Dichtung (d. h. die 1947 bis ins Detail »nachempfundenen« Textstellen ohne jeden oder mit höchst blassem Beleg im Tagebuch) und Wahrheit (d. h. die authentischen Tagebucheintragungen, die uns Hartl zugänglich macht) gegenüber, dann ergibt sich eine eindeutige 1947 eingeführte Zweckgebundenheit mit der Zielrichtung auf den Aufbau eines Images von der überzeugten Anti-Nazi-Berlinerin, die stets mit der geballten Faust in der Tasche herumlief und aus dieser Haltung heraus auch ihre journalistische Arbeit bei der DAZ betrieb. Verinnerlichte sie dieses für sich selbst zusammengebastelte Bild mit der in solchen Fällen nötigen Konsequenz – ja dann mußte bei v. Kardorff natürlich Unverständnis und Verbitterung aufkommen, wenn man infolge (anfänglicher) strenger amerikanischer Richtlinien sie nicht wieder wie selbstverständlich in die neue
Lizenz-Presse schlüpfen ließ. Nach einem ersten hoffnungsvollen Anfang als Korrespondentin der »Süddeutschen Zeitung« beim Nürnberger Prozeß machte sich die damalige amerikanische Politik, profilierten Journalisten aus den Redaktionen der bedeutendsten deutschen Zeitungen der NS-Zeit keinen Zugang zu den neuen Presseorganen zu geben, für Ursula 1947 nachteilig bemerkbar. Da schien es durchaus geboten, eine rechtfertigende Publikation vorzulegen, die vielleicht die im Kreis der Berufskollegen durchaus erinnerlichen Durchhalteartikel in der großdeutschen DAZ der Jahre 1943/44 vergessen machen konnte; die Frucht solcher Überlegung gelangte dann allerdings erst 15 Jahre später auf den deutschen Buchmarkt – gedacht war aber bei ihrer Abfassung sehr verständlich an eine Selbstfindung, die bestimmt nicht für immer in einer verschlossenen Lade verbleiben sollte, auch wenn eine vielleicht schon 1947/48 gewünschte Veröffentlichung klugerweise zurückgestellt wurde.
     Das geschah 1947/48 aus gutem Grund, denn gerade war v. Kardorffs Tun und Treiben bei der DAZ während der Jahre 1942–1945 in der Öffentlichkeit beim Namen genannt worden: Es war sogar der amerikanisch lizenzierte »Tagesspiegel« in Berlin gewesen, der seine Lizenzgeber publizistisch höchst wirksam über Kardorff'sche Durchhalteartikel auf Goebbels'scher Linie informiert und damit ihre Entfernung aus dem Mitarbeiterstab des amerikanischen Besatzungsorgans in deutscher Sprache »Die Neue Zeitung« bewirkt hatte! Immerhin konnte die Betroffene einige Jahrzehnte später doch noch einen Abglanz ihrer Enttäuschung zur Abstrafung von Kommunisten verwerten, denn es war nach ihrer Erinnerung »die kommunistische >Weltbühne<« (S. 391; ein sowjetisch lizenziertes Blatt war natürlich auch 1947 ganz selbstverständlich kommunistisch ...), die des »Tagesspiegels« Attacke zu einer Glosse mißbraucht hatte und so die Wut der Anti-Nazi-Journalistin auf sich ziehen mußte.
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Mit sezierender Schärfe legt das Nebeneinanderstellen der 1947 im Nachhinein verfertigten Aufzeichnungen und der realen Tagebucheintragungen bloß, wie späterer Erkenntnisstand (der sei ihr nun doch für 1947 unterstellt ...) der Autorin die Feder führte bei Abfassung von Texten, die der eindeutigen Imagebildung dienten. Immer wieder muß Hartl bei langen antinazistischen Sentenzen kommentieren, daß sich im Originaltagebuch dazu nicht die geringste Eintragung findet. Der Aufschrei vom 3. 2. 1945 nach dem allerschwersten allierten Bombenangriff auf Berlin: »Warum stellt sich niemand auf die Straße und schreit >genug, genug<, warum wird niemand irrsinnig? Warum gibt es keine Revolution?« wird von Hartl, wie in unzähligen anderen Fällen, mit »Zur folgenden Eintragung unter diesem Datum kein Beleg im Original-Tagebuch« kommentiert (S. 287 f.). Man muß natürlich gerecht sein, denn nicht ohne Grund verweist v. Kardorff in ihrer wohl schon 1947/48 (oder erst 1962?) verfaßten Vorbemerkung darauf, daß sie selbstverständlich nicht so selbstmörderisch war, im Milieu des Dritten Reiches ihre oppositionellen, ja widerständlerischen Überlegungen bzw. gar Betätigungen niederzuschreiben: Die 1947 entstandenen »Aufzeichnungen« griffen auf Notizen in Taschenkalendern, auf Briefe und Tagebücher sehr privater Natur zurück. Die damit verbundene Behauptung »Nichts Neues, später Erfahrenes wurde eingefügt ...« (S. 33 f.) läßt sich allerdings relativ leicht widerlegen: So taucht z. B. unter dem 30. 11. 1944 (S. 265) die Zahl von 12 Millionen Fremdarbeitern in Deutschland auf – eine Zahl, die man 1944 nicht wissen konnte, die ohnehin falsch war, die aber im Nürnberger Prozeß genannt wurde, dem die Verfasserin der »Aufzeichnungen« bekanntlich als Reporterin beiwohnte. Wenn unter dem 15. 1. 1945 festgehalten wurde, die Russen hätten am 13. 1. die Stadt Oels bzw. das Gut Klein-Oels bei Breslau eingenommen, wo sie am 12. 1. doch überhaupt erst ihre Weichsel-Oder-Operation begonnen und am Folgetag gerade an einigen Stellen die deut- sche Front durchbrochen hatten – der 13. 1. also offenbar mit dem 13. 2. verwechselt, aber einer Aufzeichnung vom 15. 1. zugeordnet wurde –, dann leidet nicht nur die Authentizität, sondern überhaupt die Glaubwürdigkeit des Textes. Regelrecht makaber wird es bei den »Aufzeichnungen« zum 20. Juli 1944: Was in der publizierten Ausgabe dem 20. und 23. 7. 44 zugeordnet wird, entstammt einer Rückbesinnung, die dem Kardorff'schen Tagebuch zum ersten Jahrestag der Ereignisse anvertraut wurde (auch dieser Rückblick kann natürlich immer noch recht zuverlässig sein), verwendet auch authentische Tagebuch-Eintragungen vom 30. 12. 44 (einer Art Jahresrückblick), läßt aber wohlweislich den dort vorzufindenden Eintrag »diese ganze blöde Dilettanten-Revolution, die schon im Keim erstickt wurde« unter den Tisch fallen. Dann ist der Autorin aber bei der Benutzung ihrer Unterlagen am ersten Jahrestag mit einem Blick auf diese Passage wenigstens noch eingefallen, handschriftlich »Dieses aus Vorsicht so geschrieben« hinzuzufügen (S. 215): Was soll der Leser denn nun glauben? Und ähnlich steht es mit dem angeblichen Zitat einer Goebbels'schen Bemerkung über »leichtes Gepäck«, die in den »Aufzeichnungen« unter dem 1. 2. 1944 beim Verlust der zerbombten Wohnung auftaucht: das »leichte Gepäck«, mit dem man unbeschwerter kämpfe, hat der versoffene Arbeitsfront-Chef Robert Ley erfunden – aber erst im Frühjahr 1945. Wen wundert es da, wenn Herausgeber Hartl auch auf dieser Seite (S. 159) konstatieren muß: »Zur weiteren Eintragung unter diesem Datum kein Beleg in den Original-Aufzeichnungen.«
     Einen tiefen Einblick in die wirkliche Gedankenwelt der 1947 aus den manipulierten »Aufzeichnungen« erstehenden, 1937 bis 1945 bei einem Sprachrohr der NS-Politik tätigen vorgeblichen Anti-Nazi-Journalistin v. Kardorff vermittelt die von Hartl mitgeteilte Tagebucheintragung vom 22. 5. 1945 (also zwei Wochen nach der deutschen Totalkapitulation!), die über Berlin sinniert, daß von dort »nur
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ganz spärliche und billige Propaganda« über die Sowjetsender in die ländliche süddeutsche Abgeschiedenheit dringe und den Alliierten böse anrechnet, daß sie alles einzustecken scheinen, »was ihnen Stalin bietet, sie haben jetzt auch schon auf eine gemeinsame Besatzung verzichtet« (welche Latrinenparole man natürlich den Amerikanern 1947/48 selbst nicht mehr als einstige kurzzeitige Schreckensvision anbieten konnte!!): »Es gibt nur eine Hoffnung, daß die Spannung zwischen Sowjets und den Alliierten so zunimmt (Triest), daß bald ein Krieg kommt. Ein Wunschtraum, unsere Soldaten mit ihrer Erfahrung und amerikanischer Ausrüstung und englische Luftwaffe! Das wäre wohl ein Ziel, ich würde sofort mitmachen, als was auch immer, denn diese rote Pest in Deutschland ist zu gefährlich.« (S. 328) Da scheint die Indoktrinierung der angeblich so distanziert zu den Vorgaben des Propagandaministeriums stehenden DAZ-Mitarbeiterin doch von erheblicher Wirkung gewesen zu sein, wenn sie selbst nach der totalen Niederlage noch den Hitler-Himmler-Goebbels-Faden weiterspinnt, der aus dem Zusammenbruch der Anti-Hitler-Koalition noch einen Ausweg für das Dritte Reich erhoffte. Oder schlugen sich da Erinnerungen an Diskussionen mit Personen aus dem Umkreis der Verschwörer vom 20. Juli nieder, wo bekanntlich auch eine Fraktion vertreten war, die sich die nächste Zukunft nach dieser Richtung hin ausmalte?
     Aus den »Aufzeichnungen« durchweg getilgt ist 1947 auch der von Hartl mehrmals im Kardorff'schen Tagebuch gefundene Ausdruck »plutokratisch«– ein typischer Bestandteil der NS-Indoktrination, darauf gemünzt, die westlichen Demokratien als pure Herrschaft des (implizit jüdischen) Geldsacks zu denunzieren – übrigens eine Achillesferse für ideologische Anfälligkeit des ostelbisch-adlig geprägten Gedankenguts, das generell im Bürgertum nicht die für die Führung der Nation notwendigen Tugenden vertreten sah.
     Hartl hat neben der kritischen Nebeneinander-
stellung von apologetischem und wirklichem Text der Ursula von Kardorff nicht nur einen konkreten Beitrag zu einer interessanten Facette menschlichen Geistes geliefert, der sich seit jeher über eine Autobiographie abmüht, sein Selbstverständnis vom eigenen Ego in ein mehr oder minder großes Publikum zu transportieren – er hat auch dankenswerterweise ohne große Worte den Quellenwert von Autobiographien problematisiert: Das ist immer ganz besonders in einer Zeit vonnöten, in der kollektive Verdrängung angesagt ist und modisch vermarktet wird. Skeptisch muß der Historiker a priori besonders dann sein, wenn ihm im Kontext solcher Rechtfertigungsschriften viele Jahre später aus dem Gedächtnis ausgegrabene wörtliche Aussprüche begegnen. Wie mögen wohl immer wieder als sakrosankt zitierte autobiographische Standardwerke bestehen können, wenn sie mit der Hartl'schen Methode kritisch kommentiert erscheinen könnten? Dank gebührt dem Herausgeber übrigens nicht zuletzt für seine exakten Erklärungen der den Nachgeborenen nicht mehr verständlichen Begriffe oder gar 1942–1945 alltäglich gebräuchlicher Abkürzungen, die heutigen Zeitgenossen verschlossen bleiben müssen.
     Alles in allem: Nach der Hartl'schen Ausgabe dürften die »Berliner Aufzeichnungen 1942 bis 1945« eigentlich ihr Leben als authentische Milieuschilderung weitestgehend ausgehaucht haben. Es muß eine gewisse Bequemlichkeit vorliegen, wenn man ihnen und ihrer Verfasserin dennoch in der Berliner Presse und einschlägigen Veröffentlichungen immer mal wieder so begegnet, als fände man darin die Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Auch Wahrheit ist zweifellos zu finden – aber dank Peter Hartl kann man sich seit 1992 der Mühe unterziehen, sie von der Dichtung zu trennen. Sie sei hiermit empfohlen.
Kurt Wernicke
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Antje Küpper,
Berliner Museumsführer

Gebrauchsanleitung für neue Freizeiterlebnisse

L & H Verlag, Hamburg, 4. Aufl. 1997

Bei der großen Zahl von Museumsführern, die uns im Buchhandel und Museums-Shops begegnen, spricht es für die Qualität einer solchen Publikation, wenn sie schon in vierter Auflage erscheint. Verglichen mit den vorangegangenen Auflagen, ist allerdings die Ausstattung opulenter geworden: Die vorliegende ist erstmals komplett vierfarbig gestaltet. Übersichtliche Karten, eine orientierungserleichternde farbliche Abstimmung für die einzelnen Abschnitte, ein ausgesprochen benutzerfreundliches Inhaltsverzeichnis (das zugleich als Register dient – warum können eigentlich die Register wissenschaftlicher Bücher nicht so leserfreundlich sein und sowohl »Galerie der Romantik« wie auch »Romantik, Galerie der« anbieten?) zählen zu den empfehlenswerten Vorteilen dieses Museumsführers. Die Gliederung in fünf regionale Museumsbereiche (Mitte mit Museumsinsel; Charlottenburg mit Museumsquartier; Tiergarten mit Kulturforum; Zehlendorf mit Museumskomplex Dahlem; sonstige Bezirke) dient in erster Linie Berlin-Besuchern, die auf diese Art tageweise Museumslandschaften zum Abklappern einplanen können. Die Informationen zu den vorgestellten musealen Einrichtungen sind jeweils insofern ausreichend, als sie ganz offenbar darauf verzichten, die Selbstbespiegelung der jeweiligen Institution widerzugeben, sondern auf eigenem Augenschein beruhen. Sehr vorteilhaft hebt sich von ähnlichen Handbüchern auch das Bemühen ab, die erst 1998 eintretenden Veränderungen in der Museumslandschaft bereits jetzt aufzunehmen.
     Etwas hochgestochen erscheint dem Rezensenten die namentliche Benennung der einzelnen Muse-

umsleiter: Diese Namen könnten schon im nächsten Jahr obsolet sein ...
     Keine Erklärung findet sich rational für die Unterscheidung in beschriebene Museen einerseits und unter der Rubrik »Auch durchaus sehenswert« (S. 242 ff.) nur benannte andererseits. Die Auswahl der Beschriebenen im Gegensatz zu etlichen der bloß Benannten kann einfach nicht gedeckt sein durch das selbstbewußte Bekenntnis in der Vorbemerkung »Vorweg«, daß dieser Führer bewußt die sehens- und erlebenswerten Museen herausstelle: »So sind die Museen, die wir beschreiben, die erlebnisreichsten, wichtigsten, wertvollsten, die didaktisch und wissenschaftlich am besten aufbereiteten.« (S. 20) Dieser Anspruch korrespondiert keineswegs mit der merkwürdigen Tatsache, daß Ephraimpalais und Gründerzeitmuseum Mahlsdorf unter »Auch durchaus sehenswert« rangieren, aber »Das stille Museum« in der Linienstraße und das »Museum der verbotenen Kunst« im Schlesischen Busch (die ganz deutlich nur den Charakter allenfalls diskutabler Galerien haben) zu den im Zitat charakterisierten gerechnet werden. Völlig daneben liegt die dummdreiste Pflichtübung im Rahmen der offenbar allgegenwärtigen und in vorauseilendem Gehorsam stets abgearbeiteten »Delegitimierungs«-Vorgabe, die auf S. 169 im Zusammenhang mit der Vorstellung des Wassersportmuseums Grünau unter Bezugnahme auf Werner Philipp einbringt, »daß Rudern, Segeln und Kanu als bürgerliche Sportarten in der DDR verpönt waren«. Diese denunziatorische Entgleisung, von der sich auch der angeführte Gewährsmann distanziert, sei der Öffentlichkeit – und namentlich den Hunderttausenden Wassersporttreibenden der DDR, Freizeitwie Leistungssportlern – zur verdienten Abstrafung mittels homerischen Gelächters übergeben.
Kurt Wernicke
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