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ja sogar mit militärischen Aktionen rechnete man. In dieser kritischen Zeit machte ein Satz Schlagzeilen: »Berlin ist nicht Prag!« Was war damit gemeint? Warum rückte der kleine zentraleuropäische Staat auf einmal in den Mittelpunkt der Weltpolitik?
     Die Tschechoslowakei, die am 9. Mai 1945 ihre nationale Wiedergeburt erlangte, stand damals vor einer historischen Entscheidung. Im sowjetischen Einflußbereich gelegen und somit der beginnenden Stalinisierung ausgesetzt, erhofften viele als ein Gegengewicht eine enge politisch-ökonomische Bindung an den Westen. Ihre Blicke richteten sich auf den Marshall-Plan. Die Prager Regierung wollte die Einladung der USA zur Pariser Wirtschaftskonferenz im Juli 1947 annehmen. Doch Stalin untersagte das rigoros, sich auf ein Bündnis von 1943 berufend. Wenn es um die Vasallentreue der osteuropäischen »Volksdemokratien« ging, reagierte der Kremlchef außerordentlich hart. Kommunistenführer wie Gomulka in Polen oder Tito in Jugoslawien wurden gnadenlos verstoßen, wenn sie in den Verdacht gerieten, auch nur die leisesten nationalen Gefühle zu hegen. Noch waren die inneren Machtverhältnisse in der Tschechoslowakei nicht entschieden. Aus den Parlamentswahlen vom Mai 1946 gingen die Kommunisten zwar mit 38 Prozent Stimmenanteil als stärkste Partei hervor und stellten mit ihrem Parteivorsitzenden
Gerhard Keiderling
»Berlin ist
nicht Prag«

Die Weichenstellung im März 1948

Das Jahr 1948 begann mit einer Serie dramatischer Ereignisse, die erahnen ließen, daß es zu einem europäischen Schicksalsjahr werden würde. Das Scheitern der V. Ratstagung der Außenminister der vier Siegermächte im Dezember 1947 in London signalisierte den bevorstehenden offenen Bruch zwischen den Alliierten von gestern. Wie gebannt blickte die Weltöffentlichkeit auf das Vier-Zonen-Deutschland, wo für die nächsten Monate ein offener Konflikt erwartet wurde. Prophetisch schrieb die »New Herald Tribune« am 20. Dezember 1947: »Wir sind am Ende der Straße angelangt. Das Zeitalter Jalta ist vorbei. Die Aufteilung Deutschlands wird uns freie Hand geben, Westdeutschland in ein System der Westmächte einzubauen.«
     Am 23. Februar 1948 begannen in London Verhandlungen der drei Westmächte unter Einbeziehung der Benelux-Länder über eine langfristige Deutschlandlösung ohne die Sowjetunion – und das bedeutete die Teilung Deutschlands auf nicht absehbare Zeit. Mit östlichen Gegenmaßnahmen,

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Klement Gottwald den Ministerpräsidenten. An der Regierung waren aber auch die Sozialdemokraten – ihre Zwangsvereinigung mit den Kommunisten erfolgte im Juni 1948 – und drei bürgerliche Parteien beteiligt.
     Anfang 1948 spitzten sich die inneren Auseinandersetzungen um den künftigen Weg des Landes zu. Am 20. Februar 1948 traten 12 bürgerliche Minister demonstrativ von ihren Ämtern zurück und lösten damit eine Regierungskrise aus. Da ihrem Beispiel die sozialdemokratischen und unabhängigen Minister nicht folgten, behielt Ministerpräsident Gottwald eine arbeitsfähige Mehrheit. Die Kommunisten nutzten die Situation sofort, um die Machtfrage definitiv für sich zu entscheiden. Auf Massenkundgebungen im ganzen Lande ließen sie Resolutionen annehmen, die ihnen das volle Vertrauen aussprachen und eine Rückkehr der bürgerlichen Minister in die Regierung ausschlossen. Am 25. Februar 1948 beugte sich Staatspräsident Edward Benesch dem Druck der Straße. Damit war innenpolitisch der Weg zur forcierten Sowjetisierung frei und außenpolitisch die Zugehörigkeit des Landes zum »Lager des Friedens und des Sozialismus« unabänderlich entschieden.
     Die dramatischen Februartage in Prag wurden im Westen aufmerksam verfolgt. Obwohl man sich im Grunde mit der Zugehörigkeit der Tschechoslowakei zu Stalins
Imperium seit längerem abgefunden hatte, löste der »Coup d'Etat« dennoch Bestürzung und Ängste aus. Verständlicherweise verstärkte es den Schock, als bekannt wurde, daß der parteilose Außenminister Jan Masaryk, Sohn des Staatsgründers der ersten Tschechoslowakischen Republik, unter mysteriösen Umständen bei einem Sturz aus dem Fenster seiner Dienstwohnung in den Hof des Czerninpalais am 10. März 1948 ums Leben gekommen war. Masaryk galt als Freund des Westens.
     Sein Tod veranschaulichte besser als alles andere, was in Prag geschehen war.

Angst vor Erschütterungen
in Frankreich und Italien

In Washington waren die Meinungen über den Prager Staatsstreich geteilt. Aufgeschreckt durch Stalins Brutalität, glaubten die einen, Zeichen gesteigerter Aggressionslust der Sowjets zu erkennen. Andere hingegen sahen nur eine Arrondierung deren Besitzstandes. Gemeinsam war ihnen die Besorgnis, es könnte in Westeuropa, besonders in Frankreich und Italien, durch kommunistische Aktionen zu Erschütterungen kommen. Schließlich standen hier zu Beginn des Jahres 1948 einige Grundentscheidungen an: der Schulterschluß zwischen den USA und den westeuropäischen Demokratien, die Vorbereitungen zu einem nordatlantischen Militärbündnis, die Bildung

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eines westdeutschen Staates und seine Integration in den Westblock.
     Am 23. Februar 1948 begann in London die Sechs-Mächte-Konferenz über Westdeutschland, Anfang März in Brüssel die Konferenz über die Schaffung einer Westunion, gleichzeitig bereiteten die USA Gespräche zu einem nordatlantischen Militärpakt vor. Alles Maßnahmen, die eine Einheitsfront der westeuropäischen Demokratien zusammenschweißen und die Sowjetunion isolieren und einschüchtern sollten. Die Errichtung eines modernen Limes, für den der britische Ex-Premier Churchill die Bezeichnung Eiserner Vorhang geprägt hatte, war das Ziel der westlichen Bollwerkbildung (Containment) gegenüber dem sowjetischen Totalitarismus.
     Wie eine Bombe schlug in Washington ein Telegramm ein, das der USA-Militärgouverneur in Deutschland, General Lucius D. Clay, am 5. März 1948 an den Chef des Nachrichtendienstes der Armee, Generalleutnant Stephen J. Chamberlin, gerichtet hatte. Unter Bezugnahme auf die jüngsten Ereignisse schrieb Clay: »Seit vielen Monaten habe ich aufgrund logischer Analyse die Meinung vertreten, daß Krieg mindestens für die nächsten zehn Jahre unwahrscheinlich sei. Im Laufe der letzten Wochen habe ich jedoch eine subtile Veränderung im sowjetischen Verhalten festgestellt, die ich zwar nicht definieren kann, die mir
aber das Gefühl gibt, daß er (der Krieg, G. K.) mit dramatischer Plötzlichkeit kommen kann.«1)
     Für George F. Kennan, den Chefplaner im Außenministerium und einen der besten Sowjetunion-Kenner, war Clays Telegramm eine horrende Fehleinschätzung. Wie er in seinen Erinnerungen schreibt, machte er, als ihm auf einer Fernost-Reise der Bericht vorgelegt wurde, sofort Einwände geltend, doch es sei zu spät gewesen: »Washington, und zwar insbesondere der militärische Apparat und die Fraternität der Nachrichtendienste (in denen das Militär den Ton angab) hatten auf die Kombination von Clay-Telegramm und Prager Coup bereits auf die bedauerlichste Weise reagiert. Das Ergebnis war eine regelrechte Kriegspsychose.«2)
     In den Staaten wie auch in Westeuropa schürten die Medien das »Gefühl« eines bevorstehenden Krieges. Überängstliche Journalisten sahen schon die »russische Dampfwalze« auf sich zurollen. Das eigentlich Besorgniserregende lag darin, daß
das offizielle Washington von dieser Auffassung überzeugt schien. Am 9. März 1948 forderte der Stabschef der US-Marine, man müsse die Nation auf einen Krieg vorbereiten. Am 13. März empfahlen die Vereinigten Stabschefs die Wiedereinführung der Wehrpflicht und die Übergabe der Atomwaffen in die Verwahrung der Militärs.
     Am 16. März informierte die CIA den Präsi-
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denten, daß nach ihrer Einschätzung ein Krieg »innerhalb von sechzig Tagen nicht wahrscheinlich« sei, was die Luftwaffe aber für bedenklich hielt. Daraufhin sicherte Präsident Truman in seiner Rede vor beiden Häusern des Kongresses am 17. März, in der er den an diesem Tag in Brüssel unterzeichneten »Westunion«-Vertrag begrüßte, allen »freien Nationen« jede Unterstützung vor totalitärer Bedrohung zu. Ein Memorandum des Nationalen Sicherheitsrates der USA vom 30. März schlußfolgerte: »Die Niederschlagung der Kräfte des sowjetisch gelenkten Weltkommunismus ist für die Sicherheit der Vereinigten Staaten lebenswichtig. Dieses Ziel kann durch eine defensive Politik nicht erreicht werden.«3)
     Auch die Briten steigerten sich in eine hysterische Kommunistenfurcht hinein.
Außenminister Ernest Bevin nannte die Prager Ereignisse eine »Bedrohung der
westlichen Zivilisation« durch die Sowjetunion. Und in Paris erklärte Pierre Mendès-France, der spätere Premierminister, freiweg: »Je mehr wir mit der>kommunistischen Gefahr< angeben, um so mehr Dollars bekommen wir.«4)
     Noch immer ist rätselhaft, wie Clay zu seiner Alarm-Einschätzung der Lage gekommen war, zumal er in besagtem Telegramm selbst einräumte, daß er seine Prognose »rational mit Fakten oder äußeren Beweisen nicht belegen« könne. In einem anderen Telegramm vom gleichen Tage teilte er
mit, die Lage in Berlin sei ruhig und »das amerikanische Personal fühlt sich hier so sicher wie zu Hause«.5) In der Fachliteratur wird gemutmaßt, er sei überzogenen Berichten der Organisation Gehlen – seit Mitte 1946 arbeitete der ehemalige Wehrmachtsgeneral Reinhard Gehlen mit seinem Nachrichtenstab von Pullach bei München aus für die Amerikaner – aufgesessen oder das Telegramm sei vom Armee-Nachrichtendienst in Washington bestellt worden, um die geplanten Rüstungs- und Verteidigungsmaßnahmen im Kongreß leichter durchpeitschen zu können.

Die Hysterie sprang
auf Deutschland über

Wie dem auch immer sei, die vom Clay-Telegramm ausgelöste Hysterie der moralischen Aufrüstung und die Hektik der offiziellen Politik im Westen sprang auf Deutschland über. Der britische Militärgouverneur General Sir Brian H. Robertson warnte, wenn man die Russen weiterhin mit Samthandschuhen anfasse, »könnten wir eines schönen Morgens aufwachen und Hammer und Sichel bereits am Rhein vorfinden«.6)
     Auch die demokratischen Kräfte in Berlin waren alarmiert. Jakob Kaiser, den die Sowjets im Dezember 1947 brutal als CDU-Vorsitzenden in der SBZ abgesetzt hatten, erklärte auf einer Kundgebung in der

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Neuen Welt an der Hasenheide (Neukölln) am 6. März 1948, der Berliner CDU fiele die Aufgabe zu, Wellenbrecher gegen das kommunistische System zu sein. Am 12. März hielt Willy Brandt, vor kurzem erst in die Berliner Sozialdemokratie zurückgekehrt, vor Parteifunktionären ein Grundsatzreferat zur Lage. Aus den Prager Ereignissen zog er das Fazit: »Die Hoffnung, eine Vermittlerrolle zwischen dem Osten und Westen spielen zu können, ist zerplatzt. Von der Brückentheorie ist nichts mehr übriggeblieben.«7)
     Für die Christ- wie auch für die Sozialdemokraten bedeutete diese Erkenntnis eine Wendemarke. Hatten sie sich bislang an einer Brückenfunktion zwischen Ost und West orientiert, so sahen sie sich von nun an einer offenen Konfrontation gegenüber, die klare Entscheidungen abverlangte.
     Die vor allem bei Sozialdemokraten verbreitete Auffassung von Berlin als einer »fünften Besatzungszone«, in der man Sozialisierungs-Modelle praktizieren könne, paßte nicht länger in die veränderte politische Landschaft.
     Im Frühjahr 1948 standen die Zeichen auf Sturm. Der Kampfruf »Prag ist nicht Berlin« mobilisierte den Widerstand.

Quellen:
1      Lucius D. Clay: Entscheidung in Deutschland, Frankfurt am Main 1950, S. 393
2      George F. Kennan: Memoiren eines Diplomaten, Bd. 2, München 1971, S. 401
3      Bernd Greiner/Kurt Steinhaus: Auf dem Weg zum 3. Weltkrieg? Amerikanische Kriegspläne gegen die UdSSR. Eine Dokumentation, Köln 1981, S. 127
4      Alexander Werth: Der zögernde Nachbar. Frankreich seit dem letzten Weltkrieg, Düsseldorf 1957, S. 269
5      The Papers of General Lucius D. Clay. Germany 1945–1949, Bloomington-London 1974, Bd. II, Nr. 339, S. 566
6      Rolf Steininger: Deutsche Geschichte 1945–1961. Darstellung und Dokumente in zwei Bänden, Bd. 2, Frankfurt am Main 1983, S. 287
7      Willy Brandt: Mein Weg nach Berlin. Aufgezeichnet von Leo Lania, München 1960, S. 224

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