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Herbert Schwenk
Der Verfasser des »Pfaffenspiegels«

Berlin um 1828, Kadettenanstalt in der Neuen Friedrichstraße 13. Wo sich in der heutigen Littenstraße 13–17 das imposante Justizgebäude des ehemaligen Stadtgerichts erhebt, stand damals das 1720 unter dem »Soldatenkönig« Friedrich Wilhelm I. (1688–1740, König seit 1713) eingerichtete, 1776–1779 umgebaute und 1817 erweiterte Kadettenhaus. Etwa 50 Lehrer sowie »Unterricht gebende Offiziere und Repetenten« lehrten in jener Zeit 300 Kadetten. Auf dem Stundenplan der zweiten Klasse stand neuere Geschichte. Während Lehrer Dr. Löbell Namen und Jahreszahlen abfragte und einem besonders aufgeweckten Halbwüchsigen gerade den Rücken kehrte, notierte dieser die richtigen Antworten mit Kreide auf seine Schiefertafel und hielt sie in solidarischer Verbundenheit mit seinen faulen Kameraden in die Höhe. Dr. Löbell ahnte zwar die »Telegrafie« hinter seinem Rücken, konnte aber den »Vorsager« auf frischer Tat nicht ertappen. Lehrer Löbell drehte sich um und rief: »Hier in dieser Klasse herrscht ein merkwürdiger Geist der Opposition, und Sie sind ihr Haupt!«1) Wütend zeigte er dabei auf den Kadetten Otto von Corvin. Etwa ein-

einhalb Jahrzehnte später sollte dieses damals erst 16jährige »Haupt der Opposition« ein Buch auf den Markt bringen, das Dutzende von Auflagen mit weit über einer Million Exemplaren erleben, zu einem Bestseller ersten Ranges werden und Begeisterung auf der einen sowie Entsetzen auf der anderen Seite auslösen sollte: der »Pfaffenspiegel«, der zunächst unter einem anderen Titel erschien. Und jener »Opponent« sollte viele große Abenteuer auf vielen Schauplätzen der Welt überleben. Otto von Corvin, der von Berlin begeistert war, durfte aber immer nur »Berliner auf Zeit« sein. Allzugern wäre er nach seinen Kadettenjahren und auch bei seinen häufigen späteren Aufenthalten in Berlin geblieben (so 1832, 1840, 1848, 1867, 1869, 1871 und 1873), allein die äußeren Verhältnisse und die in seinem Wesen begründete Unstetheit trieben ihn immer wieder von Berlin fort – nach Sachsen, Süddeutschland, Thüringen, Amsterdam, London, Paris und sogar Amerika ...
     Otto Julius Bernhard von Corvin wurde am 12. Oktober 1812 als Sproß einer Aristokratenfamilie im ostpreußischen Gumbinnen geboren. Seine Vorfahren väterlicherseits entstammten zwar einem vielverästelten alten polnischen Adelsgeschlecht (worauf übrigens auch sein vollständiger Name Corvin-Wiersbitzki, polnisch »Wiersbicki«, hindeutet), verdienten sich jedoch ihre Sporen beim preußischen Militär – bis hin zum Generalsrang des Großvaters. Otto
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war das jüngste Kind des Rittmeisters und späteren Postdirektors von Gumbinnen Friedrich August Heinrich von Corvin-Wiersbitzki und dessen wesentlich jüngerer, sehr hübscher Ehefrau, die sogar König Friedrich Wilhelm III. (1770–1840, König seit 1797) an seine verstorbene Frau Luise (1776–1810) erinnert haben soll. Aber die Ehe war nicht von Bestand. Otto erlebte in seiner frühen Kindheit manche zügellose Eskapade im väterlichen Haus in Ostpreußen, was nicht ohne Einfluß auf das Leben des späteren Weltenwanderers und Weltverbesserers bleiben sollte. Schließlich ließ sich Ottos Mutter wegen des großen Altersunterschieds und der konträren Anschauungen, die sich in vielen Dingen des Alltags auftaten, besonders aber wegen der lockeren Lebensweise ihres Mannes scheiden und heiratete den Gymnasiallehrer Dr. Johann Bernhard Thiersch. Beide lebten zunächst in Halberstadt und später in Dortmund. Nach dem Tod des Vaters 1822 holte die Mutter ihren Sohn nach Halberstadt. Nach zweijährigem Besuch des Domgymnasiums erwirkte sie die Aufnahme Otto von Corvins in das Kadettenkorps zu Potsdam, von wo aus er vorschriftsmäßig 1827 in die Hauptkadettenanstalt nach Berlin versetzt wurde. Später bezeichnete Corvin die Kadettenjahre als seine glücklichsten. Dazu trug wesentlich der Einfluß der verwitweten reichen Schwester seines Vaters bei, die der Kadett in Berlin häufig besuchte. Sie führte ihn in die aristokratischen Salons ein, was erheblich Corvins Urteil über die politischen und sozialen Verhältnisse in Berlin schärfen half. Nachdem der 17jährige im August 1830 sein Leutnantspatent erhalten hatte, sollte sich sein Wunsch nach einer Anstellung in Berlin nicht erfüllen: Er wurde einem Infanterie-Regiment in der Festung Mainz zugeteilt. Das fröhliche Garnisonstreiben konnte nicht verhindern, daß Corvins feudales Standesbewußtsein und seine anfängliche Begeisterung für den Offiziersberuf brüchig wurden. Unter dem Einfluß der französischen Julirevolution von 1830 und des demokratischen Hambacher Festes von 1832 wandelte er sich Zug um Zug zum liberalen Demokraten. Die Verlegung in die kleine Grenzfestung Saarlouis, die Freundschaft mit dem Publizisten Friedrich von Sallet (1812–1843), die Bekanntschaft mit dem Revolutionär in spe Friedrich Wilhelm Held (1813–1872) und nicht zuletzt die Liebe zur 16jährigen Helene, seiner späteren Frau, gaben letzte Anstöße, den Offiziersberuf 1835 zu quittieren. »O goldene, goldene Freiheit! rief ich halb seufzend, halb lachend ... Selbst geldlose Freiheit erschien mir ein berauschendes Glück, und schaudernd gedachte ich der ledernen Gamaschenknechtschaft, der ich soeben entflohen war.«2)
     Der 22jährige begann einen neuen Lebensabschnitt: Er wurde Literat. Die ersten mehr oder weniger skurrilen Versuche,
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zum Beispiel »Briefe vom Mond«, brachten wenig Erfolg. Günstiger verlief die »Vermarktung« seiner exzellenten Schwimmfähigkeiten, die ihm schon in Saarlouis die Aufsicht über das Militärbad eingebracht hatten und nun zur Abfassung eines gefragten Lehrbuches »Anweisung zur Erlernung der Schwimmkunst« führten. Übrigens rief er Jahre später (1842), gemeinsam mit einem Freund, auf den Leipziger Elsterwiesen die erste dortige Schwimmanstalt ins Leben. Nachdem sich Corvin 1837 in Frankfurt am Main niedergelassen und 1839 Helene geheiratet hatte, war er auch in seiner praktisch-literarischen Tätigkeit erfolgreich. Er brachte das erste deutsche Tages-Jagd-Fachblatt »Der Jäger« und die Monatsschrift für Pferdezucht und Pferdesport »Der Marstall« heraus. Über mehrere Stationen führten ihn seine Aktivitäten nach Leipzig, wo das Ehepaar bis 1847 lebte. In der Metropole
des deutschen Buchhandels dehnte Corvin seine literarischen Aktivitäten aus. In dem von ihm mitbegründeten ersten deutschen Literatenverein kam er in Berührung mit zahlreichen Persönlichkeiten des Vormärz, darunter Friedrich Gerstäcker (1816–1872), Adolf Glaßbrenner (1810–1876), Hoffmann von Fallersleben (1798–1874), Georg Herwegh (1817–1875) und Robert Blum (1807–1848). In Leipzig vertiefte sich auch die Freundschaft mit Friedrich Wilhelm Held, der gleichfalls den Offiziersdienst quittiert hatte. Gemeinsam brachten sie
»Die Lokomotive« heraus, das als erstes deutsches politisches Volksblatt mit liberaler Tendenz gilt und immerhin vor dem bald folgenden Verbot 15 000 Abonnenten erreichte. Hinzu kam die von beiden zwischen 1844 und 1851 herausgegebene vierbändige »Illustrierte Weltgeschichte« (2. Auflage in acht Bänden, 1880 bis 1884) sowie weitere Publikationen und die Mitarbeit an zahlreichen Journalen.
     Vor allem aber entstand in jener Zeit des Vormärz-Schaffens das bekannteste Werk Corvins: die 1845 in Leipzig in einer Auflage von 3 000 Exemplaren veröffentlichten zwei Bände »Historische Denkmale des christlichen Fanatismus«, die er über zwei Jahrzehnte später neu bearbeitete und die 1869 in Stuttgart in zweiter Auflage unter dem Titel »Pfaffenspiegel« erschienen, was dem Autor bis in unsere Tage den Weltruf des »Pfaffenspiegel-Corvin« einbrachte. Schon in der Vorrede zur ersten Auflage dieser klassischen Streitschrift über die Mißbräuche des Katholizismus lief Corvin die Galle über: »Man schämt sich ein Mensch zu sein, wenn man überdenkt, durch welche Mittel es den Päpsten gelang, die Geister der Menschen in das Joch zu schmieden ... Mit der schamlosesten Frechheit wurde die dummgläubige Christenheit geplündert, denn Geld! Geld! war die Losung Roms. Scharen feister Mönche und Nonnen mästeten sich von dem sauer erworbenen Sparpfennig der Armen ... «3) Corvins Kritik am
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Katholizismus ist total und vernichtend. Er stützte sich ausschließlich auf historische Tatsachen, welche entweder direkt nur römisch-katholischen Schriftstellern oder Werken entnommen waren, die es seit Jahren in Deutschland gab. Niemals zuvor war dem »tollen Pfaffenwesen« eine so umfassende und gedrängte Bilanz seiner Fehltritte als »Spiegel« vorgehalten worden. »Es ist meine ehrliche und aufrichtige Meinung, daß das Christentum unendliches Elend über die Welt gebracht hat!« Gutes und Böses stünden in gar keinem Verhältnis. Die sieben Kapitel seines Buches enthalten – neben Einzelheiten aus der Geschichte des Christentums – eine erdrückende Fülle von Beispielen des Fehlverhaltens der römisch-katholischen Kirche aller Art und aller Zeiten. So entlarvt er im III. Kapitel den Widersinn der »Reliquienverehrung« und im IV. Kapitel

Eigennutz und Selbstgefälligkeit des Papsttums als »Statthalterei Gottes in Rom«: Es sei seine Absicht, »zu zeigen, daß das Papsttum auf den gröbsten Betrug gegründet ist, welche nichtswürdigen Wege die Päpste einschlugen, welche verbrecherischen Mittel sie anwendeten, sich die Welt tributpflichtig zu machen, und welchen moralischen Wert die Menschen hatten, welche von der römischen Kirche als >Statthalter Gottes< an ihre Spitze gestellt wurden«. 4) Vielfältige römisch-katholische Mißbräuche und Ausschweifungen erfährt der Leser in den Kapiteln V bisVII: »Sodom und Gomorrha«, »Die Möncherei« und »Der Beichtstuhl«. Der »Pfaffenspiegel«, der schon 1891 seine siebente Auflage erlebte, brachte Corvin Schmähungen aus dem Lager jener, denen er den »Spiegel« vorgehalten hatte, aber auch begeisterte Zustimmung beim breiten Publikum der Leser


Otto von Corvin
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sowie der Presse ein, die sein Buch »ganz außerordentlich günstig aufgenommen (hatten), wenn auch einige zart besaitete Kritiker meine Sprache hin und wieder zu offen und derb fanden« (Vorrede zur fünften Auflage, 1885).
     Zum Erfolg seines literarischen Schaffens in der Ära des Vormärz gesellte sich übrigens ein Erfolg ganz anderer Art. Corvin erfand 1846 zufällig, als er nach einer Methode suchte, die »Weltgeschichte« mit besseren und billigeren Illustrationen auszustatten, ein neues technisches Verfahren. Es handelt sich dabei um eine neuartige Verzierung von Metallarbeiten, z. B. Tischplatten, Möbeleinlagen, Buchdeckel. Dabei klebt man die einzulegenden Stücke (Perlmutter, Steine oder andersfarbige Metalle) auf eine Metallplatte, macht das Ganze durch Aufbürsten von Graphit leitend und bringt es in einen galvanoplastischen Apparat, in dem abscheidendes Metall allmählich die aufgeklebten Stücke einhüllt und so eine anspruchsvolle Verzierung entsteht. Dieses Verfahren erhielt nach seinem Erfinder den Namen »Corviniello«.
     Die nächsten Lebensstationen Otto von Corvins standen im Zeichen zweier großer gesellschaftlicher Ereignisse auf zwei Kontinenten: der 48er Revolution in Europa und des Bürgerkrieges 1861–1865 in Nordamerika (Sezessionskrieg). Aus dem einstigen preußischen Offizier war inzwischen ein kritischer Publizist und revolutionärer Demokrat ge-
worden, der große Hoffnungen in die bürgerliche Revolution setzte. »Das Bekanntwerden mit den Werken großer und vorurteilsfreier Schriftsteller, das Studium der Geschichte, eigenes Nachdenken und einiges Talent zur Beobachtung« hatten gravierend auf das »Thermometer« seiner Ansichten gewirkt und schließlich zum gänzlichen Bruch mit aristokratischer Standessympathie und -gesinnung geführt. »Dieser gesunde Menschenverstand ist seitdem mein einziger Führer durch das Leben gewesen«, 5) resümierte er am Vorabend der Revolution. Die Februarrevolution, die Corvin in Paris überraschte, sah ihn auf den Pariser Barrikaden. Später floh er auf abenteuerlichem Wege, wirkte im Dreiländereck Frankreich/Schweiz/Deutschland als revolutionärer Agitator und Chef des Generalstabs einer
deutschen Legion, die prompt im April 1848 aufgerieben wurde. Nach dem Zusammenbruch der ersten Phase des badischen Aufstandes begab sich Corvin im Oktober 1848 zu einem »Zwischenspiel« nach Berlin, wo der Märzaufstand ebenfalls versandet und die Reaktion wiedererstarkt war. In politisch gespannter Situation versuchte er, sich zusammen mit F. W. Held eine neue literarische Existenzgrundlage aufzubauen und zugleich – trotz mehrfachen Aufenthaltsentzugs – als »Achtundvierziger« im Bürgerwehr- und Sozialverein zu agitieren. Im Mai 1849 wurde er nach Ausbruch neuer revolutionärer Aktionen in Sachsen aus
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Berlin ausgewiesen. Ende Mai eilte Corvin erneut nach Baden, kämpfte an führender Stelle im badischen Revolutionsheer und erlebte Ende Juni die erneute Niederlage, als die von der preußischen Armee eingeschlossene Festung Rastatt am 23. Juli kapitulieren mußte. Otto von Corvin wurde gefangengenommen und am 15. September 1849 »mit fünf Stimmen gegen eine zum Tode durch Erschießen und in die Kosten verurteilt«. Er durchlebte die Talsohle seines Lebens. »Ich war auf den Tod gefaßt, allein jedes lebende Wesen sträubt sich dagegen ... »6) Corvin wurde begnadigt, das Todesurteil in zehnjährige Festungshaft umgewandelt und schließlich auf sechs Jahre Einzelhaft im Zuchthaus reduziert. Die Strafe verbüßte der »Rastatter Märtyrer« bis zur letzten Minute in Bruchsal, vom 2. Oktober 1849 bis zum 2. Oktober 1855. Die Kerkerhaft hatte ihn zwar körperlich geschwächt und völlig mittellos gemacht, aber nicht geistig brechen können. Als er nach der Haftentlassung die ersten Kinder sah, wurde ihm so recht bewußt, nicht umsonst gelitten zu haben: »Diese Kinder waren geboren, während ich im Grabe lag; sie hatten keine Ahnung davon, daß wir für sie gekämpft und gelitten hatten, daß sie die Früchte der Freiheitssaat mit genießen würden, die mit dem Blut der edlen Märtyrer von 1848 und 1849 eingesät wurde. Ich konnte dem Verlangen nicht widerstehen, eines dieser Kinder zu herzen und zu küssen ...« 7) Zusammen mit seiner Ehefrau mußte Otto von Corvin eiligst Baden verlassen. Als »staatsgefährdendes Subjekt« vom Berliner Polizeipräsidenten von Hinckeldey (1805–1856) weiterhin verfolgt, gelang es ihm und seiner Frau nach der Haft nicht, auf deutschem Boden eine ausreichende Existenzgrundlage zu finden – auch nicht nach dem Verkauf seines Verfahrens der Glyphographie für 200 Gulden. Schikaniert und bespitzelt, hetzte das Paar hin und her, begab sich im März 1856 über Amsterdam nach London, wobei Corvin das im Zuchthaus erlernte Englisch von großem Nutzen war, später zurück nach Hamburg und Pinneberg, pendelte abermals nach London, von dort nach Leipzig und wieder nach Amsterdam. Hier erschienen 1861 die vier Bände »Erinnerungen aus meinem Leben«. Die Hatz endete schließlich 1861. Corvin reiste als Amerika-Sonderberichterstatter der Augsburger »Allgemeinen Zeitung« und im Auftrag des Weltblattes »Times« von England aus in die USA, um über den Bürgerkrieg zwischen den Südstaaten und Nordstaaten zu berichten, der Mitte April wegen der Sklavenfrage ausgebrochen war. Wieder wurde es ein großes Abenteuer im bewegten Leben des Otto von Corvin. In den Vereinigten Staaten lernte Corvin nicht nur herausragende Persönlichkeiten wie Präsident Abraham Lincoln (1809–1865) und emigrierte »Achtundvierziger« kennen, er begleitete auch als Kriegskorrespondent den gesamten Hauptfeldzug im Sezessions-
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krieg. Schließlich wurde er Staatsbürger der USA und trat als Oberst in den amerikanischen Staatsdienst. Auch nach der Kapitulation der Südstaaten im April 1865 und der kurz darauf erfolgten Ermordung Lincolns blieb Corvin in den USA. Im Sommer 1867 dann kehrte er mit seiner Frau als Spezialkorrespondent der »New York Times« für Deutschland und die angrenzenden Länder nach Berlin zurück.
     Damit begann die letzte Phase im ruhelosen und abenteuerlichen Leben des Otto von Corvin. Er entfaltete erneut eine rege schriftstellerische Tätigkeit, pflegte einen umfangreichen Verkehr mit allerlei Persönlichkeiten. Im Mai 1868 ließ sich das Paar auf Schloß Wiggen am Bodensee nieder, wo Corvin u. a. seine »Historischen Denkmale des christlichen Fanatismus« zum »Pfaffenspiegel« umarbeitete, um bereits 1869 erneut nach Berlin zurückzukehren. Nach vorübergehendem Aufenthalt in London nahm er 1870/71 als Spezialkorrespondent einer New Yorker Zeitung und anderer Journale am Deutsch-Französischen Krieg teil. Er erlebte den Einmarsch der deutschen Truppen in Paris und hatte in Versailles sogar eine Unterredung mit Bismarck, bei der dieser äußerte: »Wie das Schicksal die Dinge fügt: dieselben Gesinnungen haben Sie ins Gefängnis geführt und mich auf den Platz, auf welchem ich stehe.«8) In den folgenden Jahren ging er seiner publizistisch-literarischen Tätigkeit weiter nach, ständig um das
tägliche Brot ringend. Er hielt sich, von den Einnahmen aus dem patentierten »Corviniello«-Verfahren lebend, im bayerischen Kreuzwertheim und im badischen Wertheim auf, wo er die »Weltgeschichte« überarbeitete. Im Oktober 1877 übersiedelte das Paar erneut nach Leipzig. Ein Jahr später gehörte Corvin hier zu den Mitbegründern der Gesellschaft »Symposion«, aus der der »Allgemeine Deutsche Schriftstellerverband« hervorging. Im Frühjahr 1884 zog sich Corvin in den ruhigen und erholsamen Kurort Bad Elgersburg im Thüringer Wald zurück. Bemühungen seiner Freunde und Verehrer, die Stiftung einer Ehrengabe zum 50jährigen Schriftsteller-Jubiläum Corvins im Jahre 1885 in die Wege zu leiten, um ihn finanziell zu unterstützen, schlugen fehl. Am 15. Oktober 1885, wenige Tage nach seinem 73. Geburtstag, begaben sich Corvin und seine Ehefrau schließlich nach Wiesbaden, wo der stark geschwächte Körper Corvins am 2. März 1886 den Schmerzen einer »Unterleibsauszehrung« infolge eines mehrjährigen chronischen Darmleidens erlag. Noch im Juli 1885 hatte Corvin in Elgersburg die Vorrede zur 5. Auflage seines »Pfaffenspiegels« geschrieben. »Ich freue mich darüber und hoffe, daß es jetzt noch beifälliger aufgenommen werden wird als 1846, weil die Reaktion im gegenwärtigen Augenblick noch drückender wirkt als damals und die Pfaffheit mit erneuter Dreistigkeit die alten Künste, das Volk in der Dummheit zu
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erhalten, anwendet ... «9) Zwar erlebte Corvin noch die Beschlagnahme dieser 5.  Auflage, nicht aber den Ausgang dieses und folgender gegen seinen Verleger angestrengter Prozesse, die Geldstrafen und Gefängnis auf der einen und Mehrung des Weltruhms des Autors auf der anderen Seite einbrachten.
     So faszinierend und aufregend das Leben des ruhelosen Weltenwanderers und Weltverbesserers Otto von Corvin war, mit dem Namen des Verfassers des berühmten »Pfaffenspiegels« stand der Zeitgeist des 20. Jahrhunderts meist auf Kriegsfuß. »Wie wenige kennen heute diesen demokratischen Edelmann altpreußischen Blutes noch dem Namen nach!«10), registrierte Biograph Ludwig Fränkel 1912. Und 85 Jahre später? Der Name Corvin ist, trotz 50jähriger literarischer Laufbahn des »demokratischen Edelmanns altpreußischen Blutes«, in bekannten Nachschlagewerken wie »Neues Großes Personen-Lexikon« (Augsburg 1990), »Harenbergs Lexikon der Weltliteratur in fünf Bänden« (Dortmund 1989) oder »Kindlers Literatur-Lexikon« (Zürich 1965) nicht zu finden ...

Quellen:
1      Die Abenteuer des Herrn von Corvin. Aus seinen Lebenserinnerungen, 2. Auflage, Rudolstadt 1970, S. 49
2      Ebenda, S. 97

3      Aus der Vorrede zur ersten Auflage (1845), In: Otto von Corvin: Pfaffenspiegel. Historische Denkmale des Fanatismus in der römischkatholischen Kirche, 43. revidierte OriginalAusgabe, Berlin-Schöneberg 1934, S. 8/9. Auch die folgenden Zitate beziehen sich auf dieses Vorwort.
4       Otto von Corvin: Pfaffenspiegel ..., a. a. O., S. 127
5      Die Abenteuer des Herrn von Corvin, a. a. O., S. 140
6      Ebenda, S. 270
7      Ebenda, S. 310
8      Zitiert nach Ludwig Fränkel: Otto von Corvin, ein deutscher Freiheitskämpfer in Wort und Tat, In: Otto von Corvin: Pfaffenspiegel ..., a. a. O., S. 362
9      Vorrede zur fünften Auflage, In: Otto von Corvin: Pfaffenspiegel ..., a. a. O., S. 24
10      Ludwig Fränkel: Otto von Corvin, ein deutscher Freiheitskämpfer ..., Einleitung, a. a. O., S. 347

Bildquelle:
Ludwig Fränkel: Otto von Corvin, ein deutscher Freiheitskämpfer in Wort und Tat

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