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Geist und Lebensart im
Zeichen liberaler Tradition

Ernst Troeltsch wurde am 17. Februar 1865 in Ausgburg in der Familie eines Arztes geboren. Obwohl es der Wunsch des Vaters war, daß sein Sohn sich ebenfalls der Medizin zuwenden sollte, entschied der sich für die Theologie. »Die Philosophie als solche war in ihrem damaligen Zustande wenig verlockend, Medizin interessierte mich nur theoretisch. Also wurde ich Theologe. In der Theologie hatte man damals so ziemlich den einzigen Zugang zur Metaphysik und äußerst spannende historische Probleme zugleich ... Die Theologie war damals als historische Theologie eine der interessantesten, spannendsten, revolutionärsten Wissenschaften«, erinnerte sich Troeltsch 1921 in einer Selbstdarstellung. Neben einer kurzen Zeit in Berlin waren Erlangen und Göttingen die Hauptstationen des Studiums.
     Zeitweilig geriet er unter den Einfluß von Paul de Lagarde (1827–1891) und dessen Verbindung von Religiosität und politischem Leben, wobei er allerdings den Antisemitismus Lagardes ablehnte. Darüber hinaus machten die Arbeiten der Philosophen Hermann Lotze (1817–1881) und Wilhelm Dilthey (1833–1911) starken Eindruck auf den Studenten. Nach einer kurzen Zeit als Vikar 1890 in München promovierte Troeltsch 1891 an der Göttinger Universität, habilitierte sich und erhielt bereits 1892 eine außeror-

Eberhard Fromm
Religionsphilosoph
der christlichen
Kulturwelt?

Ernst Troeltsch

Den Ruf an die Berliner Universität erhielt der Heidelberger Theologieprofessor Ernst Troeltsch 1915 erstaunlicherweise gegen den Widerstand der Berliner Kirchenvertreter. Ihnen war der Kollege zu modern, hatte er sich doch sehr in der neuen Richtung der Religionssoziologie engagiert. Aber er sollte in Berlin ja gar nicht als evangelischer Theologe wirken, sondern an der Philosophischen Fakultät den Lehrstuhl für Kultur-, Geschichts-, Gesellschafts- und Religionsphilosophie erhalten. Troeltsch selbst griff sofort zu, denn mit diesem Lehrauftrag wurde ihm ein Wirkungsfeld geschaffen, das recht genau seinen breitgestreuten Interessen entsprach. Nach 1918 gehörte er zu den wenigen Berliner Intellektuellen, die sich öffentlich und intensiv für die junge Weimarer Republik einsetzten. Für ihn war die Weimarer Verfassung – im Unterschied zu vielen Kritikern der jungen Republik von rechts und links – »sicherlich nicht das letzte Wort, wenn sie auch das erste und bis jetzt vernünftigste ist«.

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dentliche Professur in Bonn. Von 1894 bis 1915 wirkte er als ordentlicher Professor für Systematische Theologie an der Universität in Heidelberg.
     In diesen Jahren engagierte er sich in einem Freundeskreis, zu dem Adolf von Harnack (1851–1930), Friedrich Naumann (1860–1919) und Emil Fuchs (1874–1971) gehörten und der sich um die Zeitschrift »Christliche Welt« gruppierte. Freundschaftliche Beziehungen pflegte er auch zu Max Weber (1864–1920), der ihn bei der Entwicklung seiner religionssoziologischen Ansichten beeinflußte.
     Nach seiner Übersiedlung nach Berlin schloß er sich dem Berliner Mittwoch-Klub an, dem neben Adolf von Harnack auch die Historiker Hans Delbrück (1848–1929) und Friedrich Meinecke (1862–1954) sowie der spätere Reichskanzler Prinz Max von Baden (1867–1929) angehörten. Auch in der »Deutschen Gesellschaft 1914« wurde er Mitglied und kam hier in Kontakt zu Walther Rathenau (1867–1922) und Vertretern der deutschen Sozialdemokratie. Über seine Positionen dieser Zeit gibt ein Vortrag Auskunft, den er 1916 in der »Deutschen Gesellschaft« zum Thema »Die Ideen von 1914« hielt und in dem er ausführte: »Die militärisch und wirtschaftlich stark organisierte Volkseinheit wird auf lange Zeit die Idee sein, die unser inneres Leben bestimmt und die ihr entsprechenden idealen und geistigen Kräfte aufruft.« Viel skeptischer äußerte er sich
Ernst Troeltsch
zwei Jahre später in einem Brief vom 24. Oktober 1918 an die Schriftstellerin Gertrud Freiin von le Fort (1876–1971) – eine Schülerin des Philosophen, die später seinen Nachlaß herausgab –, wo er über den allgemeinen Zusammenbruch nachdachte: »Das ist in Preußen so üblich; vorbeugende Reformen gibt es bei der Gewaltsamkeit und Kurzsichtigkeit dieser Herrenschicht nicht.
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Ohne militärische Niederlage sind keine Reformen und keine vernünftige Friedenspolitik möglich. Ob die beiden jetzt noch Aussicht auf Erfolg haben, wo sie einfach bittere Notwendigkeit geworden sind?«
     Nach der Novemberrevolution 1918 schloß sich Troeltsch der Deutschen Demokratischen Partei an, wo man ihn in der Nähe des linken Flügels fand. Über diese Jahre informieren seine Artikel für die Münchner Zeitschrift »Kunstwart«, die in einer interessanten Sammlung 1994 unter dem Titel »Die Fehlgeburt einer Revolution« im Eichborn Verlag in Frankfurt am Main erneut herausgegeben worden sind.
     1919 in die Verfassunggebende Preußische Landesversammlung gewählt, wurde Troeltsch parlamentarischer Unterstaatssekretär, ab 1922 Staatssekretär im preußischen Kultusministerium, wo er für die Bildungs- und Kirchenpolitik verantwortlich war. Für diese Arbeit blieb ihm jedoch nur noch wenig Zeit, in der er sich für den Neuaufbau eines demokratischen Gesellschaftsgefüges einsetzte. Am 1. Februar 1923 starb Ernst Troeltsch in Berlin.

Entwicklung und Wert –
Kernbegriffe des »Europäismus«

In seiner wissenschaftlichen Arbeit ging es dem ausgebildeten Theologen stets um die Möglichkeiten, Bedingungen und Zusammenhänge einer einheitlichen christlich be-

stimmten Kultur, mit deren Hilfe man den drohenden Individualismus zurückdrängen könnte. Das zentrale Problem, dem er sich stellte, war nach eigener Einschätzung »eine allgemeine Entwicklungsgeschichte des religiösen Geistes auf der Grundlage seiner Verwurzelung im allgemeinen Leben und die besondere Stellung und Beurteilung des Christentums in dieser universalen Entwicklung«. Damit reichte das Spektrum von der Religionsgeschichte und Religionssoziologie über Grundfragen der Ethik, vor allem auch einer politischen Ethik, bis zu einer europäischen Kulturgeschichte und -entwicklung, verbunden mit einem sozialethisch begründeten Umbau der Gesellschaft. »Es muß die Grundlage einer neuen Existenz mit möglichst viel Besitzenden geschaffen werden. Das allein gibt nach dem Sturz der alten militärischen Herrenkaste wieder Ordnung und Zukunft«, schrieb er in dem Artikel »Das Ende des Militarismus«.
     In seinen kulturphilosophischen Überlegungen nach 1918 – sie fanden Eingang in die Publikation »Der Historismus und seine Überwindung« (1922) und waren eigentlich auf zwei Bände berechnet – ging es ihm vor allem darum zu erkunden, wie denn geistige Werte in das Wirtschaftsleben, in die ökonomischen Abläufe eingreifen könnten. Dabei standen die »Umbildung, Fortbildung oder Erneuerung der europäischen Humanitäsidee« im Zentrum. Bei Marx hatte Troeltsch die niemals zu umgehende Fragestellung
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nach konkreter Ursachenforschung im materiellen Bereich gefunden; aus der Wertephilosophie und der Lebensphilosophie entnahm er die Konstanten einer gemeinsamen seelischen Welt, in der die Entwicklung durch den Trieb der Vernunft bewirkt werde. Nicht im stets höher steigenden Fortschritt sah er das Wesen der geschichtlichen Wandlungen, sondern im Wechsel von Lebensformen mit jeweils eigenem Geist.
     Große Hoffnungen setzte er auf Reformen, die mit der moralischen Besserung der Menschen verbunden sein müßten. »Aus der bloßen, in ihren Grenzen unentbehrlichen Carität muß eine planmäßige Sozialreform werden«, schrieb er schon vor dem Ersten Weltkrieg in dem Buch »Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit«.
     »Es muß in der Naturbasis der Gesellschaft eine Möglichkeit stecken, von wo aus sie mit ihren höchsten eigenen Erzeugnissen hinübergeleitet und hinübergebogen werden kann in die höchsten religiösethischen Sozialideale, die dann rückwirkend wieder sie nach Möglichkeit ethisieren und humanisieren.«
     Überdenkt man die Konsequenzen einer solchen Ansicht und verfolgt man das Leben und Wirken des Ernst Troeltsch durch die Wirren seiner Zeit, dann mag die wohl kritisch gemeinte Einschätzung eines Kirchenmannes – Theodor Kaftan: Ernst Troeltsch, Schleswig 1912 – durchaus stimmen, wonach Troeltsch »von der Aufklärung mächtig ge-
packt, mit dem biblischen Christentum sachlich gebrochen« habe und eher »ein Religionsphilosoph der christlichen Kulturwelt« geworden sei.

Denkanstöße

Aber noch sind wir – ganz abgesehen von dem immer mehr in das Zentrum rückenden zukunftsfrohen Amerika – nicht reif zur Idylle der Menschen- und Bedürfnisminderung, wodurch eine friedliche Altersruhe erkauft werden könnte, oder zu dem heroischen Todeskampf des ganzen Kulturkreises, der, unfähig und ungeeignet zur Selbstbescheidung, seine ehrgeizigen, macht- und besitzgierigen Glieder in einen letzten Kampf gegenseitiger Selbstvernichtung hineintreibt. Noch streben wir nach einem sozialen und politischen Neubau der Völkerwelt und im Zusammenhang damit nach einer neuen Konzentration und Vertiefung ihrer Ideenwelt.
     Aus: Der Historismus und seine Überwindung, In: Gesammelte Schriften, Band III, Tübingen 1922, S. 724 f.

Natürlich bedarf der Philosoph eines Systems; nur durch ein solches ist er Philosoph. Auch muß sein Leser oder wer sonst ihn verstehen will, Einblick in seine Systematik haben, weil nur dadurch die Voraussetzungen und Denkrichtungen des Autors und damit seine etwaigen, besonde-

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ren Einzelthematen gewidmeten Studien verständlich werden. Auch wird er erst dadurch mit anderen Philosophen vergleichbar und in die großen Reihen möglicher philosophischer Grundstellungen einreihbar. Aber alles das läßt sich auch erreichen durch genaue Angabe des systematischen Ortes und präzise Enthüllung des systematischen Hintergrundes an den dazu geeigneten Stellen der Einzelforschung. Das System ist im Grunde heute doch wesentlich eine persönliche Angelegenheit des Autors, die genauere Herstellung und Darstellung seines intellektuellen Hintergrundes und seines philosophischen Betriebsvermögens. Aber eine ausführliche Darstellung des Systems für sich selber ist doch nur ausnahmsweise wirklich wünschenswert. Die großen Systementwürfe der Geschichte der Philosophie sind selten und bilden einige wenige große Familien. Die letzten hundert Jahre kennen im ganzen kein wirklich neues System, sondern kombinieren und ändern in der Hauptsache alte Systeme, während es äußerst bedeutende Ausführungen über Einzelthemata reichlich gibt. Wirkliche philosophische Systeme wird es vermutlich nicht viel mehr geben als politische und religiöse oder als künstlerische Stile. Die sogenannten Systeme der modernen Autoren sind Mittel zum Verständnis ihrer eigentlichen Hauptwerke, die auf Einzelthemata gerichtet sind, Werkzeuge der Selbstkontrolle und der Kontrolle durch andere. Daß darunter sich ausgezeichnete, geist- und lehrreiche Sachen finden, ist selbstverständlich. Aber den großen antiken Systemen, denen des 17., des endenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts kommt doch nichts von Ferne gleich. Was wir heute treiben, ist alles Epigonenwerk, wenn auch kein totes und überflüssiges ... Die neuen Wege und Durchbrüche liegen heute vorerst auf dem Gebiete der Einzelwissenschaften, da, wo sie sich mit philosophischem Geiste und universalem Zuge erfüllen. Erst von da aus werden dann einmal, wenn man an eine Wiederberuhigung der gegenwärtigen Weltwirren denken darf, irgendwo und irgendwann neue Systeme entstehen.
     Aus: Ernst Troeltsch: Meine Bücher, In: Die deutsche Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen. Zweiter Band, Leipzig 1921, S. 172/173

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