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in ihrer Stadt denn noch ereignet hat. Eine umfassende Darstellung des Berliner Widerstandes gab es nicht, da lag es nahe, dieses Kapitel der Berliner Geschichte nach Stadtbezirken aufzuarbeiten. Diese Überlegungen fielen in die Zeit, in der die räumliche und inhaltliche Erweiterung unserer Bildungsstätte zur heutigen Gedenkstätte Deutscher Widerstand (GDW) stattfand. Diese bezirklich orientierte Schriftenreihe sollte den Berliner Widerstand in seiner politischen Breite und sozialen Vielfalt nach und nach aufarbeiten. Als Leitmotiv berief ich mich dabei auf die Forderung des früheren Bundespräsidenten Gustav Heinemann, nach den demokratischen und humanistischen Wurzeln der Lokal- und Ortsgeschichte zu forschen.
     Sie sind Jahrgang 1949, gehören also zu der Generation, die den Faschismus nicht mehr erlebt hat.
     Hans-Rainer Sandvoß:
Unsere Fragen nach dieser Zeit haben wir zuerst den Eltern und Großeltern gestellt. Aber dabei blieb es nicht. Bis heute hat mich die Studenten- und Schülerbewegung der 60er Jahre geprägt. Der Protest gegen autoritäre Strukturen und neofaschistische Tendenzen, wie sie sich beispielsweise in der NPD zeigten. Ich gehörte seit 1964 der von Harry Ristock und anderen beeinflußten demokratischsozialistischen Jugendorganisation »Die Falken« an. Ein Verband, der sehr engagiert für die Entspannungspolitik eintrat und durch seine

Zentrum des Terrors, aber auch des Widerstands

Hans-Rainer Sandvoß zur Schriftenreihe »Widerstand 1933–1945«

1983 erschien die erste Veröffentlichung der Reihe »Widerstand in Berlin«, in der Sie weitgehend unbekannte Kämpfer gegen das Nazi-Regime vorstellen. Im Vorwort schrieben Sie damals, daß es Ihnen darum gehe, von Menschen zu berichten, die in den Jahren der NS-Diktatur Zeugnis für Zivilcourage, Gesinnungstreue und Menschlichkeit abgelegt haben. Was gab den Anstoß für die inzwischen stattlich gewachsene Reihe?
     Hans-Rainer Sandvoß:
1977, nach dem Studium der Politikwissenschaft und einer Zeit der Arbeitslosigkeit, wurde ich Referent an der Gedenk- und Bildungsstätte Stauffenbergstraße und kümmerte mich mit anderen um die Betreuung von Jugendgruppen, die die damals noch recht bescheidene Widerstandsgedenkstätte am historischen Ort des 20. Juli 1944 besuchten. Im Laufe der Zeit wurden mir die Defizite der mangelnden Aufarbeitung des Berliner Widerstandes zunehmend bewußt. Zumal Jugendliche und Lehrer danach fragten, was sich neben dem 20. Juli und der Bekennenden Kirche

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Gedenkstättenfahrten – so nach Lidice und Auschwitz – für die Aussöhnung mit jenen Völkern stritt, die bis 1945 Opfer der NS-Diktatur geworden waren.
     Wie war das Echo auf die erste Publikation?
     Hans-Rainer Sandvoß:
Ich hatte mit meinem Heimatbezirk Wedding begonnen. Der noch recht schmale Band erwies sich als unerwarteter Erfolg, denn nach knapp einem Jahr waren die 20 000 Exemplare verbreitet. Die Vermutung mancher Skeptiker, die kein großes Interesse am Schicksal weitgehend unbekannter Widerstandskämpfer erwarteten, war damit widerlegt.
     Wieviel Bände liegen heute vor, und was ist als nächstes geplant?
     Hans-Rainer Sandvoß:
Inzwischen sind zehn Bände erschienen, nach Wedding 1985 Steglitz/Zehlendorf, 1988 Spandau, 1990 Neukölln, 1991 Charlottenburg. 1992 Pankow/Reinickendorf, 1993 Wilmersdorf, 1994 Mitte/Tiergarten, 1995 Köpenick/Treptow, 1996 Kreuzberg. In diesem Jahr werden Friedrichshain/Lichtenberg sowie Schöneberg/Tempelhof folgen, im kommenden Prenzlauer Berg/Weißensee. Außerdem wird es zweite Auflagen bisher erschienener Bezirksbände geben, beispielsweise Charlottenburg und Kreuzberg. In diese Zweitauflagen wurden Anregungen und Ergänzungen aufgenommen, die auf Zuschriften von Zeitzeugen und neuen Quellen beruhen. Nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems und der Vereinigung Deutschlands
kam das Bundesarchiv an umfangreiches NS-Aktenmaterial, das jahrzehntelang als verschollen galt. Tatsächlich aber befand es sich im geheimen Besitz des Staatssicherheitsdienstes der DDR. Von diesen Unterlagen profitiert nicht zuletzt die Erforschung des Berliner Widerstandes.
     Für die sieben Bände, die aus Ihrer Feder stammen, haben Sie unzählige Dokumente in Archiven studiert, alte Zeitungen nachgelesen, mit mehr als tausend Zeitzeugen gesprochen. Eine mühevolle Arbeit ...
     Hans-Rainer Sandvoß:
Mich begeistert das Aufspüren und Entdecken bisher unbekannter Fakten, Zusammenhänge und zu Unrecht Vergessener. In der Sprache der Wissenschaft ausgedrückt, habe ich eine ungebrochene Freude an der empirischen Arbeit.
     Gerade das Thema des Mitte dieses Jahres erscheinenden Buches über den Widerstand in Berlin-O, Friedrichshain und Lichtenberg, hat mich wirklich fasziniert: Wie sah ein Stadtteil aus, der doch heute ein ganz anderes Gesicht hat? Wie stark waren die illegalen Gruppen der Arbeiterbewegung? Welche Rolle spielte die Bekennende Kirche? Wer versteckte verfolgte Juden? Gab es im Gefängnis Barnimstraße Wärterinnen, die politischen Häftlingen beistanden? Wie erfolgreich konnten Oppositionelle in Lichtenberger Großbetrieben sein? Welche Erfahrungen sammelten Zwangsarbeiter mit der Berliner Bevölkerung? Mit einem
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Wort: Waren die Berliner nur willige Vollstrecker nazistischer Herrscher? Darauf Antwort zu finden ist auch nach 15 Jahren der Beschäftigung mit dem Widerstand in unserer Stadt noch aufregend.
     Akten und Dokumente können ja nur teilweise Antwort auf diese Fragen geben, und die Zeitzeugen werden immer weniger.
     Hans-Rainer Sandvoß:
Das sind dann die ausgesprochenen Glücksmomente. So, als ich beispielsweise im Zusammenhang mit dem Kampf der Gruppe Uhrig im Berliner Osten noch drei fast 85jährige Zeitzeugen interviewen konnte. Und das 50 Jahre danach! In Hamburg traf ich die Tochter eines Friedrichshainer Pfarrers der Bekennenden Kirche. Wenn man nach mehreren Jahren vergeblichen Suchens endlich das Foto oder ein Dokument in den Händen hält, ist man wieder entschädigt für die Mühen der Ebene.

Schriftenreihe Widerstand 1933–1945, Band Kreuzberg

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Die Reihe erscheint in einer relativ hohen Auflage und wird kostenlos abgegeben. Wer sind die Leser?
     Hans-Rainer Sandvoß:
Besonders viele Leser kommen aus den Reihen des allgemein historisch interessierten Publikums. Leser, die nicht zum trockenen wissenschaftlichen Fachbuch greifen und auch gar nicht das Geld haben, teure Bücher zu kaufen. Gerade bei denen, die das Kriegsende als Kinder oder Jugendliche erlebt haben und einzelne Regimegegner – Politiker, Pfarrer, Lehrer, Geschäftsleute – noch persönlich kannten, ist das Interesse sehr ausgeprägt. Ich bemühe mich, durch eine verständliche und zurückhaltende Sprache sowie eine möglichst abwechslungsreiche, Spannung erzeugende Darstellung das Thema wissenschaftlich und populär aufzuarbeiten. Dazu gehören Fotos, Dokumente und farblich abgesetzte Zeitzeugenberichte.
     Fühlen sich auch junge Leute angesprochen?
     Hans-Rainer Sandvoß:
Die Hoffnung, vor allem die jüngeren Generationen zu erreichen, erfüllt sich nur dann, wenn Lehrer, Erzieher, Gewerkschafter und die Kollegen in den Volkshochschulen, Bibliotheken, Heimatmuseen das bestehende Angebot unserer Gedenkstätte aufnehmen und vor Ort umsetzen. Besonders gefreut habe ich mich, wenn die Veröffentlichungen zu Schülerwettbewerben, Arbeitsgruppen, Patenschaften und Begegnungen von Jugend-
lichen und Zeitzeugen geführt haben. Die Vermittlung dieses Dialogs, die persönliche Weitergabe von Erfahrungen an die Nachgeborenen, ist in einer Zeit bedrückender Arbeitslosigkeit und rechtsradikaler Übergriffe ganz besonders wichtig.
     Ist die über 15 Jahre währende Aufarbeitung des Widerstandes in den Berliner Bezirken später Grundlage für eine Gesamtdarstellung?
     Hans-Rainer Sandvoß:
Als letzte Bezirksdarstellung ist für das Jahr 2000 eine völlige Überarbeitung und Erweiterung des Wedding-Bandes vorgesehen. Danach würde ich sehr gern eine Gesamtdarstellung des Berliner Widerstandes entwickeln. Sie soll das bis dahin Erforschte vergleichend aufarbeiten und die Vielschichtigkeit einer aus mehreren Städten, Dörfern und Vororten gewachsenen Metropole, die sich nie völlig »gleichschalten« ließ, verdeutlichen. Berlin war eben nicht allein das Zentrum des nazistischen Terrors, es war auch das Zentrum des deutschen Widerstands. Tausende wurden wegen ihrer Gegnerschaft in die Haftanstalten und Konzentrationslager gesperrt. In keiner deutschen Stadt gab es so viele tapfere Helfer für untergetauchte Juden. Doch wir wissen alle: Es waren trotzdem zu wenige Couragierte.
     Das Gespräch führte Norbert Podewin
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