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Bernhard Meyer
Salomon Neumanns Reformvorschläge im Vormärz

Preußen befand sich 1846/47 in einer Wirtschaftskrise. Das Bürgertum machte sich nach englischem und französischem Vorbild auf, feudale Staats- und Wirtschaftsstrukturen aufzubrechen. Literaten und Intellektuelle, beflügelt und begeistert von den Prinzipien der Menschenrechte der Französischen Revolution, meldeten sich immer nachdrücklicher zu Wort. Darunter junge Ärzte, die das Medizinaledikt von 1825 für reformbedürftig hielten, weil die medizinische Hilfeleistung allein auf privatrechtlichen und gewerbemäßigen Grundlagen beruhte. Ein zunehmender Teil der Bevölkerung konnte ärztliche Leistungen und Apothekerrechnungen nicht bezahlen und war deshalb zwangsläufig auf die kargen Regelungen des Armenwesens angewiesen.
     Im reformorientierten sozialmedizinischen Schrifttum des Vormärz ragt Salomon Neumanns (1819–1908) Publikation »Die öffentliche Gesundheitspflege und das Eigenthum. Kritisches und Positives mit Bezug auf die preußische Medizinalverfassungs-Frage« heraus. Sie erschien 1847 bei Adolph Rieß in

Berlin als vorwiegend kritische Reaktion auf zwei Schriften von Hermann Joseph Schmidt (1804–1852) und Friedrich Leberecht Trüstedt (1791–1855) aus dem Jahre 1846, die als preußische Geheimräte nur kosmetische Änderungen an der gültigen Medizinalverfassung beabsichtigten. Der 28jährige Salomon Neumann hatte sich 1845 in Berlin als praktizierender Arzt, Wundarzt und Geburtshelfer niedergelassen. Nachdem er medizinischen Fortschritt in Paris kennengelernt und dort den nachwirkenden Atem der Französischen Revolution verspürte, griff er als entschiedener bürgerlicher Demokrat zur Feder, woraus eine der ersten sozialmedizinischen Schriften in Preußen erwuchs. Nachfolgende sozialorientierte Ärzte griffen später häufig auf Neumanns Erstlingswerk zurück.
     Salomon Neumann legte seinem Konstrukt das bürgerliche Denken vom Eigentum als dem Nabel für die Existenz der Gesellschaft zugrunde. Da der Besitz unterschiedlich verteilt sei, resultiere daraus ein unterschiedlicher Zugang zum Schutz der Gesundheit für den einzelnen. »Der gewöhnliche Tagearbeiter besitzt in der physischen Kraft seines Körpers sein ganzes und einziges Eigenthum«, resümiert er und leitet daraus seine Überlegungen für Erhaltung und Schutz dieses Eigentums mit den Mitteln der Medizin ab. Nach Neumann sind Staat und Gesellschaft hinsichtlich der Produktion, des Landesschutzes, der Fortpflanzung und des all
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gemeinen Lebens auf dieses biologische, zur menschlichen Existenz gehörende Eigentum angewiesen, also muß es gepflegt und gefördert werden. Letzteres eben nicht als Akt der Barmherzigkeit im Rahmen des Armenwesens und privater oder konfessioneller Wohltätigkeit, sondern – und darin liegt eines seiner Hauptpostulate, als Recht, ja sogar als Rechtsanspruch des Individuums gegenüber der Gemeinschaft in Form des Staates. Dieser habe durch die »Rechtlosigkeit der Besitzlosen im Staate des Eigenthumsrechts« die einzulösende Pflicht, »Leben und Gesundheit der Bürger als Grundbedingung aller Genüsse und Wirksamkeiten zu schützen und wenn sie gefährdet, zu retten«.
     Nun war natürlich die Armenkrankenpflege als Bestandteil des von Amts wegen geführten und gestalteten Armenwesens eine seit langem bestehende Reaktion des Gemeinwesens auf die sozialen Mißlichkeiten eines Teils der Gesellschaft. Die Obrigkeit glaubte, Gutes zu tun, und dafür Dankbarkeit der Betroffenen ernten zu können. Neumann fragt aber die Besitzenden: »Was nützt Euch aller Reichthum, was vermögen alle Schätze, was ist Eure Unabhängigkeit und Sicherheit, beschützt durch sieche und kranke Bürger?« Er kritisierte die Unzulänglichkeiten des Armenwesens und legte den Finger auf die wunden Stellen. Zwar habe das Medizinaledikt von 1825 die »Staatspflicht« verankert, die sich jedoch nur auf eine straf-
fere Strukturierung des Armenwesens erstrecke, so daß »unsere Armenkrankenpflege nichts weiter ist, als ein Versuch, die Consequenzen des gewerblichen Betriebes der Heilkunst zu mildern«. Zur »göttlichen Weltordnung« passe nicht das Bild vom »armen Kranken und reichen Kranken«, was öffentlich durch die preußische Regierung und die Kirche durchaus anerkannt, jedoch von niemandem geändert wurde. Trotz höchst unvollkommener Medizinalstatistik in Preußen, für deren Verbesserung er zeitlebens plädierte und für die er später anerkannte methodische Grundlagen schuf, belegte er sein Anliegen mit Zahlen. In Berlin gäbe es für 180 000 unbemittelte Bürger lediglich 30 Armenärzte, während 270 000 zahlungskräftige Bürger 300 Ärzte jederzeit in gewünschtem Umfang in Anspruch nehmen könnten. Aber selbst die 30 Armenärzte erhielten, so Neumann, ein so kärgliches Salär, daß sie mindestens zwei Drittel ihrer Dienstzeit für private Tätigkeit nützen mußten, wodurch faktisch nur 10 Armenärzte wirksam würden. Das habe Auswirkungen, denn nach amtlichen Zahlen erreichen von den Neugeborenen in Preußen mehr als 20 Prozent nicht das erste Lebensjahr. »Drei Achtel aller Gestorbenen unterlagen also langwierigen Krankheiten durch Mangel an kräftiger Nahrung, tüchtiger Bekleidung, gesunder Wohnung ...«, zitierte Neumann amtliche Berichte. So gelangte er zu seiner in der sozialmedizinischen Literatur bis heute vielfach
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wiedergegebenen Feststellung: »Es ist und bleibt einmal unbestreitbar, daß Armut, Not und Elend, wenn nicht identisch mit Tod, Krankheit und Siechtum, doch ebenso die unerschöpflichen Quellen derselben sind.« Und weiter: »Die medizinische Wissenschaft ist in ihrem innersten Kern und Wesen eine sociale Wissenschaft ...«. Dem könne Preußen mit wenigen hunderttausend Talern für öffentliche Belange der Gesundheit bei einem Gesamtetat von 64 Millionen Talern nicht genügen, dabei komme nicht mehr als »geizige Barmherzigkeit« heraus.
     Neumann äußerte sich in seiner Schrift auch zum Verhältnis von Biologischem und Sozialem bei der Entstehung von Krankheiten. Er schreibt, »daß der größte Theil der Krankheiten, welche entweder den vollen Lebensgenuß stören, oder gar einen beträchtlichen Theil der Menschen vor dem natürlichen Ziel dahinraffen, nicht auf natürlichen, sondern auf künstlich erzeugten, gesellschaftlichen Verhältnissen beruhe, bedarf keines Beweises.« So sehr man geneigt sein könnte, dem Autor angesichts verbreiteter Unter- und Falschernährung sowie unzureichender hygienischer Verhältnisse beizupflichten, überzieht er den sozialen Aspekt, den er aus gutem Grund dem Staat und den Ärzten unter die Nase reiben will, als quasi primäre Ursache für eine Mehrzahl von Krankheiten dennoch beträchtlich. Im übrigen wird Neumann zu
dieser Auffassung durch die zeitgenössisch noch geringe Wissenschaftlichkeit bei der generellen Aufklärung von Krankheitsursachen verleitet.
     Neumanns Schrift schließt mit Vorschlägen für nach seiner Ansicht grundlegende Veränderungen, die in einer neuen Medizinalverfassung ihren Niederschlag finden müßten. Da der Staat »den Arzt an den Gewinn, den Kranken an den Besitz des Geldes gewiesen« habe, sollte eine stattliche Zahl von Ärzten in eine Form der staatlichen Anstellung gebracht werden. »Die im Namen des Staates geübte ärztliche Thätigkeit, die öffentliche Gesundheitspflege muß die Norm, das Muster jeder ärztlichen Thätigkeit, jeder Gesundheitspflege überhaupt darstellen.« Über allem schwebte die von Neumann selbst eingestandene ideale Vorstellung, »die ärztliche Thätigkeit im Interesse des allgemeinen Wohls zu organisiren«. Aus seinen Gedankengängen resultieren Überlegungen für die zweckmäßige Zusammenfassung der Ärzte in »Associationen«. Um das preußische Staatswesen unentrinnbar in das System einzubauen, verlangte Neumann die Bildung eines Ministeriums für Gesundheitswesen. Ebenso plädierte er für selbstgewählte Hausärzte statt zugeteilter Armenärzte. Hausärzte, die es traditionell für begüterte Familien gab, müßten im Interesse der Gemeinschaft auch für den bedürftigen Bürger vorhanden sein. Nur so könne er prophylaktisch wirksam wer
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den. Der Medizin als Wissenschaft wies er drei Aufgaben zu: Gesundheit schaffen, Krankheiten verhüten und Krankheiten heilen. Bemerkenswert ist die Reihenfolge, in der die prophylaktische Aufgabe vor der kurativen genannt wird. Schließlich sah Neumann einen ursächlichen Zusammenhang zwischen wirksamer Gesundheitsorganisation und einer »speciellen medizinischen Statistik der Krankheitsursachen und der Krankheitswirkungen«.
     Mit dieser Schrift erwies sich Neumann als engagierter Repräsentant der zwar wenigen, aber sich im Vormärz deutlich artikulierenden demokratisch gesinnten und sozialmedizinisch denkenden Ärzte. Er kam mit gleich oder ähnlich Denkenden wie Rudolf Virchow (1821–1902) und Rudolf Leubuscher (1821–1861) in Kontakt, die seine Freunde wurden, und sympathisierte mit dem ostpreußischen Arzt Johann Jacoby (1805–1877). Virchow zitierte die Neumannsche Schrift mehrmals und gewann ihn als Autor für die ab Mitte 1848 erschienene »Medicinische Reform«. Obwohl Neumanns Traktat Verbreitung fand und von Ärzten gelesen wurde, war der Widerhall in der 48er Revolution eher gering. Zu sehr hingen manche Ärzte am vertrauten und für sie einträglichen System der medizinischen Organisation, zu sehr werteten andere die Vorschläge als unreife und undurchführbare, ja utopische Vorstellungen. Dieses Urteil fällten Ärzte auch über den Neumann
schen Entwurf einer Medizinalverfassung, den er Mitte 1848 vorlegte. Zeitlebens blieb Salomon Neumann ein sozial agierender Arzt, der sich keiner politischen Partei anschloß und dennoch seine Auffassungen von Gesundheit und Hygiene 47 Jahre lang als Stadtverordneter von Berlin (1858–1905) mit Vehemenz vertrat. Er verstarb am 20. September 1908 und wurde auf den Jüdischen Friedhof in Weißensee beigesetzt.

Anmerkungen:
Alle Zitate aus: S. Neumann: Die öffentliche Gesundheitspflege und das Eigenthum. Verlag von Adolph Rieß. Berlin 1847
Grundlegende Literatur: K.-H. Karbe: Salomon Neumann 1819 – 1908. Wegbereiter sozialmedizinischen Denkens und Handelns. Leipzig 1983.
     E. H. Ackerknecht: Beiträge zur Medizinalreform von 1848. Sudhoffs Archiv der Geschichte der Medizin. Band 25. 1932

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