Eine Rezension von Eberhard Fromm


Zeugen des Jahrhunderts

Bruno Bettelheim: Erziehung zum Leben
Gespräch mit Ingo Hermann.
Lamuv Verlag, Göttingen 1993, 154 S.

Alphons Silbermann: Glücklich und bedeutsam
Gespräch mit Hans Bünte.
ebd. 1994, 89 S.

Erwin Strittmatter: Nur, was ich weiß und fühle
Gespräch mit Alexander U. Martens
ebd. 1995 (3. Aufl.), 127 S.

 

Je näher das Ende unseres Jahrhunderts heranrückt, um so richtiger erscheint die Entscheidung von Ingo Hermann, die seit 1978 laufende Fernsehreihe „Zeugen des Jahrhunderts“ auch in Buchform zu publizieren. Was hier inzwischen an Meinungsäußerungen vorliegt, sind mehr als Farbtupfer auf dem bekannten Geschichtsverlauf des 20. Jahrhunderts. Es wurden subjektive Eindrücke und Wertungen der Zeit, Sichten auf Persönlichkeiten, autobiographische Anmerkungen in so vielfältiger Weise gesammelt, daß sie selbst zu einem Jahrhundertbild verwoben werden können. Das zeigt sich auch bei den drei Bänden über einen Psychologen, einen Soziologen und einen Schriftsteller, die hier zusammengestellt worden sind.

Mit dem Kinderpsychologen BRUNO BETTELHEIM (1903-1990) sprach Ingo Hermann 1984 in den USA, wo der Wissenschaftler seit seiner Emigration lebte und wirkte. Der gebürtige Österreicher wollte eigentlich Architekt werden, entdeckte dann aber seine Liebe zur Psychoanalyse, promovierte über Kant („Das Naturschöne in der Philosophie Kants“) im Fach Philosophie, arbeitete danach jedoch als Analytiker und konzentrierte sich dabei auf ein amerikanisches Mädchen, das er sieben Jahre behandelte. Nach dem deutschen Einmarsch in Österreich wurde Bettelheim verhaftet und ins KZ Dachau, später nach Buchenwald gebracht. 1939 gestattete man ihm die Ausreise in die USA. Über die KZ-Zeit resümierte Bettelheim: „Wenn Geschichte ein Versuch ist, den Sinn im Sinnlosen zu finden, so könnte man eher sagen, daß es die Aufgabe eines jeden Menschen ist, das Leben nicht sinnlos zu finden.“ (S. 50)

In den USA arbeitete Bettelheim seit 1944 als Leiter der Schule für seelisch gestörte Kinder, einem Institut der Chicagoer Universität. Über die 27 Jahre, die er hier verbrachte, berichtet er detailliert und voller Engagement. Aus dieser Arbeit heraus entstanden auch seine Bücher, so zum Beispiel „Aufstand gegen die Masse. Die Chance des Individuums in der modernen Gesellschaft“, Die Geburt des Selbst oder Ein Leben für Kinder.

Ingo Hermann zitiert in seinen einleitenden Bemerkungen aus Bettelheims Buch Erziehung zum Überleben den Gedanken, daß einen Sinn im Leben zu entdecken „das einzige Gegenmittel gegen das gezielte Aufsuchen des Todes“ sei. (S. 13) Als 1984 seine Frau starb, er danach in ein Altenheim kam und dort einen Schlaganfall erlitt, sah er offensichtlich keinen Sinn mehr: Am 13. März 1990 wählte er den Freitod.

Hans Bünte charakterisiert seinen Gesprächspartner Silbermann als einen „kampflustigen Tabu-Zertrümmerer mit einer breiten rhetorischen Skala, die von wissenschaftlicher Akribie über jiddische Einsprengsel bis zum gemütlichen Kölsch reicht“. (S. 10)

ALPHONS SILBERMANN wurde 1909 in Köln geboren, studierte Jura, mußte dann Deutschland verlassen und schlug sich über Holland und Frankreich bis nach Australien durch. Dort begründete er eine Restaurantkette. Nach dem Krieg wandte er sich der Musiksoziologie zu und hielt Ästhetik-Seminare ab. In den fünfziger Jahren wirkte er wieder in Europa, vor allem in Frankreich und der Schweiz, bis er in seine Heimatstadt Köln zurückkehrte, wo er seit 1958 an der Universität lehrte. Als erster führte er das Universitätsfach Soziologie der Massenkommunikation ein. Über seine Sichtweise als Musiksoziologe meinte er: „Im Leben eines Gelehrten gibt es, wenn er nicht gerade Goethe heißt, zwei, höchstens drei Dinge, die er wie eine Zentralität entdeckt, wie eine Invention. Bei mir ist einer davon der Ausdruck ,Musikerlebnis‘, das ,événement musical‘ als soziale Tatsache, als das einzig Greifbare. Nichts anderes ist tangibel. Alles andere ist irrational und nicht beobachtbar.“ (S. 51) In seinen Büchern befaßt er sich mit verschiedenen Themen, so mit Musikern wie Gustav Mahler und Jacques Offenbach, mit Fragen der Kunstsoziologie, aber auch mit Problemen des Antisemitismus und - 1993 - mit dem „Wohnerlebnis in Ostdeutschland“. Seine Autobiographie trägt den Titel Verwandlungen.

ERWIN STRITTMATTER (1912-1994) wurde 1993 von Alexander U. Martens befragt. Seine Zeitzeugnisse liegen bereits in der 3. Auflage vor, ein Zeichen dafür, welches Interesse an Aussagen dieses prominenten Schriftstellers der DDR besteht. Und natürlich drehen sich viele Fragen und Antworten um die DDR, um das Leben und Wirken des Schriftstellers, SED-Mitglieds, Trägers des Nationalpreises und des Karl-Marx-Ordens Erwin Strittmatter. Seine Antworten sind meist knapp, oft von geradezu lapidarer Kürze. Über sein politisches Engagement beispielsweise heißt es: „Ich habe mich dazu gezwungen, politisch zu sein. In Wirklichkeit bin ich immer ein Poet gewesen.“ (S. 11) Er macht keine Ausflüchte, beschönigt nichts, lamentiert aber auch nicht. Von einem guten Buch fordert er, daß es Kosmisches enthalten müsse, denn dann spüre man, daß der Erzähler weiß, wo er lebt. (Vgl. S.60) Strittmatter wehrte sich gegen die Einschätzung, daß er resigniert habe. Zwar habe er sich geschworen, sich nicht mehr politisch zu betätigen, und kämpfen wolle er auf keinen Fall mehr: „Man kann sich verzetteln, man kann aber auch jeden Lebensaugenblick... vertiefen. Und in dieser Tiefe liegt mehr Genugtuung, als sich äußerlich zu verpuffen.“ (S. 71/72) Und doch spürt man in vielen Antworten resignative Züge, so wenn er meint, daß sich in der Gesellschaft wohl alles wiederhole (S. 19), wenn er feststellt, wie leicht Massen umzuschmeißen und in eine andere Richtung zu treiben sind (S. 33), wenn er zugibt, nicht mehr an die Vernunft zu glauben, dagegen den Instinkt hoch bewertet (S. 75), und wenn er die Ansicht vertritt, durch seine Begegnung mit dem Marxismus irgendwie verdummt zu sein. (S. 102) Schließlich weist auch der letzte Satz im Gespräch in diese Richtung: „Aber daß Bücher wirklich etwas bewirken, das glaube ich nicht.“ (S. 113)


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 7+8/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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