Eine Rezension von Sibille Tröml


Biete Biographie - suche Leben: Neue Variationen zu einem alten Schweizer (Literatur-)Thema

Peter Bichsel: Cherubin Hammer und Cherubin Hammer

Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1999, 109 S.

 

Peter Bichsel ist - wie Martin Walser - ein Geschichtenerzähler des Alltags. Doch während Walser von den Sorgen, Nöten und gelegentlichen Freuden des Kleinbürgers in zudem recht umfangreichen Romanen erzählt, schreibt Bichsel in seinen kleinen Geschichten vor allem über „kleine“ Bürger und ihren großen Wunsch, anders, will heißen aufregender, wirklich(er) zu leben. Sicher, auch Walsers an ihrem Alltag leidende Helden sind nicht selten von gerade eben diesem Wunsch beseelt, doch finden sie sich - wie es sich für „richtige“ Erwachsene gehört - mit ihrem Anpassungs- und Mitmacherdasein ab. Ganz anders dagegen bei Bichsel. Als große Kinder bzw. als Kind gebliebene Erwachsene sind seine Hauptfiguren immer auch von Sehnsucht getriebene Träumer. Und so brechen sie aus und auf, verweigern sich hier und da und leben ein Leben, welches das „richtige“ Leben ihnen verwehrt, wenn auch nur in Gedanken.

Zur bereits vorhandenen Gruppe solch lebenssüchtiger Gedankenspieler aus Bichselscher Feder gesellt sich nun ein weiterer hinzu. Er heißt Cherubin Hammer, und das ist auch schon so ziemlich das einzige, was wir w i r k l i c h über ihn wissen. Cherubin Hammer nämlich, den gibt es - wie der Titel des Buches erahnen läßt - gleich zweimal, bzw. wie man bei der Lektüre feststellen kann, eigentlich sogar dreimal. Da ist zum einen jener Cherubin Hammer, der dem Erzähler zufolge tatsächlich Cherubin Hammer hieß und dessen Bild in 54 durchnumerierten, für Prosatexte ungewöhnlichen Fußnoten entworfen wird. Er war, was man gemeinhin einen „richtigen Kerl“ nennt: groß, breit, laut, strahlend, trinkfest und vor Gesundheit strotzend. Als mit allen Wassern gewaschener Unternehmer, der mal im Bau, mal in Wein und Antiquitäten seine Geschäfte machte, warf er mit Hunderternoten um sich, machte seine Sauftouren stets mit dem Taxi, auch wenn die Beizen nur 30Meter voneinander entfernt waren, und schlug gern mal mit der Faust auf den Tisch. Er war präsent - unübersehbar und unüberhörbar.

Ganz anders dagegen jener Cherubin Hammer, dem der Fußnoten-Cherubin-Hammer seinen Namen leiht. Ebenfalls groß und breit von Statur, ansonsten aber dicklich, plump, langsam und schwerfällig, ist dieser zu alledem ein stiller Held. Darüber hinaus hat er, was dem „richtigen“ Cherubin Hammer - zumindest in Bichsels Text - fehlt, nämlich eine „richtige“ Biographie, das heißt eine mit Fakten bestückbare Lebensbeschreibung. Geboren 1926, arbeitete der „ausgebildete und diplomierte Gymnasiallehrer“ im Archiv einer Verwaltung (was in den Augen des Erzählers einer Abschiebung gleichkommt). Er war verheiratet, hatte einen Sohn und ein Haus mit Garten. Jeden Tag trug er einen Stein auf bzw., wie man in seiner Region sagte, in den Berg; warum er das tat, dafür weiß auch der Autor keinen Grund zu finden. Hinterlassen hat er etwas mehr als vierzig schwarze, überwiegend leere Wachstuchhefte, die er allesamt mit dem Titel „Die Tagebücher“ überschrieben hatte. Denn: der Akten lesende und bearbeitende Bürobeamte Cherubin Hammer, der wäre gern sein Leben lang ein Schriftsteller gewesen. Und so ist dieser Kopf-und-Herzenswunsch-Cherubin-Hammer denn auch so etwas wie der dritte Cherubin Hammer in Bichsels Buch. Gleichzeitig ist er der, den eigentlich niemand kannte. Nur ein kleines Mädchen, dem er Geschichten erzählte, und Lydia, der er Gedichte schickte.

Der Inhalt von Bichsels neuem Büchlein derart knapp und deshalb überaus unvollständig zusammengefaßt, mag verwirren. Verwirrung aber ist auch bei der Lektüre der Geschichten selbst angesagt, sie darf sogar als ihr wesentlicher Motor bezeichnet werden. Doch was dem einen wie ein - durch die Fußnoten erhöhtes - Durcheinander und Unordnung erscheinen mag, wird dem anderen ein lustvolles Spielen mit Identität(en) sein. „Biographie“, sie ist auch hier in altvertrauter Manier „Ein Spiel“ von Schein und Sein, von Person und Rolle, von Sollen und Wollen, von (innerer, eigener) Identität und (äußerem, fremdproduziertem) Bild. Peter Bichsel bewegt sich damit in der Literaturtradition von Max Frisch, dem - wenn man so will - „Urvater“ der Identitäts- und Bildnisproblematik in der deutschsprachigen Schweizer Gegenwartsliteratur. (Daß dieses Sich-Bewegen in voller Bewußtheit, wenn nicht gar in erfurchtsvoll-freundschaftlicher Reminiszenz an den 1991 Verstorbenen geschieht, zeigt sich auch gleich in den ersten beiden Zeilen des Buches, die wie ein Echo der ersten Worte des Stiller klingen.) Gleichzeitig aber folgt Bichsel konsequent seiner eigenen Erzähl- und Literaturspur, in der die Identitätsproblematik verquickt ist mit einem spielerischen Sprachskeptizismus.

Nicht zu finden ist der in den zwei lediglich in den Erzählfluß eingeschobenen und durch Kursivdruck auch optisch abgehobenen Geschichten der jeweiligen Frau des jeweiligen Cherubin Hammer. Auffallend ist an beiden Geschichten zudem, daß hier „ordentlich“ bzw. „geordnet“ im Sinne von traditionell erzählt wird und das, obgleich man sich auch hier ein aufregenderes Leben hätte vorstellen können. Im Gegensatz zu den Männern jedoch nehmen die beiden Frauen mit den „gewöhnlichen“ Namen (Rosa Fässler, Bertha Schmied) ihr Erdendasein so, wie es ist. Bildungs-, Zuwendungs-, Zuneigungs- und Zärtlichkeitsverzicht werden akzeptiert, scheinbar ohne daß daraus innere Unruhe oder Unzufriedenheit erwachsen, im Gegenteil.

Am Ende des Buches stellt sich die Frage, wer nun hinsichtlich seines Lebens am meisten zu bedauern ist bzw. wer nun das „wirklichere“ Leben gelebt hat. Es scheint dies jedoch eine Frage, auf die sich keine eindeutige, keine alle vereinende Antwort finden lassen wird. Denn während für die einen „wirklich“ gleichzusetzen ist mit laut, schrill, aufregend, spannend und Ausbruch, bedeutet es für die anderen das mehr oder minder genußvolle, leise Akzeptieren und Sich-Einrichten im alles andere als „lustigen“ Gegebenen. Ob sich dabei allerdings Männer und Frauen - wie im Buch - voneinander unterscheiden, bleibt dahingestellt. Zumindest scheint der Druck nach Selbstbehauptung und Selbstdarstellung mittlerweile die Geschlechter mehr denn je zu einen und gerade deshalb auch wieder, wenn auch anders, zu trennen. Vielleicht aber ist es ja bei Bichsels Geschichte(n) auch eine Frage der Generationen. Trotz aller Schweizbezüge handelt es sich hier jedoch auf keinen Fall um ein allein auf die helvetischen Landesgrenzen beschränktes Dilemma - auch wenn die Initialen von Cherubin Hammer einen solchen Gedanken aufkommen lassen können.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 6/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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