Eine Rezension von Herbert Mayer


Wer kennt Haffner?

Thomas Glavinic: Carl Haffners Liebe zum Unentschieden

Roman.

Verlag Volk & Welt, Berlin 1998, 231 S.

 

Wer ist Carl Haffner, der das Unentschieden im Schach so lieben soll? Den Namen wird man in den Annalen des Schachsports vergebens suchen. Und dennoch existiert ein historisches Vorbild der Romanfigur: der Österreicher Karl Schlechter. Der 1874 geborene Großmeister gehörte zu Beginn unseres Jahrhunderts zu den stärksten Spielern. Er gewann in diesen Jahren gut besetzte Turniere in München, Ostende, Prag und Hamburg. Schlechter wurde gerühmt und berühmt durch seine herausragende Kenntnis der Schacheröffnungen, für seine positionell angelegten Partien und für seinen auf Sicherheit bedachten Stil. Von 700 Turnierpartien spielte er über die Hälfte unentschieden. Zum Höhepunkt in der Karriere des bereits 1918 Verstorbenen wurde aber der Kampf um die Weltmeisterschaft 1910.

Der Autor knüpft seine Erzählung an den Weltmeisterkampf Haffners gegen den Berliner Emanuel Lasker, seine Spielorte sind Wien und Berlin. Im Unterschied zu Schlechter-Haffner ist Emanuel Lasker historisch verbürgt. Der Weltmeisterkampf Haffner-Lasker bildet die eine Handlungs- und Erzählebene, eine zweite läßt der Autor durch Rückblenden auf Haffners Lebensweg und Familiengeschichte entstehen.

Vor der entscheidenden letzten Partie der Weltmeisterschaft, die auf 10 Partien angesetzt war, hatten die beiden Kontrahenten achtmal gegeneinander unentschieden gespielt. Haffner erwies sich als genialer Verteidigungsspieler und ließ sich vom Weltmeister nicht bezwingen. Seit der 5. Partie, die der als unschlagbar geltende Lasker durch einen groben, ansonsten nur für Anfänger typischen Fehler verlor, lag Haffner in Führung. Ein Remis in der letzten Partie hätte ihm zum Weltmeistertitel gereicht. Doch der Gedanke, Weltmeister zu werden und den damit verbundenen Erwartungen nicht gerecht werden zu können, machte ihm Angst. Er glaubte, bei einem Unentschieden habe er den Titel nicht verdient, müsse daher unbedingt gewinnen. Haffner verließ seinen sicheren, auf Unentschieden geeichten Stil und legt die Partie offensiv an. Er überraschte damit Gegner, Zuschauer und Freunde. Nachdem Haffner einen klaren Gewinnzug übersah, vermied er - um zu gewinnen - den Weg zum sicheren Remis, verrechnete sich jedoch und verlor - unfaßbar für seine mitgereisten Wiener Schachfreunde - noch die Partie und den fast sicher geglaubten Weltmeistertitel. Lasker blieb zur Freude der Berliner Weltmeister.

Glavnics erster Roman bietet mehr als nur die sportliche Auseinandersetzung zweier Schachgrößen auf den 64 Feldern des königlichen Spiels. Er führt das Aufeinandertreffen zweier unterschiedlicher Welten, zweier unterschiedlicher Lebensauffassungen und zweier unterschiedlicher Charaktere vor. Manches mag überhöht worden sein, so wenn er die Hoffnungen, Erwartungen, ja die Euphorie der Österreicher, die sich mit dieser Weltmeisterschaft verban den, aufleben läßt. Dennoch gelingt es ihm, das öffentliche Interesse, die Atmosphäre der vollen Spielsäle in Wien und Berlin, den dramatischen Wettkampfverlauf, das Medienereignis, auf das sich die Presse (durchaus sensationsgierig) stürzt, dem Leser nahezubringen. Und noch eines erreicht der Autor: die Sympathie des Lesers für Haffner zu gewinnen. Haffner stellt sich als zwar etwas scheuer, zuweilen gar lebensfremder Mensch dar, der aber bescheiden und asketisch sein Leben seiner Leidenschaft, dem Schachspiel, unterordnet. Traumhaft erfolgt sein Aufstieg in der Schachwelt. Schon bald nach der Schulzeit kann er - manchmal mehr schlecht als recht - seinen Lebensunterhalt vom Schach bestreiten. Er schreibt Schachkolumnen für Tageszeitungen, analysiert für angesehene Schachzeitungen und spielt in den Wiener Schachvereinen und Caféhäusern Schach. Schnell wird er zum stärksten Spieler Wiens, belegt vordere Plätze bei international gut besetzten Turnieren und gewinnt schließlich zahlreiche Veranstaltungen, an denen die Schachgrößen seiner Zeit teilnehmen. Er bleibt immer eng mit seiner Familie verbunden, sorgt für seine Mutter, eine Toilettenfrau, und für seine Halbschwester Lina, eine Klavierlehrerin. Als er am Ziel seiner Wünsche und auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn steht, scheitert der Romanheld Haffner. Daß dies zwangsläufig ist und keine andere Lösung möglich ist, hat der Autor, ohne das Ergebnis vorwegzunehmen, dem Leser bereits schon lange vorher klargemacht. Haffner selbst ist nach der Niederlage körperlich angegriffen, hat beträchtlich an Gewicht verloren und muß für mehrere Monate das Bett hüten. Als er wieder halbwegs bei Kräften ist, nimmt er erfolgreich an verschiedenen Turnieren teil. Lasker läßt sich jedoch nicht auf den von Haffners Freunden erstrebten Revanchekampf ein. Als der Erste Weltkrieg ausbricht, kommt Haffner finanziell und materiell in starke Bedrängnis, denn nun läßt sich mit Schach kaum das Nötigste zum Lebensunterhalt verdienen. Zudem ist er zu stolz und zu bescheiden, einschlägige Geldangebote von Mäzenen anzunehmen. Nach einem Turnier Ende 1918 in Budapest bricht er auf der Straße zusammen und wird in ein Krankenhaus wegen einer - wie die Diagnose zunächst lautet - Lungenentzündung eingeliefert. Das Bewußtsein erlangt Haffner nicht wieder, er stirbt an Unterernährung, ist verhungert. Die Tragödie seines Lebens hat sich vollendet.

Die psychologisch und spannend dargestellte Person Haffners kontrastiert in vielem zu Weltmeister Lasker, der im Roman weniger gut weg kommt und insgesamt als Figur blaß bleibt. Es war offenbar nicht das Anliegen des Autors, das Lebensbild Laskers, der als Wissenschaftler über die Schachwelt hinaus durchaus kein Unbekannter war, biographisch nachzuzeichnen.

Nachgetragen seien einige Lebensdaten Laskers. 1868 im preußischen Provinznest Berlinchen geboren, wurde er 1894 im Wettkampf gegen Steinitz Weltmeister und trug diesen Titel bis 1921, als er dem Kubaner Capablanca unterlag. Auch danach bewies er sich in zahlreichen internationalen Turnieren als Sieger. Seinen letzten großen Erfolg feierte er, der 1933 aus Deutschland fliehen mußte, als Sechsundsechzigjähriger 1935 in Moskau, wo er hinter Botwinnik und Flohr den 3. Platz belegte.

Insgesamt ein gelungener Romaneinstand von Glavinic, der bisher vor allem Essays, Erzählungen, Reportagen und Hörspiele schrieb. Es gelang ihm hervorragend, historisches Tatsachenmaterial zu einem spannenden Roman zu verarbeiten. Durch die ingesamt lebhafte und doch nüchtern bleibende Erzählweise ist das Buch alles andere als eine trockene Lektüre. Man merkt auch, der Autor - Jahrgang 1972 - ist mit der Schachatmosphäre bestens vertraut, als Jugendlicher kam er zu Ehren im österreichischen Schach.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 5/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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