Eine Rezension von Licita Geppert


„...daß sogar die frömmsten Juden statt zu Gott zu Schindler beten“

Stella Müller-Madej: Das Mädchen von der Schindler-Liste

Aufzeichnungen einer KZ-Überlebenden.

Aus dem Polnischen von Bettina Thorn.

Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1998, 278 S.

Anne Frank, Victor Klemperer, Simon Wiesenthal, Art Spiegelmann, Inge Deutschkron, Dawid Rubinowicz, Stella Müller - all diese Namen stehen stellvertretend für die Millionen jüdischer Opfer, deren namenlosem Leid sie eine Stimme verliehen haben. So unterschiedlich wie das individuelle Schicksal des Einzelnen sind die Darstellungsweisen: Tagebuch, Erinnerungen, literarische Schriften, Zeichnungen. Und so gleichartig wie das kollektive Erleiden der Schmach, der Angst, des Entsetzens sind die Bilder, die diese Zeugnisse der Welt vermitteln. Dennoch oder gerade deswegen ist die Sehnsucht nach Verdrängung unter den Nicht-Betroffenen groß.

Bereits 1991 im Selbstverlag in Krakau erschienen, erlangten die vorliegenden Erinnerungen der Stella Müller-Madej bezeichnenderweise erst durch den Film „Schindlers Liste“ von Steven Spielberg ihre Bedeutung, obwohl sie ein Dokument von eigenständigem Rang darstellen und der Abschnitt über Schindler nur einen geringen Teil ausmacht. Dergestalt „geadelt“, bereichert Stella Müller unsere Sichtweise des Films: Im Buch erfahren wir, daß Oskar Schindler nicht in Hollywood-Manier zu einer Lichtgestalt hochstilisiert wurde, sondern daß er tatsächlich diese einzigartige menschliche Größe besaß, die uns der Film vermittelte.

Stellas Weg zu Schindler war lang. Er führte das 1930 geborene Mädchen vom Krakauer Ghetto über das in Krakaus Umgebung gelegene Lager Plaszów bis nach Auschwitz. Sie erlebt in ihren Erinnerungen jeden Schritt der Demütigung, der Entrechtung, der Angst, der Gewalt noch einmal nach; für den Leser ersteht alles vor dem inneren Auge aufs neue. „Eines Nachts träume ich von einer Gaskammer und schreie im Schlaf. Mama schlägt mich, dann umarmt sie mich und beginnt zu weinen. Nichts ist schlimmer, als sie weinen zu sehen.“ Jede Station erscheint bereits als die schlimmste aller Höllen, doch jedesmal ist eine Steigerung des Grauens möglich. Stella erlebte die einfache Wahrheit, daß in derartigen Ausnahmesituationen „die Guten besser und die Schlechten schlechter“ werden, wie Hannah Pick, die Freundin Anne Franks, es einmal formulierte. Es ist tatsächlich so, daß Schindler Stella und mit ihr Hunderte andere buchstäblich in letzter Sekunde vor der Vergasung rettete. Damit jedoch bürdete er sich und seiner Frau eine schwere Verantwortung auf, denn schließlich bedeutete es für Schindler den Einsatz seines Lebens, all die vielen Menschen nach ihrer Errettung aus unmittelbarer Lebensgefahr unter den argwöhnischen Augen der SS auch weiterhin am Leben zu erhalten. Unglaubliche Gerissenheit, unvorstellbarer Mut, aber auch Selbstverleugnung und aberwitzige Verstellungskünste waren dazu notwendig. Schindler und seine Schützlinge bezogen offensichtlich die Kraft zum Durchhalten einer vom anderen. Beide Seiten wußten dennoch, daß für das NSDAP-Mitglied Schindler die Schwierigkeiten nach Kriegsende erneut beginnen würden, weshalb die Häftlinge ihm eine Art Geleitbrief mit den Unterschriften sämtlicher Lagerinsassen ausstellten und bei der Befreiungsarmee eine Schutzzusicherung für ihn und seine Frau erwirkten. „Sie hatten Schindler einem Offizier, der Jude war, übergeben und ihm unser Schreiben ausgehändigt. Er hatte einen heiligen Eid geschworen, daß Schindler, seiner Frau und selbst den Hunden kein Haar gekrümmt würde.“

Die sehr genauen Erinnerungssplitter Stellas fügen sich mosaikartig zu einem Gesamtbild, das über einen einfachen Bericht weit hinausreicht. Mit literarischem Gespür für das Ausmalen einer Szene schildert sie unsentimental und ohne Anklage ihre Erlebnisse, die für sich selbst sprechen. Es gelingt ihr, die Sichtweise des jungen Mädchens wiedererstehen zu lassen, ihre kindliche Verwunderung über die Geschehnisse und über die Art, wie Menschen grundlos zu Bestien wurden. Der polnische Originaltitel lautet nicht umsonst in der Übersetzung Mit den Augen eines Kindes. Diesem ergreifenden Buch gebührt neben vielen anderen ein Platz kollektiven Gedächtnis der Menschheit.


(c) Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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