Eine Rezension von Gisela Lüttig


Die Stadt und ihre Dichter

Hartmut Binder:

Prag

Literarische Spaziergänge durch die Goldene Stadt.

Klett-Cotta, Stuttgart 1997, 318 S.

Manche Städte sind einem vertraut, noch ehe man ihnen persönlich begegnet ist: London zum Beispiel, Paris oder Prag. Vertraut, weil man so oft über sie gelesen hat. Nicht unbedingt in Reisebeschreibungen, sondern in Atmosphäre vermittelnder Prosa. Die Unebenheit eines Straßenpflasters, die Gerüche der Höfe, der Glanz von Palästen und Kirchen - oder auch die Tristesse ihrer bröckelnden Pracht -, die Düfte ihrer Gärten und Parks, die Betriebsamkeit der Passanten, das und viel mehr machen Romane, Novellen, Memoiren, auch Verse erlebbar und verleiten dazu, sich ein Bild zu machen. Und wenn man Glück hat, entspricht es der Realität, und man muß beim ersten Tête-à-tête nicht ernüchtert Abschied nehmen von einer Vorstellung. Da Städte lebendige, sich verändernde Gebilde sind, ist allerdings eine völlige Übereinstimmung nicht zu erwarten. Wer zum Beispiel das Berlin Raabes oder Döblins sucht, wird es nicht mehr finden. Das Prag Kafkas oder Kischs hingegen läßt sich durchaus noch entdecken, denn in dieser Stadt sind die Steine weitgehend aufeinander geblieben, das 17., 18., 19. Jahrhundert ist präsent in Straßenzügen, Kirchen, Palästen, Gärten, Brücken usw. (abgesehen von dem Ghetto in der Josefstadt, das nach 1893 bis auf wenige Gebäude abgerissen wurde).

Hartmut Binder, Professor für Sprache und Literatur, hat literarische Zeugnisse über Prag zusammengetragen und in sechs Spaziergänge geordnet, eine Art Ariadnefaden, der den Besucher durch die Straßen und die Literaturgeschichte lotst. Die Stadt, in der über Jahrhunderte tschechische und deutsche Autoren nebeneinander (bisweilen auch miteinander) existierten, ist Schauplatz einer sehr großen Zahl literarischer Werke. Sie und die Biographie der Autoren entschieden über die Wegstrecke. Das heißt: Der Wegeplan berührt sowohl Wohn- und Wirkungsstätten der Autoren als auch Schauplätze ihrer Bücher. Am ergiebigsten sind natürlich die historischen Zentren, die Altstadt also und die Kleinseite.

Hartmut Binder betätigt sich dabei als Stadtführer, d. h., er vermittelt kunsthistorisch, architektonisch oder stadtgeschichtlich Wissenswertes über die wichtigsten Bauwerke, Skulpturen, Plätze, Gärten usw., ebenso bietet er eine Kurzbiographie der mehr als dreißig Schriftsteller, die durch Werk oder Lebenslauf in einer Beziehung zu dem jeweiligen Spaziergang stehen. Zwischendurch kommen die Autoren durch teilweise längere Zitate zu Wort, in denen sich der Ort topographisch identifizieren läßt oder als Kulisse sozialer, emotionaler, politischer, historisch denkwürdiger oder subjektiv belangvoller Abläufe erweist. „Der zweite Spaziergang“ zum Beispiel, überschrieben „Die geheimnisvolle Stadt Meyrinks. Über die Kleinseite zum Hradschin“, führt vom Malostranské námestí zum Waldstein Garten (über den Verse von Detlev von Liliencron und Prosa von Peter Härtling zitiert werden), von dort zum Palais Thun, ein Schauplatz von Gustav Meyrinks Roman Walpurgisnacht (1917), und zum Palais Thun-Hohenstein in der Nerudova, das Max Brod in seinem Roman Prager Tageblatt beschreibt. Das Geburtshaus Jan Nerudas ist Anlaß, eine kurze Schilderung aus seinen Kleinseitener Geschichten einzufügen. Über Loretánské námestí gelangt man schließlich zu einem längeren Aufenthalt auf den Hradschin und hat auf diesem Weg neben kultur- und kunsthistorisch beachtenswerten Bauwerken und Straßen mancherlei über die Schriftsteller Svatopluk Cech, Max Brod, Peter Härtling, Franz Kafka, Detlev von Liliencron, Gustav Meyrink, Jan Neruda, Leo Perutz, Rainer Maria Rilke, Christian Saalberg, Inge Thiele und Johannes Urzidil erfahren.

Da Hartmut Binder sich als Kafka-Spezialist ausgewiesen hat, nimmt Kafka in diesem Band auch den ersten Platz ein. Mit Akribie werden Schauplätze betrachtet, die in sein erzählerisches Werk Eingang gefunden haben oder die seine Biographie berühren. (Sie haben oft die Wohnung gewechselt, die Kafkas, es gibt also mancherlei Häuser, die eine Gedenktafel tragen müßten.)

Man sollte über ein gutes Orientierungsvermögen verfügen, denn in dem Bemühen, nichts auszulassen, führt der Autor mitunter kreuz und quer und hin und zurück durch die Straßen und Gassen, und gerade im Gewirr der Altstadt verliert man sehr schnell die Richtung. Da wünschte man sich eine markierte Wegeskizze; die beiden Pläne auf dem Vorsatz sind nur für einen groben Überblick geeignet.

Das Buch erweist sich als eine gelungene und ausgewogene Verbindung von Literatur- und Stadtgeschichte. Von den Leseproben sind jene am eindrucksstärksten, die die Atmosphäre der Stadt greifbar machen (z. B. aus Nerudas Kleinseitener Geschichten) oder die biographisch Wesentliches berühren (Kafkas Schulweg, beschrieben in einem Brief an Milena). Nur selten ist der Bezug zum Standort nicht unbedingt zwingend: Leo Perutz’ Kaiserdialog vermittelt wenig Lokalkolorit, und Manfred Bielers anschauliche Verführungsszene ist wohl auch nur sehr bedingt charakteristisch für den Ort des munteren Treibens.

Ein wichtiges Kapitel deutsch-tschechischer Literaturgeschichte fehlt leider völlig: das Wirken deutscher Emigranten in Prag, teils als Autoren, teils als Mitarbeiter von Exilzeitschriften („AIZ“, „Neue Deutsche Blätter“, „Die Neue Weltbühne“, „Die Welt im Wort“) oder des Malik-Verlags. In dem Zusammenhang vermißt man vor allem die Stimme von Lenka Reinerová, Pragerin, Mitarbeiterin deutscher Emigrantenzeitungen, befreundet mit Egon Erwin Kisch, verheiratet mit Theodor Balk. Sie hat in den letzten Jahren Erzählungen auch über Prag publiziert.

Den informativen und faktenreichen Kommentar wünscht man sich gelegentlich stilistisch flüssiger, auch sorgsamer. (Von Kafkas Tagesablauf ist beinahe textgleich an zwei Stellen die Rede. Von seiner Kindheit heißt es, sie sei unter „ungünstigen Rahmenbedingungen“ verlaufen - womit gemeint ist, daß er zunächst als Einzelkind aufwuchs und die Mutter, wegen ihrer Berufstätigkeit, ihn oft sich selbst oder der fragwürdigen Obhut des Personals überließ. Im folgenden Satz ist dann von dem „ängstlich behüteten“ Kind die Rede.) - Die häufigen Seitenverweise im Text könnte ein Personenregister übernehmen; auch das würde die Lektüre angenehmer machen.

Jedoch sind das kleine Schönheitsfehler, die den Gewinn, mit Hilfe des Buches die Stadt Prag und ihre Dichter zu entdecken, nicht schmälern werden.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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