Eine Rezension von Gisela Lüttig


„Auch Weltanschauung kann Heimat sein“

Marcus G. Patka (Hrsg.):

Der rasende Reporter Egon Erwin Kisch

Eine Biographie in Bildern.

Mit einem Vorwort von Hellmuth Karasek.

Aufbau-Verlag, Berlin 1998, 303 S.

Auf die Welt gekommen ist er in Prag, und dort hat er sie auch wieder verlassen. Mißt man sein Leben nach Jahren, hat er kein biblisches Alter erreicht; bewertet man es nach der Intensität, war es ungleich länger.

Was über ihn als Journalist, Erzähler, Dramatiker, Freund, Mensch, Menschenfreund, Weltreisender, Soldat, Revolutionär, Emigrant zu sagen ist, ist vielfach formuliert in Biographien, Dissertationen, Genreuntersuchungen, Erinnerungen. Daß Kisch ein Mann des öffentlichen Interesses wurde, hat natürlich mit seinen literarischen Leistungen zu tun, aber auch damit, daß sein soziales und politisches Engagement ihn stärker als andere berühmte Zeitgenossen teilhaben ließ an Ereignissen, die inzwischen als Eckdaten in historischen Jahrbüchern genannt werden.

Die vorliegende Biographie des österreichischen Germanisten Marcus G. Patka, greift auf vorhandene Aussagen zurück, ordnet sie in fünf Kapiteln, deren Überschriften bezeichnender weise Privates mit Zeitgeschichtlichem verbinden („Jugend im Untergang der alten Welt“ heißt die erste, „Europa nach dem Krieg“ die letzte), und ergänzt es durch annähernd dreihundert Abbildungen. Oder ist es umgekehrt, werden diese durch das Wort ergänzt? Unwichtig über die Dominanz zu spekulieren, wichtig dagegen, daß sich beides, Wort und Illustration, hervorragend und aussagekräftig zur Einheit fügen.

Bereits nach dem ersten Durchblättern ist man erstaunt über die Vielzahl von Fotos, Karikaturen, Porträtzeichnungen, die erhalten geblieben sind aus diesem von Kriegen und mehrfachem Exil gesprägten Leben. Viele kennt man aus anderen illustrierten Kisch- Publikationen, manches ist unbekannt, in der Menge bisher jedenfalls so nicht vereint. Kisch ist auf mehr als der Hälfte der Abbildungen präsent, die übrigen zeigen Freunde, Verwandte, wichtige Zeitgenossen, Stadtansichten, Straßen, Gebäude, Räume, Kriegsschauplätze, die für dieses Leben relevant waren; Faksimiles der bemerkenswert verschnörkelten Handschrift, Illustriertenseiten, Ausweise, Schutzumschläge. Das Anschauen also macht schon mal Spaß, und ehe man sich festliest, sieht man sich fest. Was Hellmuth Karasek in seiner einfühlsamen Einführung feststellt, bestätigt sich dem Betrachter: Kisch ist auf jedem Foto erkennbar, bleibt sich also beinahe gleich über die Jahre; andererseits aber hat er sich „seinen Themen angeglichen in einer Mimikry, zu der nur ein genialer Beobachter, also anteilnehmender Reporter fähig ist“. Er ist der Dandy auf dem Rennplatz mit umgehängtem Feldstecher, Stock und Hut, ein wenig überragt von der Freundin. Er ist der Matrose, der auf dem Schiff im Panamakanal den Kamin streicht, er ist der Mexikaner in Mexiko und der alternde Jude auf dem Friedhof in Prag.

Und dann natürlich die Fotos, die Vertrautheit, Freundschaft oder wenigstens Bekanntschaft mit anderen bedeutsamen Zeitgenossen belegen: Kisch mit Charlie Chaplin, Upton Sinclair, Diego Rivera, Thomas Alpha Edison, Anna Seghers, Ludwig Renn, auch mit dem späteren Thronfolger Karl von Habsburg. - Oder die ihn an legendären Orten zeigen: vor dem Haus zu den drei goldenen Bären in der Prager Melantrichgasse, seinem Geburtshaus, im Berliner Romanischen Café, auf dem Kongreß zur Verteidigung der Kultur 1935 in Paris, in Australien mit gebrochenem Bein nach dem Sprung von der „Strathaird“, um die Landung zu erzwingen, und bei den Internationalen Brigaden während des Spanischen Bürgerkriegs.

Die Texte, die diese Bilder zur Biographie runden, bestehen zu einem großen Teil aus Selbstäußerungen. Soweit sie autobiographischen Charakter tragen, boten sich Briefe oder sein Erinnerungsbuch Marktplatz der Sensationen an. Die übrigen Reportagesammlungen eigneten sich für Aussagen zu Kischs weltanschaulichen Positionen, zu seinen Unternehmungen und Aktionen - was und wie er ein Ereignis kommentierte, welche Reportagethemen er wählte, was ihm auf seinen ausgedehnten Reisen bemerkens- und aufschreibenswert schien, das macht dieses Leben über die biographischen Daten hinaus begreifbar.

Das alles ist gemischt mit Äußerungen über Kisch, teils geschrieben zu seinen Lebzeiten, teils in den 50 Jahren, die seit seinem Tod vergangen sind. Erinnerungen anderer, vielfach verfaßt für Publikationen, die 1955 und 1985, also zum 70. und 100. Geburtstag Kischs, vom Aufbau-Verlag herausgebracht wurden (Kischkalender und Servus, Kisch!). Oder Reminiszenzen aus Autobiographien (Klaus Mann, Alfred Kantorowicz, Steffie Spira, Bruno Frei, Manès Sperber u. a.). Viel Freundliches wird da gesagt, aber schöngeredet wird nichts und niemand. Es entsteht, so scheint es jedenfalls, ein Kisch-Porträt, das dem Original gerecht wird.

Das Nachwort von Marcus G. Patka tut dazu ein übriges. In einer präzisen, knappen und sorgfältigen Sprache kommentiert und interpretiert es Lebenslauf, politisches Engagement und schriftstellerische Ambition und Leistung. Es ist der Versuch, den jahrzehntelang im Osten wie im Westen nach eigener Interessenlage zurechtgestutzten Autor Egon Erwin Kisch möglichst sachlich nahezukommen, ihn als das zu zeigen, was er war: ein Internationalist, ein Weltbürger.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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