Eine Rezension von Rainer Bert


Ein nützliches Nachschlagewerk über den Nationalsozialismus

Wolfgang Benz/Hermann Graml/Hermann Weiß (Hrsg.):

Enzyklopädie des Nationalsozialismus

Klett-Cotta, Stuttgart 1997, 400 S.

Den Herausgebern ist es gelungen, ihre Absicht zu erreichen, präzise und detaillierte Informationen über den Nationalsozialismus zusammenzufassen und in überschaubarer, leicht handhabbarer Form darzubieten. Man kann ihnen auch darin zustimmen, daß die Problematik des Nationalsozialismus - als Ideologie und als praktizierte Herrschaft - auch mehr als 50 Jahre nach dessen Untergang in der deutschen Geschichte kein abgeschlossenes Thema ist. Vielmehr dauern gegenwärtig, auch nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten, die alltäglichen Debatten um den Nationalsozialismus an.

Der Band besticht durch seine thematische Breite und den Umfang sowie die Qualität des aufgearbeiteten Materials. Die Vermittlung des gesicherten Wissens erfolgt fast durchweg sachlich nüchtern, auch Forschungsdefizite und wissenschaftlich offene Fragen werden (zumindest teilweise) benannt. Hervorzuheben ist auch, daß dem Interessierten eine Fülle von Literaturhinweisen für weiterführendes Lesen gegeben werden, auch das Verweissystem auf andere Texte im Band ist ausgezeichnet.

Das Mitarbeiterverzeichnis weist 132 Autoren aus dem In- und Ausland aus. Von den deutschen Autoren stammen die wenigsten aus der früheren DDR, auch einige Spezialisten aus der heutigen bundesdeutschen Wissenschaftslandschaft vermißt man.

Der Band gliedert sich in drei Teile.

Der I. Teil, „Handbuch“ betitelt, umfaßt 26 Artikel. Sie behandeln Ideologie, Führer- und Hitlerkult, Propaganda, Rassenpolitik und Völkermord, Außenpolitik, Justiz und Verwaltung, Wehrmacht, Wirtschaft, Sozialpolitik, Wissenschaft, Kunst (bildende Kunst/Architektur, Literatur und Theater, Film, Musik, Unterhaltung), Kirchen und Religion, Jugend, Frauen, Medizin, Sport, Technik, Verfolgung, Emigration, Widerstand, Weltkrieg 1939-1945 und Quellen zum Nationalsozialismus.

Leider fehlt ein Beitrag über die wissenschaftliche Aufbereitung und den Umgang mit dem Erbe des Nationalsozialismus nach 1945 in beiden deutschen Staaten und seit 1990 insgesamt. Nicht verständlich ist, daß der NSDAP und ihren Strukturen in diesem Teil kein selbständiger Beitrag gewidmet wurde, gleiches gilt für einen zusammenfassenden Beitrag zu Staat und Gesellschaft wie auch über die Vorgeschichte des faschistischen Machtantritts. Nicht unproblematisch erscheint andererseits die Trennung von Verfolgung, Emigration und Widerstand in eigenständige Beiträge.

Der II. Teil umfaßt ein Sachlexikon mit etwa 1000 Stichwörtern, die alphabetisch geordnet sind. Die meisten Stichwörter betreffen Begriffe, Prozesse und Ereignisse, Institutionen und Organisationen. Zwei für die Thematik relevante Stichwörter, „Faschismus“ und „Nationalsozialismus“, seien herausgegriffen.

Im Stichwort „Nationalsozialismus“ (Autor ist Wolfgang Wippermann) werden die Vorläufer der NSDAP mit einer nationalsozialistischen Programmatik in Volkstumskämpfen vor dem Ersten Weltkrieg und in der Suche nach einem Weg über Nationalismus und Sozialismus hinaus in der Jugendbewegung der Weimarer Republk gesehen. Nationalsozialismus als Begriff tauchte erstmals 1904 bei der im österreichischen Sudetenland agierenden Deutschen Arbeiterpartei auf, die seit 1918 Deutsche Nationalsozialistische Arbeiterpartei hieß. „Nationalsozialismus“ und „nationaler Sozialismus“ wurden in den zwanziger Jahren als programmatische Begriffe nebeneinander gebraucht. Beiden Begriffsteilen wurde im Namen und in der Programmatik unterschiedliche Wertigkeit beigemessen. Die ideologischen Komponenten des Nationalsozialismus, z. B. Nationalismus mit sozialer Komponente (bzw. Sozialismus in nationaldeutscher Machart), organisierte Militanz, Antisemitismus, antikirchliche Komponenten, finanzpolitische Ansätze und ständische Ideen, erlangten daher unterschiedliche Bedeutung. Eine ausgearbeitete und schlüssige Theorie oder Auslegung legte keiner seiner Vertreter vor.

„Faschismus“ (das Stichwort ist von Karsten Krieger verfaßt) im engeren Sinne wird als die von Mussolini begründete Bewegung bzw. Partei mit ihrer Ideologie und ihrem Herrschaftssystem verstanden. Im weiteren Sinne werden als Faschismus alle ideologisch verwandten Phänomene in Europa nach dem Ersten und bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs bezeichnet, die totalitäre Systeme begründeten oder sich deren Begründung zum Ziel setzten. Als neofaschistisch werden die politischen Bewegungen und Parteien, die n a c h dem Zweiten Weltkrieg an faschistische Zielvorstellungen anknüpften, definiert. Als gemeinsames Merkmal werden herausgestellt: militanter Antikommunismus, Antiliberalismus, prinzipielle Feindschaft gegenüber der Demokratie, extremer Nationalismus, expansive Ziele und rassistische, oft antisemitische Motive. Weiter werden angeführt: Führer- und Gefolgschaftsprinzip, die monolithische Einheit zwischen Partei und Staat sowie die angestrebte politische und oft auch physische Vernichtung des Gegners. An Deutschland und Italien orientierten sich die anderen faschistischen Bewegungen und Parteien Europas. Nationalsozialismus gilt als eine spezifische (deutsche) Variante des Faschismus.

Der III. Teil des Bandes umfaßt Kurzbiographien. Das methodologische Prinzip, keine biographischen Artikel in die vorherigen Teile aufzunehmen und statt dessen hier ein Personenregister mit biographischen Kurzangaben zu bringen, hat seine Vorteile, birgt aber auch seine Tücken. Zum einen ermöglicht es die Aufnahme relativ vieler Personen. Zum anderen ist aber einer Zufälligkeit der Weg geebnet, da das Kriterium für die Aufnahme in Teil III die Erwähnung in einem der vorherigen Beiträge (in Teil I oder II) ist. Ein Beispiel sei genannt: Da im Beitrag „Ermächtigungsgesetz“ der SPD-Vorsitzende Otto Wels genannt ist, wird er folglich im Teil „Personenregister mit Kurzbiographien“ aufgeführt. Um auf dieser „Parteiebene“ zu bleiben: N i c h t enthalten sind aber sein Stellvertreter Hans Vogel oder der KPD-Vorsitzende Ernst Thälmann, da beide nirgends (z. B. bei Widerstand, Verfolgung, Emigration, KPD, SPD) erwähnt wurden.

Daß Defizite und Lücken nicht zu umgehen waren, sind sich die Herausgeber bewußt. Nicht alle Beiträge bieten die gleiche gute Qualität, manche Stichwörter sind zu knapp bzw. zu wenig informativ, zwischen manchen bestehen Disproportionen; einige Stichwörter fehlen (Kriegsvorbereitung, Militarisierung). Das schmälert in keiner Weise das Verdienstvolle des Bandes, seine Mängel sind gering im Vergleich zum Gewinn, den er bringt. Er sollte zum Standardwerk werden und in keiner öffentlichen Bibliothek fehlen.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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