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Lutz Rathenow
Literatur und Bücher
Die Bücher scheinen sich selbst im Wege zu stehen. Gerade die Buchmesse könnte den Besucher vom Lesen abschrecken. Mit jedem gelesenen Buch schließt er Hunderte aus seiner Auswahl aus. Ein Leben reicht nicht, um die Neuerscheinungen dieses Herbstes zu lesen. Dagegen hilft nur: Bücher zu ignorieren. Aber es wird weitergeschrieben. Es wird an der Berufsbezeichnung Schriftsteller festgehalten, während der Ruf Ich bin Dichter! seltener wird. Junger Dichter (eine ungenaue Zuordnung) gilt längst als Synonym für trottelige Erscheinung.
Existiert in Deutschland eine Nord-Süd-Grenze als Pathos-Grenze? Ich hüte mich, mit genauen Verläufen zu operieren. Aber im Norden wird Lyrik mehr in ihren parodistischen Endzeitvariationen praktiziert. Peter Rühmkorf als Beispiel: jederzeit ironiebereit. In Südwestdeutschland, in Bayern und der Schweiz werden Dichter wie Peter Huchel, Johannes Bobrowski oder Reiner Kunze geachtet. Gelegentlich sogar gelesen. Man billigt dem Dichter ein suggestives Wollen zu, das sich in starken Metaphern äußert und eine religiöse Beziehung zur Welt verrät. Auch, wenn Gott dabei keine Rolle zu spielen scheint. Demgegenüber die Prinzipien der Demontage aller Prinzipien, die jede Sehnsucht nach Ganzheit schon im Detail ad absurdum führen.
Die traditionelle Dichterpose, in Tübingen, Freiburg oder der Innerschweiz vorstellbar, wandelt sich in Hamburg oder Berlin zu einer, in der sich der oder die was einfallen lassen müssen, um ihr Werk rüberzubringen.
Lieber gleich verfilmen? Auf einen Video-Clip spekulieren? Originell das Publikum beschimpfen? Oder zur Musik tanzen und den Sound betexten? Vor einem Jahr bot mir einer eine Beteiligung an einem Wettlesen in Göttingen an - Motto: Kack in den Teich. Brecht würde seinen Ruf Glotzt nicht so romantisch! in Tut nicht so brutal! umändern.
Ich lebe in einer deutschsprachigen Hochkultur, die ihre Rituale (trotz zunehmender Geldknappheit) pflegt und gern an Literatur erinnert: als an etwas für die Gesellschaft Nötiges. Die Häufigkeit der Preise, Einladungen zum Essen und diversen Empfängen versuchen vergessen zu machen, daß gelesene Bücher in diesen Ritualen die geringere Rolle spielen. Es ist halt alles unübersichtlich, was da Autoren (und jene, die sich dafür halten) Jahr für Jahr zusammenschreiben - wer blickt da noch durch. Eine Art Protest gegen die neue Unübersichtlichkeit der Produkte ist die Verweigerung größerer Leserschichten gegenüber der aktuellen deutschen Gegenwartsliteratur. Auf dem altbundesdeutschen Buchmarkt dominiert die anspruchsvolle bis geschickt verfertigte ausländische Literatur. Ein Zeichen für Weltoffenheit? Oder für gewollte Ablenkung von den anstrengenden einheimischen Verhältnissen? Sicher beides. Aber es wird ein durch Übersetzung oftmals von Eigenwilligkeiten gereinigtes Deutsch gelesen. Der andere Verlag, der Agent als Makler, der deutsche Übersetzer sorgen sich um Lesbarkeit. Und der Autor gerade aus dem Englischsprachigen denkt oft schon beim Schreiben an die Verkaufbarkeit. Der Deutsche sicher auch, er darf das nur den Kritiker nicht merken lassen, will er von der Kritik noch ernstgenommen werden. Ein wenig schwierig sollte der Text schon wirken.
Ja, ich lebe auch in einer post-literarischen Medienwelt, die Textvorlagen für Dinge braucht, die dann mit dem Text nicht mehr viel zu tun haben. Im Theater kennen Autoren das Problem seit Jahrzehnten, ihren Text in einer Aufführung nicht mehr wiederzufinden. Nicht immer zum Nachteil für den Text. Beim Film, beim Fernsehen ist diese Auflösung des Originals ein Prinzip der Zusammenarbeit. Vielleicht sind die Werbetrailer die experimentelle Lyrik von heute? Zumindest, was die Kühnheit ihrer Assoziationen und den Frontalangriff auf die Sinnesorgane des Rezipienten betrifft. Die Avantgarde als Vorreiter des Kommerz, eine merkwürdige Konstellation. Die neuen Medien verwirren die gesicherten Begriffe weiter. Es gibt erste Autoren, die kein Papier mehr für ihre Arbeit benutzen. Die Schrift wird, auch rein technisch, zu etwas immer schneller Erstellbarem, immer rascher über Datennetze öffentlich zur Verfügung Stehendem. Als versuche man durch eine Inflation der Intimität sich vor Betroffenheit zu schützen.
Ein Bekannter las mehrere erfolgreiche amerikanische Romane hintereinander und schlußfolgerte, daß alle nicht schlecht seien und doch aufgebläht wirkten. Als wären zwanzig Prozent zuviel Text in sie hineingeschwemmt worden. Als Erklärungsversuch kamen wir auf Computer und Schreibprogramme, die zahlreiche Verknüpfungen, Aufnehmen von Zitaten, Korrigieren von Fehlern, Einfügen von Ergänzungen leicht ermöglichen. Sie verführen zum Viel-Schreiben. Nicht umsonst beharren Lyriker gelegentlich auf Stift oder Federhalter: Der Widerstand des Materials beim Beschreiben eines Blattes, das dann kein zweites Mal genutzt werden kann. Anders der Bildschirm, er enthemmt. Schreiben als eine Art Diktiervorgang, gut und hilfreich für rasches journalistisches Arbeiten.
In der Literatur, die in ihrem Kern immer noch mit Dichtung zu tun hat, dürfte eine Epoche der Kargheit voraussehbar sein: Zu inflationär beglücken uns die dicken Epochenromane und die Imitate der Imitate. Das provoziert Widerstand. Kürzlich hörte ich bei einer Diskussion einen Spruch, dem einer sofort zustimmte: Er besucht keine Buchhandlung mehr, zu aufdringlich, schrill und bunt kämen ihm da die Bücher entgegen. Ja, die beiden kamen aus dem Osten. Und damit wäre die weiter wirkende DDR-Literaturzeit erreicht. Mindestens meine Generation inspiriert und lähmt sie gleichmaßen. Für den Leser von außerhalb eher eine Bereicherung, weil der sich die Resultate herauspicken darf: die entstehenden Bücher. Die Post-DDR-Gesellschaft verschwindet langsam, ohne sich wirklich aufzulösen. Die ständig aufflackernden Diskussionen haben mit diesem Bedeutungswandel zu tun. Mit dem Staate DDR verschwand auch der alte Staat Bundesrepublik. Das tritt langsam als Problem hervor - auch für den DDR-Bürger, der den Westen so haben wollte, wie er ihn zu kennen glaubte.
Zum Beispiel mit einem labyrinthisch verzweigten öffentlichrechtlichen Rundfunk, der viele Möglichkeiten für Hörer und Autoren bereithält. Oder bereithielt? Diese reduzierten sich schnell und beträchtlich. Auch beim neuen SFB-3-Ersatz Radio Kultur fallen offenbar Termine für literarische Originallesungen weg. Statt viermal Passagen im Monat stehen den Autoren nur noch 3 Termine zur Verfügung. Wir aus dem Osten wollten die westliche Buch- und Buchverteilungs-Kultur. Die strukturiert sich gewaltig um. Natürlich nölen besonders Autoren über die neuen Umstände. Das gehört auch zu ihrem Beruf. Der Verlust des Bedeutungsmehrwertes für alle DDR-Autoren (und für Westautoren, die in der DDR verlegen durften) erzeugt eine zusätzliche Abwehr der gegenwärtigen Verhältnisse gerade bei Schriftstellern. Dazu kommt die ökonomische Krise West, die auch bei Westlern das Gefühl abruft, mit der deutschen Einheit gingen bei ihnen langsam die Förderstrukturen kaputt. Welche Rolle bleibt für den Autor? Engagieren, auch wenn er sich nicht parteipolitisch festlegen lassen sollte? Bloßes Unbehagen verbreiten? Rädchen im Getriebe der Unterhaltungsindustrie sein? Alles auf den kalkulierten Erfolg setzen?
In punkto DDR spielen die Nachwirkungen einer demontierten Macht eine Rolle. Und die unausgelebten, nicht diskutierten Verwicklungen dieser Macht gegenüber.
Dabei bietet der deutsche Buchmarkt mit seinem festen Buchpreis noch ein gutes Beispiel für eine klug gezügelte Marktwirschaft, die durch ein ausgetüfteltes System (Preisbindung, Vertreter, Sortiment) kleineren Verlagen einen Wettbewerb ermöglicht. Bricht der Buchpreis zusammen, wird es den (ohnehin schon vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk alimentierten) Beruf des freien Autors nur noch in Ausnahmefällen geben.
Literatur würde sich in die universitären Nischen zurückziehen, ihre Betreiber bieten Kurse in kreativem Schreiben an. Oder der Autor buhlt geschickt um die wenigen freien Plätze auf den Bestsellerlisten. Oder er bemüht sich gleich um ein Kritikeramt.
Was soll der Autor dagegen tun? Neugierig bleiben und weiter schreiben. Auf Zufälle und unerwartete Möglichkeiten vertrauen. Denn wenn einmal etwas gründlich verschwindet, wären alle Chancen für die reine Literatur vorhanden, wieder entdeckt zu werden. Als eines der bewährtesten Mittel des Menschen, zu sich zu finden. Oder genau das zu vermeiden. Das alles lehrt uns nicht nur die diesjährige Buchmesse. Und sie beschert uns leichte Kopf- und Gliederschmerzen. Gegengift zur verführerischen Vorstellung, Leben spiele sich künftig im entkörperten virtuellen Raum ab. Mitnichten. Wieder so ein Wort, das jeder Übersetzer streichen könnte.