Eine Rezension von Helmut Hirsch

„Wir sind nicht so wie die meisten“

Ingo Schulze: Simple Storys

Ein Roman aus der ostdeutschen Provinz.

Berlin Verlag, Berlin 1998, 303 S.

 

Mehr noch als die Leser haben die Kritiker auf den Roman aus der ostdeutschen Provinz gewartet. Nun ist er da, will man dem Untertitel zu diesem Buch glauben. Wer das Buch gelesen hat, wird noch mehr als zuvor verstehen, warum die Leser in den östlichen Provinzen gar nicht so scharf auf einen Roman aus der von ihnen bewohnten Provinz waren. Denn der Roman, der hier vorliegt und über den man sagen kann, gelungen, trefflich, hervorragend, mit einem Wort aus jener Region: gute Butter, dieser Roman wird von den vielen, die ihn nicht lesen, Tag für Tag gelebt.

Worum geht es? Um ein Dutzend Lebenssplitter aus Biographien in der ostthüringischen Stadt Altenburg. Skatstadt, Stadt eines spektakulären Prinzenraubs, mit viel niedergegangener Industrie und Kunst im verborgenen: Eine der vortrefflichsten Sammlungen früher italienischer Tafelbilder wird hier im Lindenau-Museum zumeist übersehen. Eine Stadt aber auch, die schon Mitte der fünfziger Jahre arg gebeutelt wurde, als die Sowjets beschlossen hatten, westlich von Altenburg das Uran für ihr aberwitziges Atombombenprogramm abzubauen. Eine Stadt auch, in der einer der wichtigsten Holzschneider und Zeichner der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts gelebt hat; Gerhard Altenbourg.

Von alledem ist in diesem Roman kaum oder gar nicht die Rede. Hier werden Geschichten von Leuten erzählt, die sich nur schwer an die neue Zeit gewöhnen können. War es ihnen doch immerhin vor einiger Zeit gelungen, sich so oder so, ein bißchen krumm oder ein bißchen grade noch gerade einzurichten im Unvermeidlichen, im strahlend grauen Osten. Plötzlich ist alles schon wieder ganz anders. Ein vor kurzem noch aufmüpfiger Lehrer erleidet einen Herzinfarkt, der Schuldirektor wird arbeitslos und verrückt. Der kubanische Taxifahrer wird auf offener Straße niedergestochen. Und noch viel mehr: Was man seit langem nur aus dem Fernsehen (Westfernsehen!) kannte, hat nun in die Wohnzimmer und Ämter Einzug gehalten. Mehrfach gebeutelte Provinz. Unheimlich ging es ja immer hier zu, im Hügelgau mit dem ertragreichen Boden. Doch nun herrscht die neue Unheimlichkeit, durchsetzt mit Glanz und Flitter, mit der Aussicht auch, sofort nach Italien und sonstwohin aufbrechen zu können. Aufbruch, Umbruch, Zusammenbruch, und steigt da kein neuer Phönix auf? Das muß sich auch Ingo Schulze gefragt haben, der Anfang der neunziger Jahre in dieser Stadt am Landestheater als Dramaturg gearbeitet hat. Er hat es erfahren, über dieser Gegend ist nie ein Phönix geflogen, Braunkohlenasche hingegen in Millionen Tonnen. Entdeckt hat der schon mit seinem ersten Prosaband „33 Augenblicke des Glücks“ aufgefallene Ingo Schulze in Altenburg Geschichten von Leuten, die auch in Halberstadt, Gotha oder Bautzen so ähnlich vorstellbar sind. Nicht der Ort der Auswahl, der Zufall hat es so gewollt, daß dieser Roman hier spielt. Hier passiert es, hier leben die Leute, die schon immer eine Vorliebe für Sensationen, für Horror und auch Mord hatten. Hier leben die nun alle von der neuen deutschen Wirklichkeit Verunsicherten, die zu viel des Unguten, zuviel Gewalt und nach der politischen die soziale Demütigung erfahren müssen. Sie wehren sich teilweise dagegen, vor allem aber besinnen sich einige von ihnen auf ihre alten Tugenden, kräftig gegen den Strom des Unzumutbaren zu wettern, mit Worten, die nur hier vorkommen, also mit Erfindungen. Und wer wissen will, was ein Sau-Hacksch ist, der Reise nach Altenburg und Umgebung, lasse sich erzählen, was hier im Osterländischen für Phantasien geschehn. Und wundere sich nicht, wenn zu den bekannten brutalen Geschichten noch brutalere hinzuerfunden werden. Nur um wenigstens auch einmal in der Zeitung zu stehen, in einer Zeit, die alles in die Zeitung bringt.

Ingo Schulze erzählt das alles episodenhaft, sein Roman ist eher nach amerikanischer Art gemacht, ein deutscher Bildungsroman ist da gänzlich undenkbar. Eine Stasi-Affäre ist auch dabei, ansonsten gibt es Entlassungen, eine Scheidung, schwere Unfälle, mancher wandert schon wieder aus, hinaus in eine westlichere Provinz, als es Altenburg vielleicht je sein kann. Ein abgewickelter Akademiker, ein Taxifahrer, heimische Kleinunternehmer neben Kellnerinnen und Landtagspolitikern. Alles Leute, die etwas, eher schrullig knapp als schön ausführlich, zu erzählen haben. Jeder anders in seiner Art, sehr unterschiedlich im Mitteilungseifer und in der frei- oder unfreiwilligen Komik. Ingo Schulze hat das alles erlebt, da ist kaum etwas hinzuerfunden, und gerade das gibt dem Roman seine große sinnliche Unmittelbarkeit. Jede Figur erzählt ihr Schicksal, unter wechselreicher Mithilfe des Erzählers. Gegenwärtige und vergangene Erfahrungen, die schelmisch oder tragisch- komisch? vorgetragenen Geschichten verschaffen einen Balanceakt zwischen gestrigen und heutigen Erlebnissen in einer ganz eigenen Sprech- und Sprach-Art. Der Leser kann es das simple Wunder des klingenden Dabei- und Woandersseins nennen. Hanni zum Beispiel hat eine Spürnase für Doppeldeutigkeiten: „Eigentlich sind wir Glückskinder“, meint sie angesichts der vielen seltsamen Neuigkeiten, die unter die Haut und ins Herz gehen, aber, kontert sie schelmenhaft: „Wir dachten nur, so was gibt’s nicht mehr, zumindest nicht bei uns, das ist ausgestorben, wie der Feudalismus eben. Wir sind einfach nur verschont geblieben.“ Wenn es ihr schlecht geht, dann erinnert sie sich eigensinnigerweise an eine Geschichte aus Ost-Zeiten, an eine Szene, die in der inzwischen leicht verwestlichten Ost-Provinz seltener werden mag: „Als wir vor Weihnachten in der Kaufhalle waren und da eine Amsel auf dem Gemüse saß. Da kamen doch diese Kerle mit dem Kescher und wollten sie fangen. Ich dachte, warum macht niemand was? Die werden die arme Amsel jagen, bis sie vor Panik und Erschöpfung stirbt! Wir haben den Einkaufswagen stehenlassen, und du bist ins Zimmer vom Chef. Und der wußte überhaupt nicht, was da läuft. Und als er dich gefragt hat, was er machen soll, hast du gesagt: Licht aus, Türen auf und am Eingang Licht an, so einfach.“ Wo solche Phantasie war, ist Phantasie auch zukünftig. Jedenfalls aber solange, wie Leute sich daran erinnern. Und Leben besteht ja bekanntlich zu einem erheblichen Teil aus Erinnern.

Das verschafft diesen Figuren Überlebenschancen. Der Wille ist da. In den Dialogen drängt es fast jeden immer wieder nach Geselligkeit, groß ist das Bedürfnis, miteinander ins Gespräch zu kommen: „Einfach mal jemand sehn, von früher. Verstehst du das?“

Eine Frage, die auch an Leser gerichtet ist, die dieses Früher nicht begriffen haben oder nicht gekannt haben.

Der Roman zeigt so viele Nuancen, so viele Momente, in denen die Eigen-Art zu denken zum markanten Bild wird. Eine Kellnerin spricht: „Am Montag, dem 2. Juli, begann meine Schicht mittags. Niemand saß im Restaurant. Mindestens drei, vier Wochen würde es dauern, meinte Erika, bis auch unsere Leute bereit wären, für ein Schnitzel Westgeld auszugeben.“

Überschwenglich ist Schulzes Roman „Simple Storys“ von den Kritikern der großen deutschen Tageszeitungen gelobt worden. Ein Lob freilich, das, soweit ich es nachvollziehen konnte, fast immer mit der Hoffnung verbunden wurde, nun „den“ ostdeutschen Autor ausfindig gemacht zu haben, der wiederum eine ostdeutsche Provinzstadt ausfindig gemacht hatte, die große Chancen besitzt, zu einem Ort der neuen deutschen Prosa zu werden, in einer Reihe stehend mit Uwe Johnsons Jerichow in Mecklenburg oder Martin Walsers Philippsburg im Württembergischen.

Ingo Schulze sieht solchen euphonisch-utopischen Prophezeiungen vermutlich gelassen zu. Auf schnelle Zuschreibungen reagiert er eher reserviert, nüchtern und sachlich. Alles wird im Prozeß des Erzählens entschieden, von dem, was danach als Reaktion kommt, ist sowieso jedes zweite Wort Sülze. „Das Lob, als Autor authentisch zu sein“, schreibt Ingo Schulze (in „Zitty“, Heft 6/98), „hat mich noch ratloser gemacht als der Tadel, es nicht zu sein. Ich weiß einfach nicht, wann ich authentisch bin oder welche Regung oder Äußerung meinerseits es sein sollte. Am ehesten bin ich wohl authentisch, wenn ich schlafe, denn dann spiele ich keine Rolle, dann bin ich ganz bei mir - vorausgesetzt natürlich, ich träume nicht zu lebhaft. Mit dem Aufwachen allerdings finde ich mich einem Schwall von Einflüssen ausgesetzt und muß in der Endlosschleife von Aktion und Reaktion mein Ich, mein Selbst, meinen echten Kern bewahren oder zum Ausdruck bringen, was mir am besten während des Schreibens gelingt - wenn die Stimme stimmt.“

Im Roman „Simple Storys“ (ein bißchen falsch geschrieben, aber richtig gemeint wie vieles in diesem Buch) stimmt die Stimme, denn hier wird erzählt, was alles nicht stimmt. Daß aber alles stimmt, dafür sorgt der Erzähler mit seinen trefflich ausgewählten Figuren, von denen jeder eine ganz simple, aber seine eigne Stimme hat.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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