Eine Rezension von Klaus Ziermann

Weltstadtmilieu en gros

Alfred Kerr:

Wo liegt Berlin? Briefe aus der Reichshauptstadt 1895-1900

Herausgegeben von Günther Rühle.

Aufbau-Verlag, Berlin 1998, 5. Auflage, 767 S.

 

Der Aufbau-Verlag sorgt wieder einmal mit einem Bestseller - und was für einem! - für Aufsehen. Da betrat am 1. Januar 1895 ein Achtundzwanzigjähriger aus Niederschlesien unter dem Namen Alfred Kerr selbstbewußt, kraftstrotzend und mit großem literarischen Talent die Szene erstklassiger deutscher Essayistik. „Der Berliner Westen - diese elegante Kleinstadt, in welcher alle Leute wohnen, die etwas können, etwas sind und etwas haben und sich dreimal soviel einbilden, als sie können, sind und haben - hat in dieser Woche zwei Jubelgreise gefeiert“ (S. 5), begann er den ersten seiner „Briefe aus der Reichshauptstadt“. Der letzte trägt das Datum 25. November 1900 und beschreibt den Totensonntag: „Da regt sich der berlinische Ordnungssinn, die Gräber werden aufgeräumt, daneben erst tritt die Trauer in Kraft.“ (S. 637)

Kein anderer deutscher Essayist und Literaturkritiker hat das hauptstädtische Berliner Kulturleben kurz vor der Jahrhundertwende so anschaulich, dynamisch und geistreich geschildert wie dieser Alfred Kerr, der mit bürgerlichem Namen Dr. Alfred Kempner hieß, vier Jahre vorher als Student nach Berlin gekommen war, zwischenzeitlich 1893 in Halle/Saale über Clemens von Brentano promoviert und danach allererste publizistische Erfolge in der Berliner Presse zu verzeichnen hatte. Doch der eigentliche literarische Durchbruch zum vielgefeierten, hochangesehenen deutschen Literatur- und Kunstkritiker gelang ihm mit seinen „Briefen aus Berlin“, die Sonntag für Sonntag in der „Breslauer Zeitung“ erschienen und deren Lesern das Leben in der Reichshauptstadt nahebrachten. Die „Briefe aus Berlin“ standen in großer literarischer Tradition: War es doch mehr als siebzig Jahre vorher der Student der Rechtswissenschaften Heinrich Heine gewesen, der 1822 mit seinen Briefen aus der preußischen Hauptstadt diese Form der Berichterstattung mit Schilderungen vom Schloßplatz, von der berühmten Straße Unter den Linden, vom Theaterleben, von der Atmosphäre in den Cafés oder seinen Beobachtungen über die Berliner literaturfähig gemacht hatte.

Alfred Kerr verfuhr im Grunde nicht anders - auch wenn er nicht gerade eine hohe Meinung zu Heines „Briefen aus Berlin“ vertrat. Zumindest lag seiner Auffassung, was in einen interessanten Brief aus der Reichshauptstadt gehört, ein Kultur- und Unterhaltungsbegriff zugrunde, der breit und vielseitig verwendbar war: Die Theateraufführung im Schauspielhaus oder Deutschen Theater, der Ansichtskartensammlerkongreß 1899 und erste Radrennen der Profis, die Verhaftung des Satire-Zeichners Theodor Heine und die Gewerbeausstellung 1896, die Wirtshausatmosphäre bei einem „Glas Pschorr“ und die „Stürme der Reichstagswahl“ 1899, Betrachtungen über „konservative“ Trends in der europäischen Sozialdemokratie und das sich verändernde Straßenbild Berlins nach der „Einverleibung“ Pankows, Weißensees und Reinickendorfs gehörten ebenso dazu wie die Notizen über das Eislaufen auf „künstlichen Eisbahnen“, das Nachdenken über den Tod Bismarcks, die Plauderei zum Geburtstag der Kaiserin, Reflexionen über das „Aufflammen des Nationalgefühls“ beim Boxen oder der Bericht über den Einzug neuer Technik in das Stadtbild Berlins. „Am ersten Tag des zwanzigsten Jahrhunderts lag in der deutschen Hauptstadt ein dermaßen dichter Nebel um die zahllosen Kirchen herum, daß man nicht zehn Schritt weit sehen konnte“ (S. 548), schilderte er am 7. Januar 1900 die Atmosphäre in Berlin. Und vom Einzug moderner Technik in den Großstadtalltag - in diesem Fall von der U-Bahn - schien er auch nicht immer begeistert zu sein: „Die Bülowstraße hat sich verändert in diesen sechs Wochen. Welcher verblüffende Anblick: das Eisengestell einer Überbahn, rot lackiert und grau gestrichen, steigt in plumper Scheußlichkeit empor zwischen den Häusern, zwischen den Bäumchen. Barbarischer, ekliger, gottverlassener, blöder, bedauernswerter, mickriger, schändlicher, gerupfter, auf den Schwanz getretener sieht nichts in der Welt aus.“ (S. 605)

In seinen „Briefen aus Berlin“ hat Kerr in der Tat nichts ausgelassen, was - für seinen wichtigsten Adressaten, das Breslauer Bürgertum - das Weltstadtmilieu der deutschen Metropole kurz vor der Jahrhundertwende prägte. „Das Jahrhundert geht zu Ende“, notierte der Briefeschreiber am 15. Oktober 1899. „Mit jeder anbrechenden Nacht rückt der Punkt näher, wo wir die große Einkehr halten. Der Wahnsinn und die Glorie unserer Zeit steigen herauf, beide hart nebeneinander.“ (S. 524) Ist es das Denken in größeren historischen Dimensionen, sind es „der Wahnsinn und die Glorie“ der Zeit, die nicht nur damals die Abonnenten der „Breslauer Zeitung“ aufhorchen ließen, sondern auch heute wieder die Leser des Bestsellers aus dem Aufbau-Verlag begeistern? Immerhin: Binnen kurzer Zeit wurde bereits die 5. Auflage erreicht.

Günther Rühle hat die Kerr-Briefe im Zeitungsarchiv der Universitätsbibliothek Wroclaw (Breslau) aufgespürt, gesichtet, klug ausgewählt und gründlich kommentiert. „Was sich unter der Sonntag für Sonntag wiederholten Überschrift ,Berliner Brief‘ darbietet, ist die bis in die siebziger Jahre viel genutzte, heute doch als antiquiert geltende Form des Kulturbriefs. Das ist in der Zeitung, die gedrängt voll mit Nachrichten und eng gedruckt erscheint, der Platz, wo man durchatmet, wo man nicht nur Information, sondern auch Unterhaltung hat, Witz und Intelligenz spürt, etwas vom Leben erfährt, wie es einer erlebt und darreicht“ (S. 646), ist seinem Nachwort „Alfred Kerr und die Berliner Briefe“ zu entnehmen.

An anderer Stelle hat Günther Rühle nicht weniger bildhaft als sein Originalautor die Methode gekennzeichnet, mit der sich Kerr die Weltstadtatmosphäre im aufsteigenden Berlin erschloß, um seine „Briefe aus Berlin“ so interessant und lebendig schreiben zu können, wie sie sich heute noch darbieten: „Man sieht mit jedem Brief, wie der junge Kerr sich hineinschiebt in diese neureiche Gesellschaft, sie genießt ...“, steht da zu lesen. „Er fühlt sich wohl in den Häusern in der Hitzig- und Von-der-Heydt-Straße, auf den Parties, wo der Sekt, nein, der Champagner in Strömen fließt; hier gibt es Gespräche, neue Einsichten, Kontakt mit der eigentlich führenden Schicht. Er läßt keinen der großen Bälle aus ... Hier erscheint die Gesellschaft, hier ihre Opulenz. Er selbst muß in diesen Treffen ein witziger Charmeur, ein guter Unterhalter und wohl auch ein begehrter Junggeselle gewesen sein.“ (S. 650)

Erst aus der Geisteseinheit von Originalautor und Herausgeber erwächst meines Erachtens der große Reiz dieser Ausgabe des Aufbau-Verlages. Das muß man einfach gelesen haben, denn ein Erlebnis ist dieser Bestseller allemal.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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