Wiedergelesen von Maria Careg

Dieter Noll: Die Abenteuer des Werner Holt

Roman einer Jugend.

Aufbau-Verlag, Berlin und Weimar 1973, 26. Auflage, 544 S.

 

Als mich die Redaktion des „Berliner LeseZeichens“ um einen Beitrag in der Rubrik „Wiedergelesen“ bat, erinnerte ich mich an meine Schulzeit und an Werner Holt. Ich durchstöberte meinen Bücherschrank und fand auch tatsächlich beide Bände seiner Abenteuer. Mit wenigen Ausnahmen hatte ich die sogenannte Pflichtlektüre in der Schule gern gelesen, auch dieses Werk.

Der erste Band der Abenteuer des Werner Holt war 1960 erschienen, Band zwei wenige Jahre später, 1963. Ich selbst las das Buch also etwa 15 Jahre nach seinem Erscheinen. Seltsamerweise war außer einem positiven Eindruck des ersten Teiles und deutlichem Abfall des zweiten sowie groben Handlungsumrissen aber nichts weiter in meinem Gedächtnis hängengeblieben.

Als ich den ersten Band, der hier besprochen werden soll, nun wieder aufschlug, fiel mir etwas auf: Noll nennt den 1943, am Beginn des Romans, sechzehnjährigen Werner immer nur beim Nachnamen, ebenso dessen Klassenkameraden. Damals, während der Schulzeit, hatte mich dies seltsamerweise nicht gestört, obwohl oder vielleicht weil der Held etwa das gleiche Alter hatte wie ich selbst. Die Verwendung des Nachnamens aber legt nahe, daß es sich um eine erwachsene Person handelt. Ich vermag nicht einzuschätzen, ob es sich um ein bewußtes Gestaltungsmittel des Autors handelt oder ob es damals einfach üblich war. Dieser Werner Holt wirkt auch für seine 16 Jahre erstaunlich erwachsen, was nicht mit Reife verwechselt werden darf. Auf jeden Fall aber würde der Krieg die Jungen vorzeitig zu Männern werden lassen, zu Männern mit dem Gemüt von Heranwachsenden.

Bei seinem Erscheinen hatte der Roman Furore gemacht. Begeisterte Rezensionen (siehe Klappentext) beweisen es. „Dies ist ein Roman, wie wir ihn forderten, der sich packend und erregend mit der faschistischen Vergangenheit und ihrer Auswirkung auseinandersetzt. Er zeigt einen eng begrenzten Ausschnitt des Verbrechens an der Jugend, die unerfahren und himmelsstürmend in den Abgrund hoffnungsloser, wütender Verzweiflung stürzte und oft lange brauchte, ehe sie ein neues, besseres Ziel zu sehen bereit war ...“ Diese Besprechung in der „Deutschen Lehrerzeitung“ trifft den Kern des Buches und entspricht den Intentionen des Autors. Andere dagegen deuteten etwas hinein, was nicht Gegenstand war: Widerstand und Gewißheit des antifaschistischen Sieges oder das Wirken der Kräfte, die zum Faschismus hinführten. Die Handlung verfolgt einen weiten Bogen und ist gut durchkomponiert. Noll beweist großes Einfühlungsvermögen bei der Gestaltung und Führung seiner Charaktere. Seine Gestalten sind individuell und unverwechselbar, sie sind glaubwürdig und voll Leben. Ohne dies jemals explizit zu äußern oder dem Leser aufzudrängen, gelingt es ihm, Zeitumstände und Persönlichkeitsstruktur in Beziehung zueinander zu setzen, daß deutlich wird, wie jeder einzelne letztlich seine Haltung selbst bestimmt, aller Propaganda und allen Zwängen zum Trotz. In Ausnahmesituationen folgt das menschliche Handeln einem einfachen Grundmuster - die Guten werden besser, und die Schlechten werden schlechter. Alle aber werden von der gigantischen Propagandamaschinerie des Joseph Goebbels beeindruckt, die sämtliche Register der Manipulation zieht.

Die Schule ist nur noch schwer erträglich in einer „heldischen“ Zeit wie dieser, wo das Abenteuer Krieg große Verheißung bedeutet. Die jungen Lehrer sind alle eingezogen und an der Front, in der Schule lehren die alten, pensionierten, ausgemusterten, denen die Schüler allein deshalb keine Achtung mehr entgegenbringen können. Holt, ein introvertierter Junge, der es endlich geschafft hatte, weit entfernt von seiner Mutter und mit ihrer Erlaubnis allein in dem kleinen Städtchen zu wohnen und das Gymnasium zu besuchen, war somit neu in der Klasse und hatte sich ungewollt gleich mit Gilbert Wolzow, dem größten Rabauken, angelegt. Beider einziges Sinnen und Trachten besteht darin, die Macht in der Klasse an sich zu reißen - durch blödsinnige Streiche, durch bösartiges Foppen der Lehrer. Dann ändert Holt seinen Kurs und schafft es, Wolzow zu seinem besten Freund und Verbündeten zu machen. Die Freundschaft dieser beiden grundverschiedenen Charaktere bildet den Leitfaden der Geschichte. Sieht Holt den Krieg zunächst schwärmerisch, so ist Wolzow, dessen Vater Oberst der Wehrmacht ist und dessen Ahnenreihe auf eine 250jährige soldatische Tradition zurückblickt, bereits in der Schule Soldat durch und durch. Das Leben betrachtet er ausschließlich unter militärischem Aspekt, und seine ganze Bildung beschränkt sich auf die - allerdings umfassende - Kenntnis der militärischen Standardwerke. Tatsächlich bildet sich um die beiden eine Clique, die fast bis zum Kriegsende zusammenbleibt, angefangen vom Ferien-Ernteeinsatz, den sie illegal verlassen, um in einer einsamen Höhle im Wald die Einberufung zur Luftabwehr abzuwarten, über den Drill bei der Flak und zahlreiche Einsätze, die Schikanen bei der militärischen Ausbildung als Rekruten bis hin zum Fronteinsatz, Lazarett und wieder Frontdienst.

Für Holt, der im tiefsten Innern ein schöngeistiger Mensch ist, für den der Krieg zunächst nur Abenteuer und das Ende der verhaßten Schule bedeutete, der mit dem musikalischen, aber schwächlichen Peter Wiese befreundet ist, bringt der erste Einsatz bereits erste Ernüchterung. Sein Glaube an die Erhabenheit der deutschen Rasse und die Überlegenheit der Wehrmacht, sein eingeimpfter Stolz auf die „heroischen“ Leistungen des deutschen Volkes, seine Hoffnung auf unerschütterliche Kameradschaft unter den Soldaten, wie er es in den Büchern immer wieder gelesen hatte, geraten in Konflikt mit der Realität, der nackten, ungeschminkten Brutalität und wahllosen Grausamkeit des Krieges, sei es nun bei der Ausbildung, an der Front oder im Hinterland. „Und gerade, weil ich dazu neige, alles zu zergrübeln, zu zergliedern, beneide ich diejenigen, die fanatisch glauben können. Ich geb mir wer weiß was für Mühe, fanatisch zu sein! Man hätte es viel einfacher. Das Nachdenken und Grübeln, das macht einen fertig, Sepp! Ich wünschte, ich wär ein Fanatiker.“ (S.324)

Niemand kann sich diesem Sog des Bösen entziehen, Aufrichtigkeit kann tödlich sein, aber die Haltungen der einzelnen sind so variantenreich wie das menschliche Wesen überhaupt. Was ein Peter Wiese aufgrund schlechter körperlicher Konstitution und musikalischer Ambitionen vielleicht von vornherein verabscheut, wird für einen Gilbert Wolzow zum Lebenszweck: Kampf um des Kampfes willen. Soldatenehre ist das geheiligte Wort, dem bedingungslos Menschenleben geopfert werden, einfach, weil ein Soldat eben bis zur letzten Minute kämpft und nicht aufgibt. Wolzow, völlig frei von Selbstzweifeln, ist aber auch der einzige Realist, wenn es um militärische Einschätzung der Lage geht. Dann ist er es, der in den Wehrmachtsberichten zwischen den Zeilen zu lesen vermag, der die Niederlagen deutlich aussprechen darf, ohne gleich als Verräter dazustehen, der aber auch ständig an Strategien und taktischen Plänen arbeitet. So kommt es, daß sich am Schluß des Buches und kurz vor Kriegsende drei Jungen - der grüblerische, aber willensschwache Holt und der Wolzow sklavisch ergebene Christian Vetter unter Wolzows Führung - daranmachen, den Krieg zu gewinnen. Was heute so grotesk wirkt, war damals vielfach bittere Realität und kostete Tausende das Leben. Holt, der zwischen all dem Grauen die Liebe und den Sinn des Lebens sucht, dessen Zweifel sich seit seinem Kriegseintritt ständig mehrten, der entsetzt ist über die eigene Willfährigkeit, der - sofern er kein Risiko eingeht - durchaus auch Gutes bewirkt, der sich von Wolzow und seinen Idealen immer weiter entfernt hat, ist letztlich zu schwach, sich aus dessen Machtbereich zu lösen und mit zwei Kameraden zu desertieren. So fällt er bei Kriegsende in ein tiefes psychisches Loch, hinzu kommt schwerste körperliche Erschöpfung, die allerdings schneller zu überwinden ist als eine Sinnkrise. „Er faßte Wolzow ins Auge. Er hatte noch nie mit solcher Klarheit in einen Menschen hineingesehen. Dieser Unteroffizier mit der Leutnantsmütze, der den Kopf voller Pläne hat, voller durchführbarer und undurchführbarer, auf jeden Fall aber mörderischer Pläne, zugleich voller historischer Ereignisse und Parallelen, für jeden Fehler ein Beispiel und für jeden Toten ein Beispiel, dieser Mensch dort ... ist ein Symbol: ein Verbrecher, der mit angemaßter Macht Mensch auf Mensch in den Tod schickt, ein Mörder von Berufung und Beruf. Und ich war sein Werkzeug, seine Kreatur, sein Zutreiber, dachte Holt. Ein Gefühl der Schuld stieg in ihm hoch. Es wollte ihn zurückstoßen in die alte Apathie: Ich hab auf der falschen Seite gestanden, von Anfang an ... Ich hab alles mitgemacht. Ich hab geschwiegen und zugesehen. Etwas davon war auch in mir. Und nun bin ich schuldig ... Späte Erkenntnis, zu späte Erkenntnis. Signale über Signale wurden mißdeutet und überhört ...“ (S.530 f.)

Mit diesen Erkenntnissen endet für Holt der Krieg, seine Jugend wurde ihm gestohlen und ist schuldbeladen, vor ihm aber liegt ein langer Weg der Erneuerung.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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