Eine Rezension von Licita Geppert

Quintessenz eines Lebens oder: Ein Atheist im Himmel

Jürgen Kuczynski: Ein treuer Rebell. Memoiren 1994-1997

Mit einer Bibliographie der Werke und Schriften von Jürgen Kuczynski seit dem 18. September 1994. Zusammengestellt von Erika Behm.

Aufbau-Verlag, Berlin 1998, 255 S.

Konnte Jürgen Kuczynski sterben, weil seine Memoiren endlich druckfertig waren, oder wurden seine Memoiren durch seinen Tod beendet? Ist es sein letztes Buch, sein unwiderruflich allerletztes? Wirklich? Es ist kaum zu glauben, daß der Vielschreiber J. K. aufgehört haben sollte zu arbeiten. Oder schaut er vielmehr zu uns herab und sendet uns dann und wann einen Kalenderspruch zu „Europa im Untergang“: „Es gibt in Europa 5 Millionen Obdachlose. Aber zur gleichen Zeit hat man einen Computer konstruiert, der 30 Milliarden Rechnungen in einer Minute durchführt.“ (S. 56) Oder wenigstens einen Schüttelreim? Findet sich noch etwas Unveröffentlichtes in seinem Nachlaß? Letzteres ist leider eher unwahrscheinlich.

Auf jeden Fall hinterläßt J. K. Fragen über Fragen und eine große Lücke, denn sein scharfes, gleichwohl oft humorvolles Urteil zum Verlauf der Weltgeschichte wird vielen fehlen.

Dieser letzte Band seiner Memoiren/Tagebücher hat mich gefesselt, besteht er doch aus einer bezwingenden Mischung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, eben der Quintessenz seines Lebens.

Jürgen Kuczynski (1904-1997), der sich bereits 1961 als „alter Genosse“ (S. 23) bezeichnete, was bezüglich seiner Parteizugehörigkeit und Haltung auch zutraf, stand bis zum Lebensende in seiner Leistungsfähigkeit viel Jüngeren kaum nach. Mit neunzig Jahren schreibt er noch täglich und unternimmt Vortragsreisen. Auch wenn der Dialog mit dem Publikum schwieriger wird aufgrund seiner Schwerhörigkeit, (über)füllt er mühelos ganze Säle, selbst wenn Eintritt erhoben wird.

Die „kommunistische Einmannpartei“ Jürgen Kuczynski (S. 50, Klaus Mewes im „Gießener Echo“), der „doofe Schwerbehinderte“ (S. 72) muß andererseits noch kurz vor seinem Tode feststellen, zwei große Bereiche in seinen Werken vollständig ausgelassen zu haben: die Auslöschung der Juden während des Nationalsozialismus und das Leben der Behinderten. Er ist fassunglos über diese Versäumnisse. Keine Ruhe läßt ihm auch die Frage, ob es besser gewesen wäre, zum Märtyrer zu werden und das System zu verneinen und Gutes daran zu finden, anstatt es zu bejahen und gleichzeitig die Probleme zu kritisieren. (S.31ff.) Kuczynski hat diese Frage schon früher für sich dahingehend beantwortet, nur durch seine Versuche des Ausgleichs in der Lage gewesen zu sein, zahlreichen anderen zu helfen und Mut zu geben. Er legt auch anderen diese Frage vor und wird von ihnen zu Recht in seiner Haltung bestätigt. Wieviel wäre uns sonst entgangen! Sein erstes Urenkelbuch wäre nie gedruckt worden. Noch eine andere Frage beschäftigt ihn: „... ob ich nützlicher gewesen bin auf Tausenden von Versammlungen und in einigen Büchern und Broschüren, wo ich den Menschen Lebensmut gegeben habe - oder als Wissenschaftler in Tausenden von Artikeln und an hundert Büchern und Broschüren. War ich nützlicher als predigender Lebensphilosoph oder als first rate second class Wissenschaftler?“ Er läßt sie unbeantwortet, wie auch sollte man ein Lebenswerk teilen und wozu? Jeder mag für sich selbst die Antwort darauf finden.

An der PDS störte ihn die „intellektuelle Weltfremdheit“ (S. 70), mit der der Weg zurück in die Barbarei wohl kaum aufzuhalten ist. Er richtet seinerseits sehr wohldurchdachte Vorschläge über Taktik und Strategie an den PDS-Parteivorstand. Das Marx-Zitat „Sozialismus oder Barbarei“ konnte er uns noch aus dem Munde Karl Kautskys überliefern (S. 52), ebenso wie die von Kuczynski selbst beherzigte Lebensweisheit: „Immer mußt Du Dich um das Wissen bemühen. Aber Du mußt auch daran denken, daß Marx fähig war, genau wie die frömmsten Juden und Christen und Mohammedaner, wo das Wissen nicht reicht, ganz fest zu glauben.“ (S. 97) Daher hat ihn sein „zuweilen geradezu enervierender Optimismus“ (S. 220, Thomas Kuczynski) nie im Stich gelassen, blieb ihm seine Vorfreude auf den Sozialismus auch nach der Wende erhalten.

Noch einmal erinnert er uns an Tatsachen, die den besonderen Charakter der Krise des Kapitalismus in den neunziger Jahren prägen: Das schnellere Ansteigen der Produktivität im Vergleich zur Produktion führt zum ständigen Anwachsen der Arbeitslosigkeit bei wachsenden Unternehmensgewinnen. Dieser Teufelskreis ist im bestehenden System auch kaum mehr zu durchbrechen.

Der „Spiegel“ anerkennt Jürgen Kuczynski als einen großen Denker (S. 198), und seine ungebrochene Popularität im östlichen Teil Deutschlands wird belegt durch die Verkaufszahlen seiner Bücher - sein zweites Urenkelbuch erreicht in drei Monaten etwa 10 000 verkaufte Exemplare! Und Gott wird ihn wohl auch mögen: „Wenn es wirklich einen lieben Gott geben würde, und er wirklich lieb, so wie die Christen ihn sich vorstellen, wäre, dann würde er auch jeden Atheisten, der sich um ein anständiges Leben bemüht hat, in den Himmel aufnehmen.“ (S. 204) Kuczynski konnte ohne Sorge sein, geht seine Lebensleistung doch in vielfältiger Weise weit darüber hinaus. In den angefügten Grabreden seiner beiden Söhne Peter und Thomas schimmert aber auch etwas durch, das die für die Veröffentlichung geschriebenen Tagebuchnotizen ausklammern, wohl auch, weil der Verfasser es als Selbstverständlichkeit betrachtete. Diese Lebensleistung konnte, trotz seiner Liebe für seine Frau und die Kinder, nur unter exzessivem Arbeitsaufwand erbracht werden, der für seine Angehörigen natürlich Einschränkung an Zeit und Zuwendung bedeuten mußte.

So wie seine Lebenslinie mit diesem Jahrhundert verbunden ist, so ist es sein Geist mit der Zivilisationsgeschichte der Menschheit. Das „Zick-Zack der Geschichte“ berührte auch sein eigenes Leben. „Als historisch denkender Mensch hatte er eben dreitausend Jahre Weltgeschichte erlebt, und deshalb wußte er: ,In jedem Wandel muß etwas Dauerndes sein, das sich verwandelt, und nur wo Wandel ist, wird die Konstanz überdauernder Formen sichtbar, er wächst sie zu historischer Relevanz‘ (Heinrich Mitteis).“ (S. 220, Thomas Kuczynski in seiner Grabrede) Das, was Mitteis so intellektuell formulierte, ist nichts anderes als eine Jahrtausende alte chinesische Weisheit, mit der sich der Lebenskreis dieses großen Gelehrten schließt.


© Edition Luisenstadt, 1998
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