Eine Rezension von Alice Scemama

Zwischen Heiterkeit und Grauen

Wieland Herzfelde:

Immergün

Merkwürdige Erlebnisse und Erfahrungen eines fröhlichen Waisenknaben.

Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 1996, 291 S.

Wieland Herzfelde (1896-1988) war Schriftsteller und Publizist, Mitbegründer und Herausgeber zahlreicher Zeitschriften; seine eigentliche Bekanntheit über die Grenzen Deutschlands hinaus erlangte er jedoch durch seinen Malik-Verlag, dessen Name sich von dem ersten durch ihn veröffentlichten Buch herleitet, welches Der Malik von Else Lasker-Schüler war. Herzfelde verhalf dem Dadaismus in Deutschland zum Durchbruch. Er selbst schrieb Lyrik und Prosa; von seinen eigenen Werken ist das autobiographisch geprägte Immergrün das bekannteste. Das Buch pendelt zwi schen zwei Extremen. Das eine Extrem - mit dem Titel zum Programm erhoben - bilden die in heiterbeschwingtem Ton erzählten Kindheitserlebnisse des Autors, das andere sein kurzer, aber erschütternder Soldatenbericht aus dem Ersten Weltkrieg. Zwischen den beiden Polen Heiterkeit und Grauen bewegt sich das Leben Wieland Herzfeldes, der als eines von vier Geschwistern geboren wurde. Seine Eltern mußten aufgrund eines der preu-ßischen Obrigkeit mißliebigen Gedichtes des Vaters, Franz Held, bereits um die Jahrhundertwende emigrieren und strandeten schließlich verarmt in Österreich in einer einsamen Almhütte. Eines Tages waren die Eltern verschwunden, und die Kinder sollten nie erfahren, was ihnen widerfahren war. Ein freundliches Ehepaar nahm die Geschwister auf und gab ihnen ein Zuhause. Seinem Bruder Helmut zuliebe, der später als Graphiker und Maler John Heartfield berühmt werden sollte, ging Wieland 1905 mit nach Deutschland. Bei seiner geliebten und verehrten Tante Lene konnte er nicht wohnen, und so begann eine Reise durch nicht weniger als zwölf Pflegefamilien. „Daß ich alle paar Jahre zu anderen Leuten ,in Pension‘ kam, empfand ich niemals als Härte oder Bitternis, ganz im Gegenteil, noch heute denke ich an die zwölf Familien, bei denen ich aufgewachsen bin, mit Anhänglichkeit zurück. Fremde Menschen hatten nichts Beängstigendes oder Unheimliches für mich, ein neues Milieu bedeutete unerforschtes Land, und ich betrat es mit begeisterter Neugierde - zugleich mit dem Sicherheitsgefühl des Reisenden, der das Billet zur Weiterfahrt in seiner Tasche weiß.“ (S. 39) Seine Tante und Vormundin ließ ihn nie länger in einer Familie, als er selbst dies als angenehm empfand. Das ermöglichte es ihm, seine Neugier und Freude auf das Kommende zu bewahren und sich selbst jederzeit treu zu bleiben. So blieb auch der seinem Wesen eigene heitere Grundton, der sich auch im Buch spiegelt, erhalten über die schweren Zeiten des Krieges, des politischen Kampfes, der Emigration und der Wiederkehr nach Deutschland hinweg. Nicht nur in seinen Kindheitsanekdoten, die bereits Wesen und Charakter des Erwachsenen ahnen lassen, erweist sich Wieland Herzfelde als begnadeter Erzähler. Seien es nun die urkomischen Erlebnisse im Hause des verkannten Fluggenies, des Ingenieurs Rock, oder die abenteuerlichen Ausreiß- versuche seines Freundes Anton Schramm oder seine eigene mangelnde Unterscheidungsfähigkeit von Dein und Mein im Paradies der Kindheit, alles ist beschwingt erzählt, heitertiefgründig durchleuchtet und voll Anteilnahme für die Beschriebenen, aber auch ehrlich gegen sich selbst.

Vor allem seine Kriegserlebnisse, die eingeleitet werden mit einem Tagebuchbericht des knapp Achtzehnjährigen über den Ausbruch des Ersten Weltkrieges und seine Reise nach Berlin zum Freiwilligendienst, beweisen seine schöpferische Kraft im Umgang mit der Sprache. Bereits als Gymnasiast hatte Herzfelde geschrieben - Tagebuch, Gedichte, Texte. Sein Tagebuch, klingt es auch noch sehr bemüht erwachsen und ernsthaft, legt Zeugnis ab von einer großen literarischen Begabung, Urteil und Sachverstand und politischem Interesse. Innerhalb eines Tages reift der junge zukünftige Vaterlandsverteidiger vom glühenden Patrioten zum Kriegsgegner. Seine genaue Beobachtungsgabe, sein Abstraktionsvermögen, sein unbeugsamer Wille, sich selbst treu zu bleiben, und sein freundliches Wesen haben im Verein mit seiner sprachlichen Gestaltungskraft zu einer Kriegsdarstellung beigetragen, die jenseits alles Bekannten liegt und die dennoch das Grauen des Krieges bei aller Kürze nicht eindringlicher hätte vermitteln können. Die Tragödie des Krieges, das namenlose Entsetzen bekommen bei ihm ein persönliches Antlitz.

Geschult durch die literarische Szene seiner Jugend, seine Kontakte zu Else Lasker-Schüler, die übrigens für die Änderung seines ursprünglichen Nachnamens Herzfeld in Herzfelde verantwortlich ist, weiß er sehr wohl die Wirkung des geschriebenen Wortes einzuschätzen. Schon als Schüler lehnt er „Ausgedachtes“ im Sinne von Nicht-Empfundenem ebenso ab wie das heute als cool geltende Über-der-Sache-Stehen. Wieland Herzfelde ist ehrlich bis zur Selbstaufgabe, und sein Lebensweg gab ihm im nachhinein jedesmal recht. Zivilcourage war ihm Lebensprinzip. Gewissermaßen als Ausgleich dafür nehmen selbst Desertionen einen glimpflichen Ausgang für ihn. In einer Zeit der schlimmsten Verfolgung während des Nationalsozialismus gewinnt er durch eigenes Erleben die Erkenntnis, „daß im Kampf gegen den Faschismus keine Waffe so wichtig ist wie diese: der Glaube an die gute Kraft im Nebenmenschen.“ (S. 234)

1949 erschien die erste Fassung von Immergrün, im Jahre 1958 die zweite, erweiterte Ausgabe, die auch der vorliegenden Neuveröffentlichung zugrunde liegt. Die erste Geschichte für das Buch war aus Geldmangel entstanden. Als nämlich in der Zeit des amerikanischen Exils im Juli des Jahres 1943 der 50. Geburtstag seines Freundes George Grosz nahte, schrieb Herzfelde in Ermangelung des Geldes für ein Geschenk die bizarre Geschichte ihrer ersten Begegnung auf („Ein Kaufmann aus Holland“). Bereits im März 1919 hatte er im Zellengefängnis in Plötzensee als politischer Häftling erfahren, „wie sehr sich meine Mitgefangenen durch die Erzählung meiner Jugend- und Kriegserlebnisse aufmuntern ließen“. Diese Episoden wurden ebenso in den Band aufgenommen wie sein nach dem Krieg wiedergefundenes Tagebuch der Jahre 1913/14 und ergänzt durch Erlebnisse aus der Zeit der Emigration und der Heimkehr nach Deutschland. Diese nur chronologisch geordnete, ansonsten aber eher zusammenhanglose Sammlung von Geschichten und Anekdoten läßt trotz ihrer willkürlichen Auswahl ein lebendiges Bild des Menschen Wieland Herzfelde erwachsen. Sie ist erheiternd, berührend, bisweilen erschütternd, vor allem aber voll Wärme und Menschlichkeit.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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