Eine Rezension von Bernd Heimberger


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Ansichten eines Allergikers

 

Jurij Brezan: Ohne Paß und Zoll
Aus meinem Schriftstellerleben.

Gustav Kiepenheuer Verlag, Leipzig 1999, 238 S.

 

Mancher hat sich mächtig das Maul zerrissen über Hermann Kant, als er kein Mächtiger mehr war. Ein vergleichbar schnödes Schicksal ist Jurij Brezan erspart geblieben. Er war Kants Stellvertreter im Präsidium des Schriftstellerverbandes der DDR. Wie er zuvor Anna Seghers’ Stellvertreter war. Brezan war der ewige Vize. Und für nix verantwortlich? Im Verband, in der DDR? War er der, der immer schweigend die eine Hand hob, während er die andere mit gekreuzten Fingern hinterm Rücken hielt? Sicher war Jurij Brezan auch so einer. Ansonsten war er der Stille, der Geschickte, der geschützte Sorbe, der „Vorzeige-Sorbe vom Dienst“, wie er selbst formulierte. Ansonsten war er, in jüngeren Jahren, „ein Agitator, ein Propagandist des Sozialismus“. Ansonsten war er ein Mensch, dem „Kunst als Lebenserlebnis“ fast das Wichtigste im gelebten Leben war. Ansonsten war er ein Schriftsteller, der „wesentliches zur Entwicklung der deutschen Literatur“ auf dem Boden der DDR beigetragen hat. Sämtliche Zitate sind dem zweiten Lebensbericht des 1916 in der Lausitz geborenen Brezan entnommen, der jüngst unter dem Titel Ohne Paß und Zoll erschien. Der Band ergänzt die 1998 wiederaufgelegte Autobiographie Meine Zeit durch Episoden, die keine Rechtfertigungen sein wollen, doch einiges geraderücken sollen. Damit unterm Strich herauskommt: Allen Verquickungen und Verbindungen zum Trotz ist Jurij Brezan ein feiner Mensch. War, ist er der? Schön, wenn sich ein Mensch im hohen Alter so sehen kann. Wenn den Menschen, den Mit-Verantwortlichen, der fast 40 Jahre Vize war, etwas schützte, so nicht nur seine Zugehörigkeit zum „kleinsten Volk in Europa“, sondern seine „Allergie gegen Macht“. Die bewahrte ihn davor, sich „ins Zentrum der Macht“ zu drängen, wo die Ulbrichts, Honeckers, Hagers waren. Ihnen, auch ihnen, ist Brezan begegnet. Stets mit der erklärten Distanz des Allergikers, der auf dem Lande lebte und die Stadtscharmützel scheute. Auch das bedeutete, geschützt zu sein. Durch den sichersten Schutz: den Selbstschutz. „Die Ratschlüsse von Obrigkeiten sind unergründbar“, schreibt Brezan. Er holte sich nötigen Rat zu Hause, in der sorbischen Heimat und Geschichte sowie in seiner Familie. In der Umwelt, die es ihm leichter machte, „in Vernunft zu handeln“, statt „aus Räson“. Dementsprechend ist sein ganzer neuer Bericht von der besinnlich-beschaulichen Art. Der Besonnene räumt der Vernunft alle Vorrechte ein und vergißt nicht, die Leser zu unterhalten. Anekdotischer Witz, witzige Anekdoten werden nicht nur um ihrer selbst willen erzählt. Uneitel kehrt Brezan den Weisen heraus. Kurz bevor er den letzten Punkt des Buches setzt, sagt er: „Ich lebe und schreibe über mich. Es ist nicht die ganze Wahrheit. Es gibt keine Wörter für sie, es gibt nur Wörter für ihre Erscheinung.“ Manche Erscheinung glänzt. Zum Beispiel, wenn der Schriftsteller festlegt: „Der 9. November 1989 kam von weit her ...“ Der Satz ist das ganze Buch wert, wie alle Sätze des Buches, die den Satz vorbereiten. Jurij Brezan bestätigt die alte These, daß Schriftsteller häufig mehr über die Zeit sagen als alle Politiker, Ökonomen und Soziologen der jeweiligen Zeit.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 9/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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