Eine Rezension von Christel Berger


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Geschichtsbuch und Psychogramm

 

Victor Klemperer: So sitze ich denn zwischen allen Stühlen
Tagebücher 1945-1959. 2 Bände.

Aufbau-Verlag, Berlin 1999, etwa 1800 S.

 

Mit siebzehn hatte Victor Klemperer, neuntes Kind des Rabbiners Dr. Wilhelm Klemperer, begonnen, systematisch Tagebuch zu führen. Im Unterschied zu vielen Schreibern (vor allem dieses Alters) ging es nicht vorrangig um geheime Seelenergüsse und Herzschmerzen, sondern das Motto hieß: „Leben sammeln“: „Beobachte, studiere, präge dir ein, was geschieht - morgen sieht es schon anders aus, morgen fühlst du es schon anders; halte fest, wie es eben jetzt sich kundtut und wirkt.“ Diszipliniert über ein Leben hinweg dieser Maxime folgend, entstand eine immense Chronik: die des Lebensverlaufs des Literatur- und Sprachwissenschaftlers Klemperer samt der Zeit 1881-1959, der Umgebung und der Ansichten, die er hatte und die ihm begegneten.

Klemperer hatte nach dem Gymnasium Germanistik und Romanistik in München, Genf, Paris und Berlin studiert, brach nach einem Studienaufenthalt in Rom das Studium ab, um sich als freier Publizist zu versuchen, schrieb Erzählungen und Monographien und nahm 1912 das Studium nochmals auf. 1913 Promotion. 1914 Habilitation. Nach kurzem Aufenthalt in Neapel (als Privatdozent) ging er als Kriegsfreiwilliger an die Front, arbeitete nach einer Verwundung seit 1916 als Zensor im Buchprüfungsamt der Presse-Abteilung des Militärgouvernements Litauen in Kowno und Leipzig. Danach außerordentlicher Professor in München und schließlich ordentlicher Professor an der TH in Dresden. Bei Dresden sollte es (bis auf die kurzzeitigen Versuche in Greifswald und Halle) auch bleiben.

Aber es folgte eben keine normale, stetige Hochschulkarriere. Schon vor 1933 wegen seines Judentums zurückgesetzt, mußte Victor Klemperer die Demütigungen und Schikanen der Nazis über sich ergehen lassen: 1935 wurde er zwangsweise in den Ruhestand versetzt, 1940 wurden er und seine („arische“) Frau Eva aus dem eigenen Haus vertrieben und ins „Judenhaus“ eingewiesen. Hier teilt er das Elend seiner Leidensgenossen. Er darf keine Bibliothek mehr betreten, keine Straßenbahn benutzen. Die Essenrationen sind kärglich, und täglich wächst die Angst vor Deportation. Seit 1943 muß er Zwangsarbeit in einer Kartonagenfabrik leisten. Nach dem Luftangriff auf Dresden flüchten er und Eva aus den Zwängen des Judenhauses, verbergen sich bei Freunden, retten sich bis nach München, um von dort nach der Niederlage der Nazis endlich „heimzukehren“ und ein neues, ganz anderes Leben beginnen zu können.

Victor Klemperer hat seine Erlebnisse und Beobachtungen Tag für Tag aufgeschrieben. Freunde versteckten die Manuskripte. Neben den Alltagsdetails interessierte den Sprachwissenschaftler vor allem die Veränderung der Sprache - im Zeitungsdeutsch (solange er noch an Zeitungen rankam), in den Verordnungen, in der Umgangssprache. LTI - Lingua Tertii Imperi - nennt Klemperer seine im jeweiligen Tagebuchtext enthaltenen Notizen über die Sprache im Dritten Reich.

Über den hohen Wert seines Tagebuchs als Quelle für die Zeitgeschichte war er sich im klaren, und er hatte vor, die Texte nach einer Bearbeitung als „Curriculum vitae“ zu veröffentlichen. Lediglich bis 1919 gedieh diese Bearbeitung (erschienen 1989 unter diesem Titel), der übergroße Rest blieb ungekürzt, „roh“, mit allen kaum für die Öffentlichkeit bestimmten intimen, ja kompromittierenden Details, gehörte zum Nachlaß, dem sich Walter Nowojski Jahrzehnte nach Klemperers Tod annahm. 1995 erschien der beeindruckendste Teil Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933-1945, und der wurde ein Riesenerfolg. Die detaillierte Darstellung des alltäglichen bedrückenden Lebens dieser beiden sensiblen Menschen, die Erlebnisse ihrer Leidensgefährten, das Beiseitestehen vieler, heimlicher Zuspruch ganz weniger und die großen und kleinen Beleidigungen durch auch namentlich genannte, ganz gewöhnliche Zeitgenossen sind ein Zeitzeugnis ganz besonderer Art. Klemperers Aufzeichnungen beweisen, wie viele direkt oder durch Duldung des Grauens mitgemacht haben, und bezeugen die kaum vorstellbaren Spielarten von Schikane und Leid. Das Buch traf nicht nur die Deutschen, es eroberte auch Amerika. Demnächst wird es einen Film geben ...

Der Erfolg beflügelte Verlag und Herausgeber, auch die Texte der vorangegangenen und folgenden Jahre zu publizieren. In mühseliger und bewundernswerter Kleinarbeit - schließlich mußte die schwer lesbare Schrift Klemperers entziffert und die Recherchen erledigt werden - edierten Walter Nowojski und seine Helfer Christian Löser und Hadwig Klemperer 1996 Und so ist alles schwankend. Tagebücher Juni bis Dezember 1945 und Leben sammeln, nicht fragen, wozu und warum. Tagebücher 1918-1932. Mit So sitze ich denn zwischen allen Stühlen. Tagebücher 1945-1959, die erst kürzlich erschienen sind, liegt nun der letzte Teil dieser Jahrhundertschau vor.

Jeder der beiden Bände umfaßt fast 1000 Seiten, wieder folgte Klemperer seinem Prinzip des Sammelns und Festhaltens von Augenblicken. Mit Sonntag, dem 17. Juni 1945, beginnt das Buch, und es endet, mit der zittrigen, kraftlosen Hand des Schwerkranken geschrieben, am 29. Oktober 1959 (am 11. 2. 1960 starb er). Wenn auch als abschließender Teil des großen Opus, sind die beiden Bücher durchaus eigenständig und auf andere Weise ebenso faszinierend wie die vorangegangenen Texte. Es ist die Geschichte einer großen Hoffnung, eines radikalen Neubeginns und der allmählichen Desillusionierung. Klemperer und seine Frau Eva sind wieder in ihrem Haus in Dresden-Dölzschen - „wie ein Wachtraum“, „in einer Märchenwelt, einer komischen, imaginären und doch höchst realen, aber etwas unsicheren Welt, einem komischen, manchmal rührenden, manchmal ein bißchen verächtlichem Paradiese“. Die Begegnungen mit Nachbarn und alten Bekannten, die Lebensbedingungen mit Hunger, Kälte, Besatzungsmacht, der Beginn einer neuen Ordnung inmitten von Trümmern - wieder registriert Klemperer alles detailliert. Ein Ergebnis seines bisherigen Lebens ist seine Entscheidung, sich politisch zu engagieren - bei den seiner Meinung nach konsequentesten Verfechtern antifaschistischer Positionen. Er wird KPD-Mitglied, hält zu den von vielen gefürchteten Russen. Er wird wieder als Professor eingesetzt, kann aber nicht in der Hochschule tätig werden, da das neue Konzept der TH Dresden keinen geisteswissenschaftlichen Zweig enthält. Sein erster Vortrag in der Öffentlichkeit ist ein beglückendes Erlebnis. Und es sollen so viele folgen! (Sein rhetorisches Können muß beeindruckend gewesen sein!) Auch Publikationsmöglichkeiten nimmt er wahr. Er bekennt sich, wo er kann. 1947 wird sein LTI veröffentlicht - die Zusammenfassung seiner Sprachstudien aus der Nazi-Zeit. Er wird Leiter der Dresdner Volkshochschule. Er ist der Leumund vieler, die ein antifaschistisches Zeugnis brauchen. Er ärgert sich und kämpft gegen die Wiedereinstellung von früheren Kollegen, deren Weste nicht rein ist. Er ist fast täglich in Sitzungen - im Kulturbund, in der Partei, in der Gesellschaft zum Studium der Kultur der Sowjetunion, in der VVN ...

Als er merkt, daß sein Traum vom Ordinarius an einer Universität in Dresden nicht erfüllt wird, sucht er an einer anderen Hochschule nach Möglichkeiten. Er zieht nach Greifswald und wird nicht heimisch. Er wechselt über nach Halle und ist längst schon im Alter, wo andere sich zurückziehen. Aber es soll noch Berlin sein, und er liebäugelt gar mit einem Rektorat. Obwohl voll beschäftigt mit der Arbeit an der Universität und als Wissenschaftler, sucht er Ämter noch in anderen Institutionen: Er wird Mitglied der Volkskammer, der Akademie der Wissenschaften, des Präsidialrates des Kulturbundes.

Doch allmählich erlischt angesichts der ernüchternden Realität die Hoffnung auf eine gerechtere Welt. Lange Zeit erscheint ihm die DDR im Vergleich zur Bundesrepublik das „kleinere Übel“. In den Gremien, denen er angehört, versucht er, seine Vorstellungen einer vernünftigen Hochschul- und Schulpolitik, von Demokratie und Meinungsvielfalt durchzusetzen, doch er bekommt selten recht. Enttäuscht und resignierend, registriert er Dummheiten, Lügen, Fehler, bis endlich sein Urteil über die Ulbricht-Diktatur vernichtend ausfällt. Er hält sie für faschistisch. Im Ergebnis einer China-Reise vertraut er seinem Tagebuch (aber nur dem und engsten Vertrauten) an, zum „endgültigen Antikommunisten geworden“ zu sein. Das bekennt er im Oktober 1958 - da ist er bereits sieben Jahre mit der um vieles jüngeren Frau Hadwig (Eva starb 1950) verheiratet, die ihn in seiner Desillusionierung bestärkt.

Die Bücher haben unschätzbaren Wert für eine Geschichtsschreibung des Alltags jener Zeit. Stimmungen, Gerüchte, Details, Fakten, Schicksale - hier sind sie in großer Menge zu finden. Das reicht von den Stromsperren und wundersamen Speisen über die Mangelerfahrung bei Hosenträgern und Zwiebeln, den Hautkrankheiten aufgrund der kärglichen Ernährung, der Qualität der vorhandenen Autos (daß es Holzvergaser gab, erinnerte mich Klemperer) und den Abenteuern damaliger Bahnfahrten. Genauso wichtig das jeweilige Stimmungsbild: die Haltung vieler zu den Russen, zur KPD, zur SED, zur neuerlichen Kriegsgefahr und der Sicherheit der bestehenden Systeme. Dazu die eigentümlichen Riten von damals: das rhythmische Klatschen in Versammlungen und die Wahl des „großen Stalin“ und anderer „Großer“ ins Präsidium. Auch als Teil-Kompendium einer Hochschulgeschichte der SBZ und späteren DDR ist das Buch verwendbar, zumal im vorbildlichen Register die kurzgefaßten Lebensläufe fast aller vorkommenden Wissenschaftler angegeben sind und sich so das Ganze wie eine Geschichte massenhafter Westflucht und massenhafter Abstrafung liest, was es wohl auch war. Die Berichte über Präsidialsitzungen des Kulturbundes und über Volkskammersitzungen ergänzen und entlarven bestimmt die eventuell vorhandenen trockenen Protokolle - was für eine Fundgrube für Historiker! Und gar nicht nebenbei erfährt man Fakten, etwa über die geplante Abschaffung der 12-Klassen-Schule, die möglicherweise ohne Klemperers Tagebuch für immer in Vergessenheit geraten wären.

Wie bei der Sprache des Dritten Reiches, widmet sich Klemperer nun der des „vierten“, das entstehende „LQI“ ist leider nur in Notizen erahnbar. Aber es dürfte für Sprachwissenschaftler höchst ergiebig und anregend sein.

Die Position „zwischen allen Stühlen“ ist zu Recht als Titel gewählt worden. Klemperer benutzt den Ausdruck wiederholt und meint damit die verschiedensten „Stühle“ - zwischen bürgerlichen und „sozialistischen“ Wissenschaftlern, Ost und West, ganz radikalen Positionen und liberalen, Sprach- und Literaturwissenschaft, Politik und Wissenschaft, Engagement und Rückzug, Parteitreuen und Dissidenten, ehemaligen Emigranten und in Deutschland Gebliebenen, Publizistik und Wissenschaft, Germanist und Romanist. Erst nach dem Lesen des gesamten Buches erschließt sich die vielfache Bedeutung, die zugleich auf die Problematik und Tragik dieses Lebens aufmerksam macht.

Denn neben den Alltags- und Gesellschaftsdetails geht es ja doch um das Leben dieses einen Mannes, dessen Fleiß immens gewesen sein muß. Wiederholt notiert er seinen Tagesverlauf, der kaum Schlaf kennt. Er hat unermüdlich gearbeitet, seine physische Kondition muß trotz der Entbehrungen jener Jahre und vor allem denen der vorangegangenen Zeit erstaunlich gewesen sein. Neben täglichem Schreiben, Kollegvorbereitungen, Korrigieren von Manuskripten das große Pensum von Sitzungen, die Strapazen der (anfangs) Bahnfahrten, die vielen Vorträge. Es scheint, als wolle Klemperer die verlorenen zwölf Jahre nachholen, und die Verlusterfahrung mag ein Grund gewesen sein für seine Aktivität, sein Engagement, aber auch seinen Ehrgeiz. Der freilich ist ein Punkt, der bei allem Respekt vor diesem Mann und Verständnis für ihn auch dessen Grenzen zeigt. Klemperer war krankhaft ehrgeizig und sein Streben nach aktueller Anerkennung, nach Ämtern, Privilegien, Orden unmäßig. Dafür hat er - zunehmend bedenkenlos und ungeniert - gegen andere intrigiert und bei den Zuständigen gedienert. Peinlich, wie schnell die meisten, denen er begegnet, seine „persönlichen Feinde“ werden, wie er sich über alles mögliche bei den Instanzen beschwert, sofort mit seinen Ämtern droht, wenn etwas nicht nach seinem Willen ist. Um stets präsent zu sein, konnte er sich gründliches Studium nicht leisten, ja wurde dazu unfähig. Daß so die Leistung nachließ, noch verstärkt durch altersbedingte Ausfälle, gestand er sich zwar in seinem Tagebuch ein, doch er brachte es nie in Zusammenhang mit den von ihm bitterlich konstatierten Verlusten an Einfluß, an Gefragt- und Gedrucktwerden.

Ich habe noch nie ein Tagebuch gelesen, das so ohne Beschönigung oder Rechtfertigung ein Selbstbild zeichnet, das charakterlich über weite Strecken so mies ausfällt. Klemperer gibt zu, daß sein Ich sich allein in äußerer Anerkennung und Ruhm (was immer das ist) findet, er beneidet seine beiden Frauen, die darauf nicht angewiesen und dennoch schöpferisch, klug und aufopferungsvoll für ihn sind. Vielleicht entdecken Ärzte in diesem Buch auch ein klassisches Krankheitsbild oder den typischen Fall für gerontologische Forschung, und bestimmt ist die Darstellung der gesellschaftlichen Entwicklung bis 1959 auch gefärbt durch die Brille dieser enttäuschten Ruhmeserfahrung. „Zwischen den Stühlen“ - sowohl Geschichtsbuch als auch Psychogramm eines ungeheuer Ehrgeizigen, so beurteile ich dieses Buch, das ich nicht aus der Hand legen konnte, bis ich es zu Ende gelesen hatte.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 7+8/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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