Wiedergelesen von Rolf Geißler


Uwe Johnson: Das dritte Buch über Achim

Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1961, 337 S.

 

Als Uwe Johnson 1959 mit seinem Roman Mutmaßungen über Jakob debütierte, hatte er ein neues Thema und einen neuen Ton in der erzählenden Literatur angeschlagen. Das geteilte Deutschland problematisierte einen wechselseitigen Realismus und ließ jede vorschnelle begriffliche Identifizierung und jede Vereindeutigung fragwürdig erscheinen. 1961 (vor der Mauer) setzte er diesen Weg mit seinem zweiten Roman Das dritte Buch über Achim fort. Er wurde sofort als bedeutend erkannt und etwa von Walter Jens in der ZEIT vom 6.10.61 als ein Buch „auf der Schwelle der Meisterschaft“ besprochen.

Damals las man das Buch vor allem im politischen Kontext. Es brach mit den Klischees zwischen Ost und West bzw. stellte sie auf den Prüfstand, gab eine Innenansicht eines - vom Westen aus gesehen - fremden Staates und ließ verstehen oder ahnen, was unter politischen Schablonen, Vorurteilen und Propagandareden verdeckt wurde. Hatte so dieses wichtige Stück Prosa eine politisch differenzierende Funktion, aktivierte es den Leser - fast gewalt- und mühsam - zum eigenen Denken, so ist es heute keineswegs - weil nicht mehr aktuell - zu amüsanter oder nostalgischer Unterhaltung geworden. Es ist vielmehr mit den Jahren in eine grundsätzliche Dimension geschichtlich-biographischen Erkennens „hineingewachsen“. An diesem Roman kann man ablesen, wo unsere erzählende Prosa einmal stand und wohin sie unter Medieneinfluß verkommen ist.

Worum geht es? Ein westlicher Journalist, Karsch, wird von einer alten Freundin (Karin) zu einem Besuch in die DDR eingeladen, lernt dort deren Freund, den berühmten Radrennfahrer Achim, kennen, wird von einem mitteldeutschen Verlag zu einer Biographie über Achim angeworben, einer dritten, die sich nicht nur mit den Sporterfolgen beschäftigen, sondern einen Nationalhelden porträtieren soll, bekommt Aufenthaltsverlängerung und Reiseprivilegien, macht Notizen, erkundet Achims Lebensgeschichte, gerät in Darstellungsprobleme und kehrt schließlich, ohne das Buch zu schreiben, nach Hamburg zurück.

Der Roman ist also im Grunde eine Darstellung über den vergeblichen Versuch, ein Buch zu schreiben. Und das liegt an einem einfachen, immer gültigen, aber unter politischen Dominanzen versteckten wirksamen Grund. Das wirkliche Leben läßt sich nicht zu einem eindeutigen Bild politischen oder ästhetischen Anspruchs vereinfachen. Es bleibt widersprüchlich, bruchstückhaft von unklaren und unbewußten Momenten durchzogen, wrackartig versackt und nicht auf den Begriff zu bringen. Diese Ungereimtheiten aber sind mehr als die traditionelle Schein-Sein-Thematik. Es ist vielmehr so, daß eher der Schein als eindeutig und fixierbar „erscheint“, wenn man ihn in den realistischen Denkrastern der Systeme angeht, daß aber dort, wo er denkend und fragend auf das Sein, auf die Wahrheit hin durchstoßen wird, sich zeigt, daß gerade das Sein, das, was wirklich ist und war, sich der Eindeutigkeit und identifizierenden Beurteilung entzieht.

Der Versuch, die geschichtliche Wirklichkeit als Kontext und das wirkliche Leben Achims zu beschreiben, führt zu einer Problematisierung, In-Frage-Stellung, Unklarheit, ja, Verdunkelung in Karschs Notizen. Aber der Verlag und am Ende sogar Achim selbst, das Parteimitglied und der Volkskammerabgeordnete, wollen die Herausarbeitung einer politisch bruchlosen, vorbildhaften Persönlichkeit, eines Idols für die Jugend und wollen damit die Eliminierung der Widersprüche. Johnson dagegen und in seinem Namen Karsch schreiben gegen dieses Idolhafte an und wollen ergründen, wie es wirklich war und ist.

Dazu benutzt Johnson den Einfall, die wichtigsten Erscheinungen für Karsch als fremd erscheinen zu lassen. Aus einem anderen (westlichen) Kontext gelesen, werden alle Eindrücke, die er sammelt, problematisch und sind kaum zu verstehen. Sie werden, wie alles Nur-Informative, nur immanent, unter bestimmten Denkvoraussetzungen, verständlich. „Unterschied“ und „Entfernung“ kennzeichnen die Darstellung. Aber gerade so bringt sie mehr ans Licht als ein „realistisches“ Abbild. Sie zeigt, aufs Ganze gesehen, wie wenig der Mensch er selbst ist - allen westlichen Selbstverwirklichungsideologien zum Trotz -, wie er eingebunden ist in die Zeit und ihren „Ungeist“, wie Achim z. B. ein überzeugter Hitlerjunge war, die Nachkriegsvorurteile gegen die sowjetische Besatzung nicht kennt, weil er von einem russischen Soldaten ein Fahrrad geschenkt bekam, seinen persönlichen Halt als Maurer findet, durch Zufall mit seinem Privatrad an einem Radrennen teilnimmt, allmählich in die Nationalmannschaft der DDR hineinwächst und so seinen Weg zum „Vorzeigehelden“ geht.

Johnson, dessen Darstellung vor allem Definiten und vor den herrschenden politischen Begrifflichkeiten in z. B. umständliche - auch bürokratische - Beschreibung ausweicht, spricht so z. B. - um nur eine kleine Wendung anzuführen - immer nur vom Sachwalter, wenn er den Staatsratsvorsitzenden meint. Durch dieses Verfahren entsteht eine sehr allgemeine Prosa, die aber, darstellerisch aufgesplittert, vielfältig gebraucht werden kann. Da gibt es zunächst verschiedene Zeitebenen: Die Nazizeit, Kriegszeit und -ende, erste Jahre der DDR, die romanhafte Gegenwart (1960) u.a.m. Diese Zeiten überlappen sich, werden ineinander verschränkt oder reflektierend aufeinander bezogen, so daß der Leser gefordert wird, durch Mitdenken sich den Text erst verstehend zuzuordnen. Situationen, die detailgenau und präzise (und Johnson ist ein Meister solcher konkreten Beschreibungen) gegeben werden, hängen erzählerisch in der Luft und sind oft weder zeitlich noch personell oder perspektivisch zugeordnet. Auch deren Funktion und Intension muß vom Leser erst selbst „gemutmaßt“ werden. Das gilt auch für Dialogfetzen, deren Personen oft nicht auf Anhieb deutlich werden. Es ist also Verunsicherung und Anstrengung des Verstehens, was Johnson erzählerisch erzeugt.

Im Detail sieht das so aus, daß zu jedem Ist ein Könnte tritt, daß Vergangenheitsfetzen auf ihre Bedeutungsmöglichkeiten hin durchprobiert werden, daß zu den Fakten auch Ahnungen, Mutmaßungen, Reflexionen treten, daß die Möglichkeit die zentrale Kategorie und der Konjunktiv der alles indikativische überformende Modus ist und daß verschiedene Formen von Wissen zur Erkundung des Geschichtlichen dazugehören. So besteht der Text auch aus Vermutungen und Entwürfen, die durchspielen, ob es so oder anders gewesen sein könnte, oder es werden dem Faktenmaterial aus Achims Lebenszeit Deutungsmodelle von A-F „anprobiert“.

Was ist Wahrheit? Diese Frage beherrscht den Roman aus heutiger Sicht mehr als die Darstellung der deutschen Geschichte in verschiedenen Etappen, die sich gleichwohl und erkenntniserhellend aus dem um- und umgewendeten, bedachten und bezweifelten Material ergibt. Mit einem ganz kurzen Zitat nur eines Aspekts dieser Bemühungen sei das gezeigt: „Nämlich Karsch schrieb auf was Achims Gedächtnis unsichtbar und ungesehen zurückfischen mochte an Wrackteilen eines vordem verlebten Nachmittags; Achim wußte was Karsch nur vermuten konnte.“ Aber wußte Achim das auch wirklich? Oder hatten sich nicht auch bei ihm die Fakten des Lebens den Bildern der Erinnerung anverwandelt?

Ein Roman, der auf diese Weise auch deutsche Geschichte erzählt, „produziert“ also keine abrufbaren Ergebnisse, sondern Nachdenklichkeit und fordert auf, gründlicher als je unter der nichtssagenden und gleichwohl manipulierenden Bilderflut elektronischer Medien den eigenen Kopf zu gebrauchen und ihn freizuhalten von den gängigen Meinungen.

Oft sind es Fotos oder Filmdokumente, aus denen Karsch seine Informationen bezieht und die seine Fragen und Vermutungen bestimmen. Was also war mit dem Foto, das Achim am 17. Juni 1953 in einer Reihe demonstrierender Arbeiter zeigt? Auf dem Foto selbst ist der Grund dieses „Mitlaufens“ nicht sichtbar: Zufall, Kumpelhaftigkeit, Überzeugung? Achims Biographie bleibt unschreibbar. „Dargestelltes ist Verlogenes / und dargestellt Verlogenes lieben wir“, sagt Thomas Bernhard in seinem Stück „Der Theatermacher“ etwa 25 Jahre später. Die Vereindeutigung im Bild ist die Lüge - über die Geschichte und über ein persönliches Leben. Die Problematisierung bis in vage Vermutungen, Ahnungen, Wünsche hinein bleibt in ihrer Vieldimensionalität enger an der Wirklichkeit, ist wahrhaftiger im Standhalten der Widersprüche als politische und ästhetische Vereindeutigung.

Im Roman packt Karsch seine Koffer und fährt zurück, aber nicht ohne daß der Roman auch die wesentlichen Positionen erschüttert hätte.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 6/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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