Eine Rezension von Helmut Hirsch


Nicht nur Gedankenblitze

Marguerite Yourcenar: Die Zeit, die große Bildnerin

Essays über Mythen, Geschichte und Literatur.
Aus dem Französischen von Rolf und Hedda Soellner.

Carl Hanser Verlag, München 1998, 315 S.

 

Marguerite Yourcenar (1903-1987) hat nicht nur die Trilogie Das Labyrinth der Welt, die die Geschichte ihrer Familie beschwört, geschrieben. Auch als Autorin historischer Romane und Erzählungen fand sie ein großes Lese-Publikum. Und sie hat zu allen Zeiten auch Essays veröffentlicht. In ihnen zeigt sie große Neigungen zur Literatur und Kunst der Antike, zugleich aber auch analysiert sie die Werke ihrer „Kollegen“, unter ihnen Thomas Mann, Henry James, Oscar Wilde und Jorge Luis Borges.

Sie entwickelt ihre Gedankenblitze aber nicht nur an literarischen Texten, auch in der Architektur (Piranesi) oder in der Musik, in den Negro Spirituals, analysiert Marguerite Yourcenar mythische, historische und religiöse Gehalte. Man kann diese Essays wie eine persönliche Bildungs-Geschichte lesen, in der Literatur überwiegt. Über die Romane von Henry James schreibt die Autorin mit großem Respekt. Es wird geradezu eine prickelnde Nähe gesucht, die das Gespür für den Text erst ermöglicht. Während sie den Roman „What Maisie knew“ übersetzt, stellt sie Fragen, eine lautet: „Muß man bei diesem hochvirtuosen Text von großer Kunst sprechen?“ Eine Frage, die von der Erfahrung bestimmt ist, daß „große Kunst“ immer ein Geheimnis enthält, das zu lüften wiederum der Kunst des Entschlüsselns bedarf. Gerade hier ist Marguerite Yourcenar in ihrem Element. Sie vermag trotz alledem das Rätsel James nur teilweise zu lüften, vielleicht hat sie mehr erfahren, als sie zu formulieren imstande ist, denn vorsichtig deutet sie es so: „Wahre Größe scheint immer einherzugehen mit einer Fülle, einer Leichtigkeit, einer Art großmütiger Hingabe, auf die James keinen Anspruch erhebt.“ Thomas Manns Romane vergleicht sie mit den Romanen von Proust und Joyce. In ihnen allen wird eine Summe zeitgenössischer „Grundideen“ gesehen. Das Romanwerk Thomas Manns hält sie, und das mag manchen Anhänger von Joyce und Proust überraschen, für „das schwierigste, weil in ihm die gelehrten Gedankenwindungen sich hinter einem bürgerlichen Realismus verbergen, der bereits überholt erscheinen mag, oder hinter einem literarischen Spiel großen Stils, an dem der Leser von heute immer weniger Anteil nimmt.“

Der eigenen Art des Erzählens kommt die Yourcenar in dem Essay „Ton und Sprache im historischen Roman“ am nächsten. Nach einem großen Exkurs, der den Griechen der Antike gilt, kommt sie auf eine ihrer historischen Lieblingsfiguren, auf Hadrian zu sprechen. Die freie Rekonstruktion eines Augenblicks nennt sie „imaginäre Erinnerungen“, und es ist dies die Programmatik einer modernen Schreibweise, die dem Leben in einer ganz anderen Zeit nahe zu kommen bemüht ist.

Imagination mag ein Schlagwort sein, die Yourcenar bedient sich aber der Imagination, um dem jeweiligen Gegenstand, sei er erzählt oder essayistisch entwickelt, präzise auf die Spur zu kommen. Sie tut das auch in Bereichen, die nicht ihrer eigenen Erzählpraxis entsprechen. Der Essay „Der Mann, der die Steine liebte“ beginnt ganz eigenartig: „Meine Bekanntschaft mit Roger Caillois war flüchtig: Ich habe ihm gelegentlich die Hand gedrückt und einige Mahlzeiten mit ihm geteilt. Aber sie ist gründlich: Ich habe seine Bücher gelesen.“ Eine Schriftstellerin lernt einen Schriftsteller durch das Werk, das er geschrieben hat, kennen. Sie achtet genau darauf, „wie ein großer Geist sich formt, sich äußert, zuweilen widerruft oder sich widerspricht, er selbst wird und schließlich mehr als er selbst“. Da ist es wieder, das von der Yourcenar so wichtig erachtete Moment der Imagination. Das doppelte Leben eines Poeten, die Dimension, die ein Überleben sichert, das spätere Generationen im Werk immer wieder neu erleben können. Es ist schön zu verfolgen, wie die Entwicklung des Surrealisten Roger Caillois beschrieben wird. Sie erzählt von einem Mann, der im Alter mehr und mehr die Steine liebte, seine einstigen Konzepte vergaß, um sich ganz den phantastischen Zauberbüchern der Natur zu überlassen. In den Archiven der Geologie sah dieser Mann schon das Modell dessen, woraus später ein Alphabet und somit die Sprache entstehen sollte. Spiel und Erdgeschichte in einem, vereinen die Steine Anfang und Fortgang, Leben in Bewegung und in der Verharrung. Diese Erfahrungen sind der Yourcenar ganz wichtig, und sie weiß, daß der verehrte Caillois auch ihr eine geheimnisvolle, stille und unaufhörliche Melodie nahegebracht hat. Ihr Schlußsatz in dem wunderbaren Essay „Der Mann, der die Steine liebte“ benennt nicht nur Erfahrung und Tradition, Liebe und Lese-Entdeckung, er enthält die Formel für ein Ritual, in dem der Zauber der poetischen Imagination steckt: „Ich werde immer dann an ihn denken, wenn ich den Steinen lausche.“

Es ist so, als ob jeder Dichter, der hier im Essay von einer Dichterin vorgestellt wird, vor allem deswegen erscheint, weil er für eine wesentliche Seite im Leben und im Werk der Marguerite Yourcenar steht. Die essayistische Darstellung erreicht ihren Gegenstand durch Annäherung, diese Annäherung ist immer auch ein Selbstfindungsprozeß, ein Akt der Selbstversicherung. Wenn sie über den neugriechischen Dichter Konstantinos Kavafis schreibt, untersucht sie nicht nur die poetische Technik des Lyrikers, sie gewinnt sozusagen Elementar-Erkenntnisse: „Was immer wir auch tun, wir steuern unvermeidlich die zugleich enge und tiefe, verschlossene und durchscheinende geheime Zelle der Selbsterkenntnis an, die oft dem reinen Wollüstigen oder dem reinen Intellektuellen eigen ist.“ Das Amt des Dichters, darum geht es in diesem Buch, ist bei jedem Autor anders, aber es gibt Wesentlichkeiten, die sie alle miteinander verbinden. Und da wird der große Bogen, den die Yourcenar zur Antike geschlagen hat, erst transparent und plausibel, die Stellung des Dichters ist zu allen Zeiten, in allen großen Epochen insonderheit immer „die eines erlesenen Handwerkers; seine Funktion besteht ausschließlich darin, daß er der brennendsten und chaotischsten aller Materien die klarste und geschmeidigste aller Formen gibt“.

Der Leser bleibt hier nicht etwa am Rande und nur als ein Genießender stehen. Was die Yourcenar ein Jahr vor ihrem Tod über den Argentinier Borges schreibt, erreicht die Dimension des Lesers mit pittoresker Gründlichkeit. Schon Borges trieb das kecke Spiel in seinen Texten, in denen der Autor zugleich auch Leser sein kann. Denn: „Lesen, richtig lesen, heißt so viel wie übersetzen oder den Gedankengang des Autors, den man liest, neu vollziehen.“

Jedes Buch projiziert auf jeden Leser andere Lichter und andere Schatten, dies ist eine Lese-Erfahrung, die man bei Marguerite Yourcenar auf wunderbare Weise machen kann.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 5/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

zurück zur vorherigen Seite