Eine Rezension von Sebastian Kiefer


„sprachlos vor Kälte die Münder ...“

Ingeborg Bachmann: Letzte, unveröffentlichte Gedichte, Entwürfe und Fassungen

Edition und Kommentar von Hans Höller.

Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1998, 180 S.

 

Das „Kursbuch“ 15 ist keine Zeitschriftennummer, sondern eine Legende. Im Chor verkündete es - 1968 - den „Tod“ der Literatur (wenigstens der „bürgerlichen“). Die vier Gedichte Ingeborg Bachmanns, die darin auch zu lesen waren (in anderer Reihenfolge, als von der Dichterin vorgesehen), hat man gerne auf jenen Grabgesang bezogen: „Keine Delikatessen“ etwa sei nichts weniger als Bachmanns „rückblickende Abrechnung mit der Dichtung, genauer gesagt mit der Lyrik“, die die endgültige Abkehr vom Vers nach sich gezogen habe. Der Blick, den Hans Höller, der Salzburger Spezialist, nun in den (riesenhaften) Nachlaß gewährt, belehrt uns, daß wir die vier Gedichte nicht als Nachzöglinge der mehr als ein Jahrzehnt zuvor ausgesetzten lyrischen Produktion verstehen dürfen, sondern als Gipfelresultate einer fortgesetzten, wenn auch durch die Mühen des „Todesarten“-Projektes naturgemäß stark gedrosselten Anstrengung ums Gedicht. Der größte Teil der späten Gedichtentwürfe bleibt, dank der Erben, den Augen der Öffentlichkeit auch weiterhin verborgen. Das, was uns im ersten Teil seines Buches auf vier fotomechanisch reproduzierten Blättern vor Augen kommt - in der legendären Schreibmaschinen-Orthographie der Bachmann („id ihc fresd das alles“ [S. 49], „ASssitsnet“ [S. 75]) - nennt Höller mit Recht „wenig spektakuläre Werke“. Bedeutsam wird das Unscheinbare, weil drei der fünf nachgelassenen Werkchen „Gegenbilder“ zu den krisenhaften Berliner Jahren nach der Trennung von Max Frisch entwerfen. Wir gewärtigen, so Höller, „einen neuen Schreibansatz“: „Es sind Gedichte, in denen das Ich sich aufgehoben erfährt in friedlichen sozialen Beziehungen oder in den Gedächtnisräumen Stadtlandschaften fühlt.“ Zwei weitere, die Höller beigibt, sind dagegen Paralleldokumente zur Büchner-Preisrede von 1964 („Ein Ort für Zufälle“), die den nicht weniger als den „Wahnsinn“ der uns ergreifenden zivilisatorischen „Zufälle“ beschwor. „Schallmauer“, das erste der beiden, lotet in eben diesem Sinne die „Wahnkraft“ einer zivilisatorischen Unbilde aus. Schlichte Beobachtungen, aneinandergereiht noch ohne schlüssiges Konzept - „es ist nicht mehr weit, / bis zum großen Knall / unter dem du dich duckst / über dir, oben, du / die Schallmauer durchschlägst / nach oben“. (19) Doch wenn der Nerv getroffen ist - der „Wahn“ der Zivilisation -, dann schwingt die Sprache sich auf, sucht den erhabenen, vollen Klang, den wir von der fertigen Bachmann kennen, und das treffende Bild stellt sich ein: „Du duckst dich, du bist schon / oben und trittst deine Reise an / mit funkelnden Fetzen und Felgen / mit au[s]gerissenen Nähten und / deiner Wahnkraft, für deren / Durchschlag der Himmel [immer] zu weich / und die Erde zu hart ist.“

Höller gibt Kostproben seiner intimen Kennerschaft und stellt diese Phantasien in den Werkzusammenhang. Lehrreich der Hinweis auf Rilkes „Malte“, durch dessen Stube elektrische Bahnen läutend „rasen“. Doch schon hier, beim Kommentar zum ersten Gedicht, macht sich bemerkbar, daß Höller zur eingeschworenen Gemeinde der Bachmann gehört, und für die ist charakteristisch, daß, wenn die Dichterin vom Leid spricht, das nicht einfach das Leid einer prekären Erziehung und einer dramatischen Liebesverwicklung ist - so sagen es die biographischen Dokumente -, sondern das Leid der Welt, das sie auf ihre Schultern lädt. Die schlichten und gar nicht welthistorisch dimensionierten Zeilen vom Überschallknall dürfen also nicht sein, was sie sind, nämlich Gelegenheitsverse im besten Sinne des Wortes, nein, der „große Knall“ vergegenwärtige den Krieg, und zwar „als Territorialisierung des Lärmangriffs auf das Ich“. Statt von einer persönlichen Lebenskrise, die den Blick der Dichterin empfindlich und eben auch überscharf macht, redet Höller umstandslos vom „gesellschaftlichen Wahnsinn“, der sich im Gedicht reflektiere.

„Wenzelsplatz“: Ein einfacher, kurzer Tagtraum von Heimat im Zentrum Prags - „Der Platz, von [dem] ich aber nachhause finde“. Höller ist hilfreich, wo er die beiden Pragreisen der Bachmann 1964 skizziert, der die drei versöhnlichen „Gegenbilder“ zum Moloch Berlin zu verdanken sind. Er gibt den feinen Hinweis auf die Hölderinschen Zeilen „Die Mauern stehn/Sprachlos und kalt“, die wir, geleitet vom Herausgeber, ohne weiteres als Vorbild der Bachmann-Verse „sprachlos vor Kälte die Münder, hinauf und / hinunter wie Fischzüge [...]“ erkennen. Doch aus den - trotz des schönen Bildes von den im Schnee „hinauf und hinunter wie Fischzüge“ gleitenden Pragern - eher beiläufigen Notizen der Bachmann macht Höller einen emphatischen „utopischen Traum“, zu dem man „nur durch den Untergang des selbstherrlichen Ich, durch das Abtun aller Besitz- und Herrschaftsansprüche“ gelangt.

Regelrecht störend wird Höllers Hang, das eher arglos zu Papier Gebrachte mit dem Gewicht von Weltgeschichte und Klassenkampf zu beschweren, im schlichtesten jener drei „Gegenbilder“, dem ausgesprochen unfertigen Gedicht „Poliklinik Prag“. Zeilen wie „Kein Reichenhaus, kein Armenhaus, / nur ein Krankenhaus für die Kranken, kostet nichts“, sieht Höller „von Negationen bestimmt, die den Warencharakter und die gesellschaftlichen Gegensätze zur Vergangenheit erklären und indirekt eine Gemeinschaft der Mühseligen und Beladenen sichtbar machen“.

Zwei bescheidene Versnotate in Parallele zur Büchner-Preis-Rede, drei Entwürfe in der „neuen Schreibart“ bilden den ersten Teil dieses Bandes. Alle tragen, auf je eigene Weise, den Keim zum gelungenen Gedicht in sich. Die fünf Sprößlinge muß kennen, wer das vollständige Bild der Bachmann will, und doch ist der zweite Teil des Bandes der bedeutendere: Zu drei der vier Dichtungen aus dem „Kursbuch“ liefert uns Höller hier die Entstehungsstufen nach, am eindrucksvollsten gewiß im Falle des berühmten „Keine Delikatessen“ (S.46-95). 14 Stationen eines Dramas, an dessen Anfang ein ganz ungereinigter körperlicher Impuls steht: „Man müßte [alles] Geschlachtete und Hingemähte / fressen mitsamt den Maden [...] // Zuschlagen, / mich niederschlagen, / diesen Schädel, der nichts mehr wert ist, / aufbrechen, dieses verderbte Hirn essen / mit einem Tropfen Zitrone und brauner Butter darüber.“ Im dritten Stadium (Textzeuge 3, S. 50f.) entdeckt die Dichterin die Möglichkeit, die somatische Aversion gegen die verfeinerten Gaumenfreuden in Analogie zur Aversion gegen das beschönigende Wort zu setzen: „Soll ich eine Metapher ausstaffieren mit einer Mandelblüte“. Sie wandelt ihr Begehren nach der schlichten und derben Nahrung in die Vorliebe für das schlichte Wort: „Ich habe das Nachsehen gelernt / mit den einfachsten Worten / die da sind (für die untere Klasse)“. Und dann plötzlich, als sei die Dichterin unsicher geworden über ihre Analogie, Textzeuge 4: Alles Gefundene ist vom Tisch gewischt, alles steht wieder in Frage, das Rätsel „Soll ich“? verselbständigt sich und beherrscht das ganze Blatt, über dem als Titel trotzig steht „Soll doch!“ immer wieder geht der Schaffensprozeß vom körperlichen Impuls zur Läuterung im Wort und zurück, dann kommt ihr in den Sinn, dies Hin-und-Her von Soma und Symbol zu verdichten - im Kompositum „Worthappen“ zuerst, dann im eigenartigen Genitiv „Libido eines Vokals“ (T 7, 63). Nun sind die zentralen Bildelemente, die wir aus dem fertigen Werk kennen, da, nur die Form noch nicht, und im Ringen um sie kommt der Bachmann ein weiterer kühner, unerhört moderner Einfall - sie nimmt den körperlichen Zustand während der Suche in das Gedicht mit hinein und verzahnt ihn kurzerhand mit der Außenwelt: „Mit dem Schreibkrampf in dieser Hand, / [...] mit der beschäftigten Unterlage, auch / die Welt genannt, nicht ich, die anderen.“ (63). Die Frage „Soll ich?“, die Metapher von der „Libido der Vokale“ und der „Schreibkrampf“ bestimmen nun kurzzeitig das Feld, erst nach und nach treten die anderen Elemente wieder hinzu. Am Ende sind wir gründlich belehrt, welcher Zweifel und Umwege es bedurfte, um bei der fragilen Balance anzukommen, die im fertigen Gedicht „Keine Delikatessen“ nur oberflächlichen Lesern lose vorkommen kann.

Bei Höller sind einige zutreffende Charakterisierungen zu lesen - „Notate eines destruktiven, gegen sich selbst gekehrten Wütens“ zum Beispiel, oder die Rede von den sich massierenden „Soll-Gesten“. Doch allzuviel ist auch hier die Rede vom „Affekt gegen den Warencharakter einer zum Kunstgewerbe gewordenen Scheinproduktion“, von einer „nichtideologischen Gesellschaftskritik“ im Hintergrund. Das eigentliche Drama, das der Sprache und ihres Verhältnisses zum Soma, geht dabei unter, und das wiegt besonders schwer, ist doch auch das vollendete Werk deutlich aus dieser Spannung komponiert: Den „Lichteffekt“ der erhabenen Sprache konterkariert die Bachmann mit der (ganz und gar nicht erhabenen) Rede vom „Schädel zerbrechen“; den „Worten“ in Strophe zwei setzt die den „Hunger“, dann das „ungereinigte Schluchzen“ entgegen usf. Von „Kritik“ am „schönen Schein der Konsumwelt“ ist hier schlechterdings nichts zu sehen, sehr viel dagegen von der Kompositions-Arbeit.

Höllers beständige Anstrengung, Verse in den Dienst einer „nichtideologischen Gesellschaftskritik“ zu stellen, bringt es auch mit sich, daß er die kleineren Dramen in den größeren übersieht: Bachmanns Hin-und-Her zwischen syntaktischem „Lichteffekt“ und „ungereinigtem Schluchzen“, so wissen wir inzwischen, ist auch ein Ringen mit ihrem von ferne geliebten Celan, der der Bachmann ihre metaphorische Opulenz ankreidete. In frühen Entstehungsstufen des Gedichtes „Böhmen liegt am Meer“ kommt der unterschwellige Dialog mit Celan für kurze Zeit an die Oberfläche: „Zugrund - das heißt zum Meer, dort find ich Böhmen wieder. / schlafabwärts, wahndurchwuchert, doch wach ich ruhig wieder auf.“ lautet Vers 12 dort. Derlei Komposita mit Substantiv als Präfix sind für die späte Bachmann ganz und gar ungewöhnlich, gehören jedoch seit der „Niemandsrose“ unabdingbar zum Vokabular Celans. Als würde sie den Dialog noch eigens markieren müssen, fügt Bachmann in der Folgezeile noch das „Du“ ein, um es gleich darauf, als wäre damit zuviel offenbart, ab der sechsten Textstufe wieder zu tilgen: „Zugrund, das ist zum Du, so bin ich unverloren.“ Es ist besonders überraschend, daß Höller das übersieht, wo er doch in seinem Kommentar Sigrid Weigels Recherchen um das Wort „unverloren“ als „Topos“ des Dialoges Bachmann-Celan mitteilt. Auch hier erfahren wir viel Nützliches von Höller, zum zwischenzeitlich auftauchenden Shakespeare-Zitat „to the begetter“, zum Doppelsinn des Wortes „zugrund“, zu biblischen Anklängen, zum „Privatmythos“ Bachmanns vom „Haus Österreich“ und anderes mehr. Nur die Form-Arbeit, die kommt auch hier zu kurz.

„Enigma“, das dritte der „Kursbuch“-Gedichte, zu dem Höller die Entwürfe vorstellt, hält an Qualität keinen Vergleich mit den beiden anderen aus. Die Textstufen zeigen auch hier ein Hin-und-Her zwischen purem „ungereinigten Schluchzen“ und Übersteigung des bloß Individuellen: Die Zeilen aus Altenberg und Mahlers dritter Symphonie - die Bachmann nicht als Zitate, sondern als „erregende“ Erfahrungen verstanden haben wollte - standen von Beginn an fest. Dann, in der dritten Stufe, bricht unversehens das Urtrauma der Dichterin hinein: „Sag mir, warum, sagt es, / mich niemand gezeugt hat, / mich jemand ermordet hat, / und mein Vater, hab ich einen, / Du sollst nicht weinen.“ Der fortschreitende Schaffensprozeß ist hier ein Ausmerzen des Erwogenen bis auf einen dürren Rest: Vielleicht lesen wir nun, nachdem wir wissen, wie viele Impulse und Bilder die Dichterin sich verboten hatte, die kargen, metaphernlosen Rhythmen des fertigen Gedichtes noch einmal neu.

Hans Höllers Arbeit hat uns bereichert, was immer man von einer „nichtideologischen Gesellschaftskritik“ denken mag. Jedem an der Arbeit des Schreibens Interessierten sei der Band empfohlen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 5/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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