Eine Rezension von Kathrin Chod


Zwei pfiffen zusammen

Kimberley Cornish: Der Jude aus Linz

Hitler und Wittgenstein.
Aus dem Englischen von Angelus Johansen.

Ullstein Verlag, Berlin 1998, 432 S.

 

Wieder einmal muß die Geschichte des 20. Jahrhunderts neu geschrieben werden. Schließlich kann der australische Philosoph Kimberley Cornish Fragen beantworten, die seit Jahrzehnten nicht nur Historiker bewegen: Wie und wo entwickelte Adolf Hitler seinen mörderischen Judenhaß? Woher stammen die Grundzüge des Nationalsozialismus? Auf welche Weise kam es zur Niederlage des Dritten Reiches? Alle diese Fragen lassen sich durch die Beschäftigung mit einer einzigen Person beantworten, und die gilt als einer der bedeutendsten Denker dieses Jahrhunderts: Ludwig Wittgenstein. „Kein Wittgenstein - kein Hitler“ lautet die wichtigste These dieses Buches, und die zweite heißt: „Kein Wittgenstein - keine deutsche Niederlage“.

Die ganze Geschichte beginnt 1904/05 in einer Linzer Realschule: Hier besucht Ludwig Wittgenstein die fünfte, der um wenige Tage ältere Hitler die dritte Klasse. Bekannt durch die Arbeit Möckers von 1985 - nicht 1987, wie Cornish schreibt - bietet der gemeinsame Schulbesuch genügend Anlaß für weitere Spekulationen. Doch Cornish spekuliert nicht: „Jenseits jeden vernünftigen Zweifels lege ich dar, daß Ludwig Wittgenstein der Anlaß für Hitler war, ein glühender Antisemit zu werden“, oder anders gesagt: „Dafür, angenommen, daß Hitler 1905 antisemitisch eingestellt war, genügt Wittgenstein.“ Der Autor führt verschiedene Argumente für diese These an, etwa daß Wittgenstein und Hitler gern pfiffen. Lag da nicht eigentlich der Grundstein für eine tiefe Freundschaft? Wittgenstein kritisierte gern besserwisserisch, und Hitler konnte persönliche Kritik nicht ertragen. Ist es da nicht zwingend, daß der Realschüler Wittgenstein den Realschüler Hitler beim Pfeifen korrigierte und dieser so einen unbändigen Haß auf alle Juden entwickeln mußte? Doch dabei bleibt es nicht: Hitlers Dogmen, so der Autor, seien „die veränderten, pervertierten Darstellungen“ der Gedanken Wittgensteins zur Interpretation des Ichs. Wittgenstein meinte einmal, daß seine Grundideen ihm sehr früh in den Sinn gekommen wären. „Sehr früh“, so folgert Cornish messerscharf, kann natürlich nur auf der Realschule gewesen sein. Die besagte Grundidee wäre demnach die „Theorie des Nicht-Besitzens“ des Geistes. Diese mystische Einsicht des frühen Wittgenstein habe dieser später mit logischen Umhüllungen verkleidet, um sie zu verdunkeln. In Hitlers Umwandlung dieser Idee „gibt es nicht einen einzigen universellen, niemandem gehörenden Geist für alle menschlichen Wesen, sondern einen einzigen arischen Geist, an dem alle Mitglieder der richtigen Rasse teilhaben“. Nachdem Realschüler Wittgenstein nun soviel Unheil heraufbeschwor, war er es aber auch, der „das Reich zur Strecke brachte“. Ein so außergewöhnlicher Philosoph wählte dafür einen wirklich außergewöhnlichen, aber auch etwas umständlichen Weg. Kaum wieder in Cambridge, wirbt er unter der Elite des Vereinigten Königreiches Top-Spione für die Sowjetunion an. Diese lieferten den Russen dann das britische Entschlüsselungssystem, mit dem alle Wehrmachtspläne und -befehle dechiffriert werden konnten, womit die deutsche Niederlage besiegelt war. Abgesehen von der etwas abenteuerlichen Interpretation des Zweiten Weltkrieges: Wittgenstein kehrte 1929 nach Cambridge zurück. Zur gleichen Zeit bzw. in den folgenden Jahren begannen dort Kim Philby, Guy Burgess, Donald Mclean und Anthony Blunt ihr Studium. Ebenjene vier jungen Männer, die später für den sowjetischen Geheimdienst arbeiten sollten. Die Anhaltspunkte dafür, daß Wittgenstein sie anwarb, liegen für Cornish auf der Hand, alle hatten homosexuelle Neigungen, und Philby wie Wittgenstein stotterten auch noch. Ansonsten geht die Beweisführung so vor sich: Der Autor nimmt an, daß der Anwerber ein homosexueller Mann des Trinity Colleges war, der Verbindung zu den Aposteln hatte. Was natürlich möglich ist, aber überhaupt nicht zwingend notwendig. Allein aufgrund dieser Annahme kann schon ein relativ kleiner Kreis von Verdächtigen ermittelt werden, die er dann willkürlich aussortiert: Der eine ist zu jung, der andere zu alt, die nächsten verfolgten für Spione ungeeignete Karrieren - eine höchst geeignete Karriere für Spione scheint die eines Philosophieprofessors zu sein. Wie dann nicht anders zu erwarten, bleibt nur noch Wittgenstein übrig. „Falls der sowjetische Anwerber ein Trinity-College-Apostel war.“ Das „falls“ fällt dann einfach weg, und so ist Wittgenstein eben der Top-Spion. Auch die kleinste Kleinigkeit wird dieser These angepaßt. Wittgenstein wanderte gern. Na klar, alle Spione wandern gern. Wittgenstein war homosexuell. Na klar, wie sollte er auch sonst andere Männer als Spione anwerben. So kommt Cornish zu der Aussage: „Wenn ich recht habe, dann entkam auch Wittgenstein wie Philby, Burgess, Mclean und Blunt dem Henker.“ Was natürlich besonders hellsichtig ist, schließlich entkam Wittgenstein, auch ohne daß der Autor recht hat, dem Henker.

Da Cornish nun einmal beim Entlarven von Top-Spionen ist, bringt er gleich noch andere Agenten zur Strecke, etwa Guy Liddell, seinerzeit einer der führenden Köpfe der britischen Spionageabwehr MI5. Nun gab es schon länger Vermutungen über eine Zusammenarbeit Liddells mit dem sowjetischen Geheimdienst, aber Cornish kann dies endlich beweisen: Liddells Mutter war eine talentierte Geigerin und eine Schülerin von Joseph Joachim, und Joachim war natürlich ein adoptierter Wittgenstein. Da nun für Cornish klar ist, daß Ludwig Wittgenstein „der Meister der Spionageanwerber des 20. Jahrhunderts“ war, findet er solcherart „intime Geschäfte mit dem Verwandten dieses Mannes“ natürlich höchst bemerkenswert und entdeckt, daß die Wurzeln für den sowjetischen Spionagering in Großbritannien bis „vor die Russische Revolution und den Ersten Weltkrieg“ zurückreichen.

Wenn schon das ganze 20. Jahrhundert neu bewertet werden muß, so gilt das nach Cornishs Darlegungen erst recht für die Leistungen Wittgensteins: „... seine, endgültige Lösung der Probleme‘, sein größter Erfolg, war weder der ,Traktatus‘, noch nicht einmal die ,philosophischen‘ Untersuchungen, sondern Hitlers Finger, der sich im Berliner Bunker um den Abzugshahn schloß.“


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 4/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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