Wiedergelesen von Ursula Reinhold


Wolfgang Hildesheimer: Zeiten in Cornwall

Insel Verlag, Frankfurt a. M./Leipzig 1998, Insel Tb 2212, 103 S.,

mit farbigen Fotografien. (Erstveröffentlichung Suhrkamp Verlag 1971)

Die Wiederbegegnung mit Hildesheimers Tagebuch einer Reise verdankt sich der Reihe „Literatur und Reisen“, in der der Titel als Insel-Taschenbuch jetzt erschienen ist. Damit ist das 1971 in der Bibliothek Suhrkamp erstmals veröffentlichte Buch für interessierte Leser wieder zugänglich. Meine erneute Lektüre des kleinen Prosabändchens war von fortwährendem Entzücken getragen, das dem vielschichtigen komplexen Charakter des Buches galt, der sich mir bei erster Lektüre nicht in dem Maße erschloß wie heute. Keine einfache Reisebeschreibung, sondern ein poetisches, von Erinnerung und Denken inspiriertes Kunstwerk liegt vor. Sein Reiz liegt darin, daß die hier gebotene Reiseprosa, die eine Landschaft faßlich werden läßt, zugleich Selbstbegegnung ist. In sprachlich präzisen Bildern mit großem Assoziationsreichtum präsentiert es sich durchsichtig klar, wie die Landschaft, von der es angeregt wurde.

Die englische Grafschaft Cornwall ist für Wolfgang Hildesheimer (1916-1991) einer der Lebensorte, die für den 1933 aus Deutschland nach England emigrierten Sohn eines jüdischen Chemikers prägende Bedeutung erlangten. Nachdem er 1934-1937 in Palästina Möbeltischlerei gelernt hatte, studierte er zwischen 1937 und 1939 in London Zeichnen und Bühnenbildnerei, lebte als Maler bis zum Ausbruch des Krieges. Zwischen 1943-1946 wurde er in Palästina Informationsoffizier der britischen Regierung und wird als Simultandolmetscher Zeuge der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse. 1949-1953 ließ er sich als freier Maler nieder und entdeckte schließlich seine Doppelbegabung. Seit 1950 versteht er sich auch als Schriftsteller, besuchte in den 50er Jahren die Tagungen der Gruppe 47, siedelte aber bald in die Schweiz über, weil ihn das restaurative Klima in der Bundesrepublik der 50er Jahre bedrückte. Sein Debüt als Autor gab er mit dem Band Lieblose Legenden (1952), wo er in satirischer Form die Diskrepanz zwischen Realität und Selbstverblendung in verschiedenen Formen des intellektuellen Zeitgeistes schonungslos aufdeckt. Solch kulturkritischer Ausgangspunkt liegt auch vielen seiner zahlreichen Hörspiele zugrunde, in denen er sich mit dem damaligen kulturellen und politischen Klima auseinandersetzt. Parallel zu Stücken in der Nachfolge des absurden Theaters hat er auch eine Theorie absurder Literatur formuliert, in der er zu den Bedingungen einer Literatur nach Auschwitz Stellung nimmt. Er sieht ihre Funktion darin, „das Schweigen auf die Frage nach dem Sinn der Schöpfung hörbar zu machen“, Ersatzantworten in ihrem Ungenügen zu entlarven und „Verzweiflung als Lebenshaltung“ anzunehmen (Erlangener Rede 1960). Sein in den 70er und 80er Jahren geschaffenes Prosawerk hat bei solcher Intention dennoch verschiedene gedankliche und gestalterische Konzentrationspunkte. Es ist einmal die auf geschichtliche Zeitgenossenschaft gerichtete Erinnerung, die die Gegenwart der 60er und 70er Jahre als Ausgangspunkt für Zeit- und Selbstbefragung nimmt und der Geschichte nachfragt, deren deutsche Vorgänge einen wie ihn nur zufällig übriggelassen hatten. Tynset (1965), Masante (1973) unternimmt solcherart Rückschau und gibt in monologischer Reflexion eine Auseinandersetzung mit der Gegenwart im Lichte ihm zugedachter Liquidation. Ein anderer Kreis seines Werkes beschäftigt sich mit wirklichen und fiktiven Biographien, wobei er zugleich auch immer ihren Legendenbildungen nachgeht. So hat er sich in verschiedenen Annäherungen mit der Figur Mozarts beschäftigt (Mozart 1977). Mit Marbot (1981) hat er die Gestalt eines erfundenen Kunsthistorikers in die genau rekonstruierten Umstände des 19.Jahrhunderts hineingestellt und ihr soviel Authentizität verliehen, daß der damals konstruierte Widerspruch zwischen Fiktion und Nonfiktion als unerheblich abgetan werden konnte. Sinn seiner Erfindung war die Diskussion von zeitgenössischen ästhetischen Fragen, die ihn auch in anderen Büchern beschäftigten. Seit 1975 artikulierte er mehrmals das „Ende der Fiktion“ , da er die Welt angesichts der ökologischen Verheerungen für literarisch nicht mehr darstellbar hielt. Mit suggestiver Eindringlichkeit drückte er in publizistischen Äußerungen bedrängendes Krisenbewußtsein aus, wovon auch seine Collagen im letzten Jahrzehnt seines Lebens bestimmt sind. Er war zum Malen zurückgekehrt, bevor er 1991 seinem Leben freiwillig ein Ende setzte.

Mit Zeiten in Cornwall lädt uns der Autor auf hundert Seiten dichtester Prosa in den nördlichen Teil des westlichen Cornwall ein, Hügelland mit dem Blick oder der Ahnung von Meer, läßt uns die Eindrücke der Landschaft durch seine Brille sehen. Er schafft aus Wörtern über dichte Hecken, labyrinthische Straßen, Vögel, Hügellandschaften und Hühnengräber, verfallende Bergwerke und verlassene oder touristisch bemalte Orte suggestive Bilder, Seins-Zeichen. Die Bilder geben nicht nur einen Eindruck von den natürlichen und historischen Gegebenheiten einer kargen englischen Landschaft, sondern sind zugleich Sinnbilder individuellen und allgemeinen Daseins. Sie assoziieren in den Überresten einstigen Bergbaus, in der Schäbigkeit der trinkenden Bewohner aufgehübschter Städte, im Verlust des Pilchars, eines Fisches, vom dem einst ein ganzes Dorf lebte, die fortschreitende Zerstörung von Natur. Denn man hat das Land zur Wüste gemacht. Zugleich werden wir bei einer hochherrschaftlichen Fuchsjagd Zeugen der seit Jahrhunderten unverändert gebliebenen Besitzverhältnisse. Hildesheimer gibt hierzu keinen Kommentar, sondern läßt die Bilder sprechen. Ihnen merkt man an, daß er auch Maler ist. In seiner bildlichen Phantasie sind auch die der Kunstgeschichte aufgehoben, ihnen verdankt sein Sehen eine doppelte Dimension. Er verpaßt dem Leser seine Brille, mitunter ein Fernglas, mit dem er den nur von Ferne majestätisch aussehenden Kormoranen nahe rückt, um deren Gebrechlichkeit zu entdecken. Die Empfindungsweise der Landschaft ist durch Melancholie bestimmt, in die der Verlust des gejagten Fuchses, ihr offensichtlicher Verfall und die Stimmung des Reisenden zusammenfließen. Das Ich der Erzählung sucht diesen Ort als einstige Lebenslandschaft auf, nähert sich ihr erinnernd, auf der Suche nach den eigenen Lebensspuren. Damit haben wir hier ein Stück autobiographischer Prosa vor uns, wie es Hildesheimer schon mit Tynset und Masante vorgelegt hatte. Die Sicht auf die gegenwärtige Landschaft wird durch die Erinnerung an damals, an die eigene Lebenssituation und die Verhältnisse in Cornwall in Gang gesetzt. Der Erinnerungsvorgang selbst wird zum Thema und zum Filter für das Gesehene und Erzählte. Das Damals berührt die Situation eines jungen Malers und seiner Freunde, die gekommen waren, um zu malen, zu dichten, über Kunst zu reden und das Leben zu genießen. Aber: „Der Krieg kam, noch ehe ich die Farben gemischt hatte.“ (S. 89) Mit dieser Gruppe junger Künstler führt Hildesheimer die Diskussion ästhetischer Fragen ein, das Schicksal moderner Kunst, wie es ihn auch in anderem Zusammenhang beschäftigt hat. Das Ich hat nicht den Wunsch, die Ateliers von damals zu besuchen, die heutigen Maler, denen er begegnet, lassen vermuten, daß sie so sind, wie damals sie selbst, nur eben um eine Generation jünger. Die Qual des Schaffens, die Hoffnung auf den erleuchtenden Einfall, das Unnütze ihres Tuns. Das Ich hält so kritische Rückschau auf die ästhetischen Intentionen, aus denen moderne Kunst entstehen sollte, die eigenen Lebensverhältnisse stellen sich in der Erinnerung als eine Form von gelebtem Surrealismus dar. Gleich zeitig reflektiert Hildesheimer in solchen Passagen die von aktuellen Diskussionen angeregten Fragen nach dem Sinn und der Funktion von Kunst. Man war Seismograph von Strömungen, Verkünder und Medium in einem. Dazu skizziert Hildesheimer die neunköpfige Gruppe in interessanter Zusammensetzung. Ein Dichter, ein Maler, der das Malen aufgibt, drei Einbrecher, die das unbürgerliche Leben der jungen Bohemiens anzog, drei malende und haushälterisch tätige Mädchen. Beziehungskrisen machen dem harmonischen Zusammensein schnell ein Ende, das Ich erinnert mehr das, was verschwiegen, als das, was gesprochen wurde. Hildesheimer legt einem der jungen Asozialen die Fragen nach der Nützlichkeit der Kunst und die Nachfrage sozialer Zusammenhänge in den Mund, legt damit kritische Distanz zum eigenen damaligen Horizont nahe. Zugleich war man auf der Suche nach den unverfälschten Dingen, denn die Bilder, mit denen man umging, waren aus zweiter Hand.

Bilder und Zeichen aus einem schon vorhandenen Vorrat strukturieren auch diese Prosa, allerdings unaufdringlich. In der Art, wie der Autor in das Sehen der Landschaft Bezüge zur Kunst aufnimmt, zu Shakespeares König Lear, zur Landschaft der Bücher von Charlotte Bronté, zu den Bildern des 19. Jahrhunderts mit Jagdgesellschaften oder zu den zerborstenen Landschaften der Surrealisten gibt Hildesheimer seinem Erzählen präziseren Ausdruck. Jedes Sehen reproduziert in uns schon gesehene Bilder und variiert die Betrachtung, konkretisiert die Wahrnehmung und mit ihr den gesehenen Gegenstand. Mit der Erinnerung an den Porträtmaler Hal schließlich assoziiert Hildesheimer eine Schicksalsfigur seiner Art: „Er war müde und außerdem zu spät geboren; Jude“, später ein sanfter Krieger, endet er nach dem Krieg bei Haschisch und als Kunstgewerbler tötend langweiliger Bilder, für die er Motive aus berühmten Gemälden entnimmt, die er überdimensional vergrößert, eine Variation über die Schicksalswege moderner Kunst.

Hildesheimer hat diese an biographisch-individuellen, historischen, gedanklichen und ästhetischen Bezügen reiche Prosa aus Bildern strukturiert, die zugleich eine Landschaft entstehen lassen. Die Sicht auf sie entsteht durch den gedanklichen und emotionalen Reichtum des Beobachtenden und Schreibenden. So schafft er eine vielschichtige und verweisreiche Prosa. Hildesheimer hat sie aus früheren und neueren Skizzen und Aufzeichnungen geformt. Dieser langjährige Prozeß ist in das Geschriebene eingegangen. Bei der Arbeit ist er sich der Grenzen von Erinnerung inne geworden, von Geschriebenem auch, denn das Erlebnis selbst entzieht sich der Eintragung: „Es wehrt sich dagegen, zu Geschriebenem zusammenzuschrumpfen.“ (S. 97) Denn gegenüber dem wirklichen Erlebnis bleibt alles Mitteilbare zweitrangig. Aber diese Zweitrangigkeit von Mitgeteiltem kann von erhellendem Wert sein, wie dieses Stück Reise- und Erinnerungsprosa zeigt, das sich als ein „kleines Meisterwerk“ (Klappentext) darstellt.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 1/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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