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Christel Berger

Anna Seghers und Grete Weil - Zeuginnen des Jahrhunderts

Vergleiche erhellen Ähnlichkeiten und entdecken Unterschiede. Wertungen in bezug auf „richtiges“ oder „falsches“ Leben, „großes“ oder „kleines“ Werk entlarven eher den, der so etwas tut, als die Subjekte und Gegenstände, die hier für sich und als Zeugen des Jahrhunderts stehen.

Zeugenschaft im Sinne des Erlitten- und Erlebt-Habens und vor allem des Festhaltens. Darin vor allem gleichen sich die so verschiedenen „Schwestern“. Andererseits sind die Unterschiede enorm und die Hürden des Inkommensurablen hoch: Die eine war über Jahrzehnte in einem Teil Deutschlands und der Welt die gefeierte Dichterin. Je mehr gepriesen, um so weniger hielt man auf der anderen Seite des Kalten Krieges von ihr, obwohl die meisten Kenner ihr literarisches Talent, vor allem im Schaffen von vor 1933, bestätigten. Die andere war die meiste Zeit ihres Lebens als Dichterin unbekannt. Tief erschüttert vom Schicksal der Juden, denen sie sich, ähnlich wie Anna Seghers, vor den Jahren des Faschismus nicht zugehörig fühlte, wurde ihr Schreiben zum Kampf gegen die Sprachlosigkeit, mit der das Erlebnis des Holocaust nicht nur sie geschlagen hatte. Im hohen Alter erst kamen die Ehrungen für Grete Weil, der ideologische Unabhängigkeit ein hoher Wert der Freiheit war. Freiheit, die sie in der Zeit der Barbarei schätzen gelernt hatte. Nun, kurz vor dem Ende des Jahrhunderts, ist die eine fast verpönt und die andere nur einem kleinen Kreis bekannt und wichtig. Aber vielleicht haben sie - ihr Leben und ihre Bücher - uns doch mehr über das vergangene Jahrhundert zu sagen, als uns lieb ist?

In bezug auf die Herkunft stimmt der verwandtschaftliche Begriff. Beide stammen aus angesehenen, alteingesessenen, begüterten jüdischen Familien. Der Vater von Netty Reiling, so hieß Anna Seghers, war Kunst- und Antiquitätenhändler in Mainz. 1894 war der Antiquitätenhandlung D. Reiling vom Großherzog von Hessen das Prädikat „Hoflieferant“ verliehen worden. Grete Weil, geborene Dispeker, stammt aus Bayern. Ihr Vater war der erste „Studierte“ in einer Familie von Tuchhändlern und Rabbinern. Er wurde Anwalt, war Geheimer Justizrat und jahrelang zweiter Vorsitzender der Münchner Anwaltskammer. Grete Weil beschreibt das Leben ihrer Familie als das übliche reicher Leute jener Zeit - ein großes Ferienhaus am Tegernsee, Feste, viel Besuch, aber auch schöne Bergtouren und stille Stunden, wenn Vater und Tochter gemeinsam Goethe lesen. Obwohl es keine direkten Aussagen darüber gibt, stelle ich mir das Familienleben bei Reilings ähnlich, aber alles in allem eine Nummer kleiner vor: eben geprägt vom Unterschied zwischen München und Mainz, dem Haus eines Justizrates und eines Antiquitätenhändlers, dem Unterschied zwischen assimilierten und eher orthodoxen Juden und einer Zeitschwelle: Kindheit vor oder während des Ersten Weltkriegs. Ein weiterer Unterschied zwischen Netty und Grete: Letztere hat einen älteren Bruder und ist wohl auch stärker als die verträumte Netty Teil bzw. Mittelpunkt eines gleichaltrigen Freundes- und Cousinenkreises (obwohl Cousinen und Vettern auch in Nettys Kindheit wichtig waren!).

Das Gefühl des Eingesperrtseins, das Netty zu Hause empfunden hat, wird in Gretes Umgebung schwer aufgekommen sein. So ist Nettys Aufbruch zum Studium in Heidelberg 1920 eine Flucht auch vor heimatlicher Enge. Im Unterschied zu Grete wird sie zeitlebens nur noch besuchsweise nach Mainz kommen. Und im hohen Alter hat sie viel Sehnsucht nach der Heimat, die Teil eines fremden Staates ist.

Zeitlich trennen die beiden sechs Jahre. Anna Seghers ist 1900 geboren, Grete Weil 1906. Für die jeweilige Entwicklung wird sich das als erheblich erweisen: Anna Seghers ist 24 Jahre alt, als ihre erste Erzählung (Die Toten auf der Insel Djal) erscheint. Grete Weil ist 26 Jahre alt, als sie ihren Erstling Erlebnis einer Reise beendet. Das ist im Jahre 1932, eine schlechte Zeit für eine junge Jüdin, einen Verleger zu finden. Die Erzählung wird nie erscheinen. Anna Seghers aber hatte von 1924 an noch Zeit, sich nicht nur als Schriftstellerin zu erproben. Sie hatte 1924 den Doktortitel in der Tasche, 1925 heiratet sie ihren ehemaligen Heidelberger Kommilitonen, den ungarischen Emigranten Laszlo Radvanyi, und zieht mit ihm nach Berlin, teilt mit ihm und seinen Freunden sozialistische Ideen, die sie in die Reihen der KPD bringen werden. 1926 wird der Sohn Peter, zwei Jahre später die Tochter Ruth geboren. Die junge Frau beschränkt ihr Wirken nicht allein auf Familie und Freundes- und Genossenkreis, sie verwirklicht mehr und mehr ihren Kindertraum und schreibt: 1927 erscheint die Erzählung Grubetsch, ein Jahr später der Ausflug der Fischer von St. Barbara, die Erzählung, mit der sie bekannt wird. 1928 erhält sie dafür den renommierten Kleist-Preis. Anna Seghers (so ihr Pseudonym, hinter dem man noch 1928 einen bärtigen Mann vermutete) wird sich im Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller engagieren. Die Stoffe ihrer Texte werden immer von ihrem Interesse an interessanten Schicksalen bestimmt sein, mehr und mehr werden es Fälle sein, die mit den politischen und sozialen Kämpfen jener Zeit zu tun haben. „Familie“ wird für sie ein Begriff sein, der im kleinen lebenslänglich die Verantwortung für und den Halt bei Kinder und Ehemann einschließt und im großen die politische Bindung meint - an die Partei, an eine Überzeugung von einem gerechteren Leben und an eine Gruppe von Menschen, denen sie treu ist.

Das Jahr 1933 wird so von zwei sehr verschiedenen Frauen erlebt. Die Jüngere, die im Jahr zuvor ihren Cousin Edgar Weil, 2. Dramaturg bei den Münchner Kammerspielen, geheiratet hatte, wird vollkommen aus der Bahn geworfen werden. Der Ehemann wird kurzzeitig verhaftet, Grete gibt sowohl das Schreiben an der Dissertation als auch das Schreiben von Belletristik erst einmal gänzlich auf. Die jungen Leute ziehen zu den Schwiegereltern nach Frankfurt am Main. Dort gibt es Reibereien. Grete kehrt allein zu den mittlerweile von Ariern gemiedenen Eltern zurück, wo sie Weihnachten 1933 einen Selbstmordversuch unternimmt.

Da ist die Familie Radvanyi schon längst im Pariser Exil. Es ist eine unheimlich produktive Zeit für die Autorin: Die ersten beiden Romane waren erschienen (1932 Die Gefährten noch in Deutschland, 1933 Der Kopflohn in Amsterdam). Die Familie lebt samt der noch aus Mainz stammenden Kinderfrau in einem Vorort von Paris. Politische Arbeit gibt es übergenug - Anna Seghers ist engagiert im Schutzverband Deutscher Schriftsteller, im Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller, in der Volksfrontbewegung, in der KPD-Parteigruppe der Emigranten, beteiligt sich an der Herausgabe der Exilzeitschrift „Neue Deutsche Blätter“ und der Organisation der Internationalen Schriftstellerkongresse (1935 und 1938 in Paris, 1937 in Madrid). In den Cafés von Paris sieht man sie schreiben (1937 erscheint der Roman Die Rettung). Ihr Mann Laszlo wird 1935 Leiter einer Hochschule für Emigranten, später Redakteur einer Zeitschrift. Sie leben wie viele Emigranten: Kaum Geld, keine Sicherheiten, immer neue Gerüchte und Verordnungen - im Wechsel von Hoffnung und Verzweiflung.

Auch die Familie Weil entschließt sich, nachdem Gretes Vater 1934 vorübergehend verhaftet war, zur Emigration. Edgar Weil verlegt einen Teil der pharmazeutischen Fabrik der Familie in die Niederlande. Grete läßt sich zur Fotografin ausbilden, und seit 1936 leben sie in Amsterdam, im Vorort Amstelveen. Materiell scheint es ihnen anfangs besser als Radvanyis zu gehen: Grete arbeitet als Fotografin, Edgar leitet die Fabrik. Nach dem Tod des Justizrates Dispeker 1937 holt Grete Weil die Mutter nach Amsterdam. Die Freunde aus Deutschland kommen noch zu Besuch, ehe 1940 die Wehrmacht in Holland einmarschiert. Der Versuch, nach England zu fliehen, scheitert. In Holland beginnt die Diskriminierung und Verfolgung von Juden. Edgar Weil wird am 11. Juni 1941 auf der Straße verhaftet, nach Mauthausen deportiert, wo er laut offiziellen Angaben am 17. September stirbt.

Grete ist entsetzt, verzweifelt, glaubte sie doch, mit Edgar eins geworden zu sein, nur leben zu können, wenn er lebt. Ihre Versuche, ihn über Beziehungen oder Sonderbescheinigungen zu retten, scheiterten. Als er bereits tot war, hatte sie sich in verzweifelter Hoffnung noch ein Kleid gekauft, das dem Geliebten gefallen würde, ein Kleid als Zeichen, daß er lebt; daß sie weiß, daß er lebt. Doch die Realität war damit nicht zu überlisten. Selbstmord kommt für sie deshalb nicht in Frage, weil die Mutter sie dringend brauchte. Sie will sie unbedingt retten.

Auch in Frankreich verändert der Einmarsch der Wehrmacht das Leben der Radvanyis jäh. 1940 kommt Laszlo Radvanyi ins Internierungslager Le Vernet. Anna Seghers flieht mit den beiden Kindern aus Paris, ist tagelang auf der Landstraße und kehrt schließlich zurück. Sie kann nicht in die alte Wohnung, wo die Gestapo schon nach ihr gesucht hat. Sie läßt das fertige Manuskript ihres neuen Romans Das Siebte Kreuz - ein Roman über die Schicksale sieben geflohener KZ-Häftlinge - verbrennen, obwohl sie sich nicht sicher ist, ob andere Durchschläge des Manuskripts ihre Empfänger in Amerika erreicht haben. Schließlich wagt sie die Flucht aus dem besetzten Frankreich noch einmal, gelangt mit den Kindern über die Demarkationslinie, zieht in die Nähe des Internierungslagers, besucht den Mann und die Genossen, bringt die Kinder in der Schule unter, versucht alles, um Papiere zu bekommen, mit denen sie Frankreich verlassen können. (Diese Erfahrung und all die anderen Wirren und Gefährdungen des Exils wird sie meisterhaft im Roman Transit verarbeiten, der 1944 erscheint.) Im März 1941 ist es geschafft: Mit dem Dampfer „Capitaine Paul Lemerle“ verläßt Familie Radvanyi Marsaille in Richtung Amerika, von da nach Mexiko. Dort werden sie aufgenommen, werden Teil einer größeren Emigrantengruppe mit eigenem Verlag und Zeitung, finden Arbeit, Freunde, Genossen. Anna Seghers passiert etwas Wunderbares: Das Siebte Kreuz wird in Amerika und dann in anderen Ländern ein großer Erfolg. Das Exil bedeutet in diesem Fall zwar Entbehrung von Heimat, ist aber auch Erlebnis einer ganz anderen Welt und für Anna Seghers Bestätigung als Autorin von Format. Sie ist wer. Als sie 1943 einen schweren Verkehrsunfall hat, ist das eine Zeitungsmeldung in verschiedenen Ländern wert.

Ungleich anders Grete Weil. 1995 wird sie über ihr Exil sagen: „Emigration ist ein Sturz ins Bodenlose, ist nicht nur der Verlust der Heimat, der Landschaft, der Menschen, die den Alltag gestaltet haben, ist am allerschlimmsten der Verlust der Sprache.“ Ihr Kampf ums Überleben läßt keinen Gedanken an eigenes Schreiben zu. Die Erlebnisse der letzten Zeit haben sie gelähmt. Um sich und die Mutter zu retten, arbeitet sie in Amsterdam im Jüdischen Rat, fotografiert die Juden, die deportiert werden, arbeitet als Schreibkraft, hilft, wo sie kann. Aber ihre Möglichkeiten sind gering, ist sie doch auch in Gefahr. 1943, als auch sie „auf Transport“ soll, gehen sie und ihre Mutter in den Untergrund. Dort schreibt sie zum erstenmal wieder - ein Puppenspiel für den Weihnachtsabend im Versteck und eine Erzählung, die Erlebnisse in der Schouwburg, dem Ausgangsort der Deportationen, zum Inhalt haben. Als sie sehr viel später in ihrer Autobiographie die Tage und Wochen im Untergrund beschreibt - den Mangel an Heizmaterial und Essen, Stromausfall, kommen auch Divergenzen mit dem befreundeten Gastgeber zu Wort: Er bewundert Rußland, was sie, obwohl sie sich als Linke bezeichnet, nicht teilt. (Derart spärlich sind die Mitteilungen über ihre politische Haltung und Bindung, die mir jedoch für den Vergleich mit der anderen wichtig scheinen.)

Endlich, als Holland befreit ist, will sie zurück nach Deutschland, dem Land ihrer Sprache. „Ich will schreiben, deutsch schreiben, in einer anderen Sprache ist es mir unmöglich... Ich will nach Haus, auch wenn ich weiß, daß alles, was ich früher geliebt habe, nicht mehr existiert. Ich will dorthin, wo ich hergekommen bin. Das Heimweh ist nicht kleiner, sondern größer geworden in all den Jahren.“ Es ist nicht leicht, als Staatenlose über die Grenze zu gelangen. Erst 1947 gelingt die offizielle Rückkehr.

Das ist das Jahr, in dem auch Anna Seghers zurückkehrt. Auch von ihr gibt es Bekenntnisse über die Sehnsucht nach der Heimat. Zwar kommt sie nicht in die engere, an den Rhein, die Landschaft des „siebten Kreuzes“, zurück, sondern nach Berlin. Sie wird als Weltautorin, deren wichtigstes Buch gerade Deutschland erreicht hat, empfangen, erhält in der Trümmerstadt eine komfortable Bleibe in einem Hotel am Wannsee, wird mit Bitten um Interviews, Lesungen und Reden überschüttet. Erhält noch im gleichen Jahr von Darmstadt den begehrten Büchner-Preis. Doch es ist nicht nur herrlich, was sie hier erlebt. Zum einen leidet sie darunter, daß sie allein ist, ohne die vertraute Familie. Die Kinder studieren in Paris, und der Ehemann hat noch berufliche Verpflichtungen an der Universität Mexiko. Der Halt der Familie fehlt, Laszlo Radvanyi wird erst 1952 nach Deutschland zurückkehren, die Tochter Ruth beendet 1954 ihr Studium und arbeitet in der DDR als Ärztin.

Im Unterschied zu Grete Weil hat Anna Seghers es nicht geschafft, die Mutter zu retten. Der Vater war 1940 gestorben, und der Mutter, Hedwig Reiling, drohte die Deportation. Anna Seghers verschaffte ihr ein Visum nach China, den damals noch einzig möglichen Fluchtpunkt. Aber zu spät. Noch bevor die Papiere die Mutter erreichten, kam sie auf Transport in Richtung Osten. Im Lager Piaski bei Lublin verlieren sich ihre Spuren. (Eins von Tausenden Schicksalen. Wie wir wissen, verfolgt die meisten der Angehörigen, die das überlebt haben, ein Schuldkomplex. Anna Seghers hat nie davon gesprochen oder darüber geschrieben. Wie viele der tief Erschütterten.) Auch den Freund seit Studientagen, Philipp Schaeffer, findet Anna Seghers nicht unter den Lebenden. Als Widerstandskämpfer zum Tode verurteilt, wurde er 1943 in Plötzensee enthauptet. Auch diese Nachricht trifft sie ungeheuer hart ...

Doch sie engagiert sich in Deutschland und will teilhaben am Aufbau von etwas Neuem, Anderem; will die Verführten erziehen, läutern, hat ein Manuskript im Koffer mit ihrer Version, wie es in Deutschland dazu hat kommen können - Die Toten bleiben jung, und sie will den Deutschen von anderen Völkern erzählen, von nicht minder harten Schicksalen und Erfahrungen, Werten und Zielen. Ihren Schmerz behält sie für sich.

Anders Grete Weil. Für sie wird das Erlebnis als verfolgte Jüdin, Angehörige eines Opfers und vermittelt Beteiligte an der Deportation von Juden fast zum einzigen Thema ihres Schaffens und wohl auch Lebens. Sie sagt darüber: „Meine Krankheit heißt Auschwitz, und die ist unheilbar. Ich habe Auschwitz, wie andere Tb oder Krebs haben, bin genauso schwer zu ertragen wie alle Bresthaften. Die Krankheit verläuft in Schüben, die Schübe werden häufiger, nehmen an Schwere zu. Alkohol und Schlafmittel könnten lindern, ich mag beides nicht, will meinen klaren Kopf behalten, möglich, daß ich mir Linderung nicht wünsche. Ich kann vor meiner Krankheit nicht davonlaufen, nur daran sterben.“ (Generationen 1983) Jedoch dort, wo sie kurz nach 1945 ihre Erzählung Ans Ende der Welt anbietet, will in dieser Nachkriegszeit niemand etwas von derartigem Schicksal wissen. 1949 erscheint die Erzählung einzig bei Volk und Welt in Ost-Berlin (und - so die Recherche im Archiv - Anna Seghers muß das Buch gelesen haben. Jedenfalls befindet es sich benutzt in ihrer Bibliothek). Grete Weil, durch ihren zweiten Ehemann, den Regisseur Walter Jockisch, dem Theaterleben verbunden, schreibt Libretti für Oper und Pantomime, Artikel für Zeitschriften und übersetzt aus dem Englischen. Erst 1962 erscheint im Wiesbadener Limes-Verlag noch einmal Ans Ende der Welt und 1963 dann Tramhalte Beethovenstraat, ein Roman, der die Amsterdamer Erfahrungen aufnimmt. Aber erst mit dem Roman Meine Schwester Antigone 1980 hat sie wirklichen Erfolg. Da ist sie 74 Jahre alt, da sind 35 Jahre seit dem Holocaust vergangen, nun ist die Zeit reif, um das Trauma der Grete Weil ertragen und annehmen zu können. Selbst das literarische Bekenntnis, „Sympathisantin“ dieser verwirrten jungen Verrückten der RAF zu sein und ihnen wie allen Verfolgten Gastrecht einzuräumen, wenn sie es brauchen, schockt jetzt nicht mehr. Grete Weil schreibt vornehmlich von sich, und immer haben die Erlebnisse in Amsterdam und der Schouwburg ihre Themen und Stoffe gefärbt. Sie holt nicht nur immer wieder die Erinnerung daran hervor, sie beschreibt, wie schwer es ist, diese Erinnerung ertragen zu müssen, und sie schont sich selbst nicht vor Schuldvorwürfen. Spätfolgen heißt ein Erzählungsband (1992) von ihr, und der Titel trifft nicht nur für die hier versammelten Texte zu. Spätfolgen - das betrifft die ewige Heimatlosigkeit, die Wurzellosigkeit, die Sprachschwierigkeiten und die Fremdheit gegenüber Generationen, die nicht ihr Erlebnis teilen. Kritisch gegenüber sich selbst, ist auch die Sicht auf andere nicht nur vom Mitleid, zum Opfer geworden zu sein, geprägt. Grete Weil wird immer wieder fragen, warum sich die vielen die Grausamkeiten gefallen ließen, und sie konstatiert die lebenslänglichen Deformierungen und Verdrängungen derer, die den Holocaust überlebt haben. Den Mut zu dieser Sicht können nur Beteiligte haben, und dabei ist ihre Position gegenüber der eigenen jüdischen Identität nicht ohne Brisanz: „Vollkommen ohne jüdische Bindungen und Traditionen aufgewachsen“, so schrieb sie 1947 in einem Brief, „hat das jüdische Schicksal mich mit seiner ganzen Wucht getroffen und mich so zerbrochen, daß ich lange Zeit die Kraft zum Leben fand aus nichts anderem heraus als aus meiner Sehnsucht nach dem Tod.“

Wieder ja zum Leben zu sagen ist „wohl nur aus meinem Jüdischsein heraus erklärbar... Trotz dieser Erkenntnis ist es mir versagt geblieben, das Volkshafte des Judentums für mich zu akzeptieren. Ich sehe, daß es besteht, ich sehe es mit Bewunderung und zuweilen auch mit Neid, aber mein Werden hat sich weitab von jenen Quellen vollzogen, daß ich den Weg zu ihnen nicht mehr finden kann. Ich habe die Heimat Deutschland verloren und keine andere dafür gefunden. Ich fühle mich als Weltbürger, meine Gesinnung ist international.“ Dieses Bekenntnis zitiert die über 90jährige am Schluß ihrer Autobiographie. Die Kenner ihres Werkes wissen, daß ebendiese Position eine Quelle ist für die Besonderheit ihrer Prosa.

Der „älteren Schwester“ Anna Seghers wird heute von manchem Literaturwissenschaftler vorgeworfen, ihr Jüdischsein verleugnet und verdrängt, zugunsten der kommunistischen Idee verraten zu haben. Zwar finden sich in ihrem reichen Werk einige wenige Erzählungen (vor allem „Post ins Gelobte Land“, 1941), einige Figuren und Passagen, die jüdisches Schicksal schildern, aber quantitativ gemessen sind diese Texte wirklich nicht in der Überzahl. Was Autobiographisches betrifft, war Anna Seghers stets zurückhaltend, so daß der Erzählung Der Ausflug der toten Mädchen (1943/44) fast eine Sonderstellung in ihrem Werk zukommt. Nach ihrer Rückkehr nach Deutschland nimmt sie nur wenige Veränderungen an ihrem mitgebrachten Deutschland-Roman vor, schreibt in ihrer knappen Freizeit Erzählungen, die von der Zeit der Negerbefreiung in der fernen und exotischen Karibik erzählen, nacherzählt das Schicksal Jasons, des legendären Kapitäns des Argonautenschiffs, wendet sich zögerlich deutschen Nachkriegsstoffen zu - Friedensgeschichten, später Aufbaugeschichten -, schreibt einen Roman über Entscheidungen zwischen Ost und West (Die Entscheidung, 1959), einen über den Aufbau eines Stahlwerks in der DDR (Das Vertrauen, 1968), Erzählungen über die Kraft der Schwachen in aller Welt, mit zunehmendem Alter mehr und mehr Geschichten über die Ferne, die Vergangenheit. Manches wirkt wie Märchen, die sie immer liebte und die sie eigentlich schreiben wollte, hätten sie nicht die Aufregungen ihres Jahrhunderts zu den anderen Texten gedrängt. Immer geht es um Existentielles, um menschliche Sorgen und ihren Alltag, um Verrat und Treue, Flucht und Ankunft. Die Mutter und der Freund, ihre jüdische Bindung bleiben ihre Privatsache, über die die Wortgewaltige nicht öffentlich spricht oder schreibt. Die Sprachlosigkeit, die Grete Weil thematisiert, warum soll sie nicht auch die Weltautorin Anna Seghers betroffen haben?

Auch das Bekenntnis, nach diesen Erfahrungen Weltbürgerin zu sein, braucht doch wohl nicht nur an die liberale Gesinnung derer gebunden zu sein, die das Dogma einer Ideologie für sich abgelehnt haben. Der Internationalismus der sozialistischen Bewegung war in den Jahren, als Anna Seghers sich profilierte, keine Floskel - der Ehemann, die Freunde, das Spanienerlebnis, Mexiko und nicht zuletzt die große Hoffnung Sowjetunion prägten ihre Beziehung zur Welt. Es scheint, das war ihr Halt, ja „geistige/literarische“ Flucht, wenn mit der späteren Entwicklung ihr die DDR „kalt“, „eng“ und zunehmend unverständlich wurde. Wir wissen nicht, ob sie aus Treue, Angst, Altersmüdigkeit oder eben gemäß ihrer Mentalität, die schwersten Erfahrungen tief in sich zu bewahren, geschwiegen hat. Erst jetzt, nach dem Zusammenbruch der Welt, die die Seghers repräsentierte, entdecken wir in ihrem Alterswerk und einzelnen Geschichten der 60er Jahre Hinweise, die auf Zweifel an der Richtigkeit der Entwicklung und auf böse Ahnungen schließen lassen.

Als sie 1983 starb, erhielt sie ein Staatsbegräbnis, aber sie war schon lange nicht mehr der Favorit der literaturinteressierten Jugend des Landes. Die liebte mittlerweile entweder die Bücher von Christa Wolf, Volker Braun oder die Stücke eines Heiner Müller, wenn nicht die ganz andere Literatur der Altersgefährten vom Prenzlauer Berg. 1989 wurde der integre Ruf der Seghers’ durch die Aussage Walter Jankas, anläßlich seines Prozesses 1956 nicht für ihn eingetreten zu sein, arg erschüttert. Man fand im Archiv die unvollendete Novelle Der gerechte Richter und sah, daß sich Anna Seghers durchaus mit Machtmißbrauch und der Pervertierung einer an sich gerechten Idee herumgeschlagen, dies jedoch weder literarisch noch geistig bewältigt und entschieden hatte. Sie hielt fest an dem Glauben, daß das Gute siegen wird, siegen muß, wie Grete Weil einst ein Kleid kaufte, das die Lebendigkeit des Geliebten bestätigen sollte. Wenn im Jahre 2000 Anna Seghers’ 100. Geburtstag gefeiert wird, muß konstatiert werden, daß diese an eine Gesellschaftstheorie gebundene Gewißheit aufgebraucht ist, und es ist zu prüfen, ob ihr Werk das verkraften kann.

Grete Weil erhält mit über 82 Jahren - dem Alter, da Anna Seghers starb - endlich einen Literaturpreis, der ihr würdig ist - den „Geschwister Scholl Preis“. Nun wird sie auch von anderen geehrt: Medaille „München leuchtet“, Carl-Zuckmayer-Medaille des Landes Rheinland-Pfalz. Die Heimat wirbt um die Heimatlose, die wieder in Bayern ansässig ist. Dem 1986 erschienenen Roman Der Brautpreis folgen 1992 die Erzählungen Spätfolgen, und in diesem Jahr liegt die Autobiographie Leb ich denn, wenn andere leben vor, die bezeichnenderweise 1947, mit der Rückkehr nach Deutschland, endet. Das Leben danach ist vor allem Auseinandersetzung mit dem vorher Erlebten gewesen oder aber schnell nebenbei gesagt. Auffallend an der Autobiographie ist die scheinbare Einfachheit, mit der die Autorin nun schreibt. Wußte der Leser bereits vieles aus ihren vorangegangenen Büchern, fällt jetzt sowohl die Folie der Literarisierung, aber auch das gefühlsbetonte Pathos sowie die Kommentierung oder bildhafte Verallgemeinerung weg. Am Ausgang des Jahrhunderts erzählt die über 90jährige von längst vergangenem Leben und einer Erfahrung, die auch die Nachgeborenen zu verinnerlichen haben, soll die Zukunft nicht in die Barbarei führen.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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