Eine Rezension von Jens Helmig

Im Zeichen der Rühmung

Johannes R. Becher: Der Aufstand im Menschen

Mit einem Nachwort von Rolf Harder. Reihe „Die DDR-Bibliothek“.

Lizenzausgabe des Aufbau-Verlages Berlin im Verlag Faber & Faber/

Sisyphos-Presse, Leipzig 1995.

 

Der offiziellen Kultur zumindest der westlichen, „alten“ Bundesländer fällt ein unvoreingenommener Umgang mit wiederum offiziellen Repräsentanten einer eigenständigen literarischen Kultur der ehemaligen DDR häufig schwer. Das Brecht-Jahr 1998 und die zu diesem Anlaß vollzogenen Feierlichkeiten und Würdigungen des Dichters fokussierten diesen Tatbestand auf eindrucksvolle und teilweise komische Weise. Konservative wie liberale Politiker scheinen ein Problem mit der Tatsache zu haben, daß Bertolt Brecht sich nicht nur selbst einen Sozialisten nannte, was Thomas Mann schließlich auch einmal getan hat, sondern auch im Sinne einer sozialistischen Literaturauffassung Kunst produzierte. Wenn ersteres häufig als ideologische Verirrung verziehen wird, stellt letzteres ein Titulationsproblem dar. Die Bezeichnung „sozialistisch“ wird der Einfachheit halber durch den Begriff „humanistisch“ ersetzt; und meistenteils kann man sich daraufhin beruhigt in den Lehnstuhl zurücksinken lassen oder man tritt von der Rednertribüne ab.

Im Falle Johannes R. Bechers ist der Umgang weniger einfach. Der Dichter der DDR-Nationalhymne und offizielle Kulturrepräsentant des untergegangenen Staates entzieht sich quae wahrgenommener politischer Funktion einer zu einfachen Purifikation, ein Platz im Kreis der humanistischen Denker scheint ihm von offizieller Seite verwehrt. Becher gilt als Produzent proletarischer Zweckdichtung, die mit dem Untergang des Staatssozialismus ihre Daseinsberechtigung verloren hat; ihr Schöpfer kann beruhigt aus dem Olymp der Dichterfürsten in die Vergessenheit entlassen werden. Die Tatsache, daß der Dichter Becher seinen Werdegang als tiefgründiger Essayist und sprachgewaltiger Vertreter eines kämpferischen, zeitlosen literarischen Expressionismus begonnen hat, wird dabei oftmals vergessen oder allerhöchstens in den verwaisenden Räumen provinzieller Germanistik meist beiläufig erwähnt. Schon ein erster Blick in den vorliegenden Band Bechers, der posthum 1985 erschien, obschon Teile daraus bereits in den Tagebüchern von 1950 veröffentlicht wurden, mag dieses Urteil relativieren, wenn nicht nachhaltig zu verändern. Beim ersten Lesen fällt zunächst der zurückhaltende Sprachduktus der Becherschen Essays auf. Im Gegensatz zur aggressiven, in Kaskaden auf den Leser niederstürzenden Sprache der früheren Jahre herrscht nun ein relativierender Ton der Vorsicht und Zurückhaltung vor, vergleichbar eventuell mit der sprachlichen Geschliffenheit von Pascals Pensées oder der nachdenklichen, stoischen Ruhe der Montaigneschen Versuche.

Man mag in der sprachlichen Zurückhaltung - der größte Teil der Kurz- und Kürzesttexte entstand in den Jahren 1947 und 1948 - eine dichterische Reaktion auf die Kriegs- und Nachkriegsschrecken sehen, die keine Trommeln, sondern nur ein Wimmern zugelassen haben mögen, auf den zweiten Blick erkennt man darin jedoch eine weitreichende, unmittelbar auf das Zu-Sagende rekurrierende Methodik und Komposition. Nicht den abgeschlossenen anthropologischen und philosophischen, in systematische Spekulation mündenden Diskurs strebt Becher an, sondern ein aphoristisches Gleiten der Gedanken über den Menschen im Angesicht des Abgrundes der Moderne und der ihr eigenen Totalität. Becher widerspricht Kierkegaards Doktrin des Entweder-Oder und allen Versuchen, das Wesen des Menschen in schematisierende Abstraktionen zu fassen. Der Blick richtet sich auf den Menschen in seiner Konkretheit, seiner sozialen Bedingtheit und nicht zuletzt seiner metaphysischen Einsamkeit. Angestrebt wird der phantasievolle Realist, der die an ihn herantretende Wirklichkeit schöpferisch und persönlich gestaltet. „Eine wahrhaft schöpferische Phantasie besteht darin, genügend Vorstellungskraft aufzubringen für den tatsächlichen Zustand der Menschen und Dinge - wahrhaft [phantasievoll] und menschlich ist nur der Realist.“ Eine Erkenntnis, die auf der Basis einer so definierten, realistischen Phantasie erwächst, führt zur Sorge um sich und andere. Dieses ist wörtlich zu nehmen, tatsächlich muß die Erkenntnis in der Auseinandersetzung mit sich selbst und der sie bedingenden Umgebung eine beständige Sorge um ihren eigenen Bestand tragen. In diesem Punkt tritt Becher als Vertreter einer kritischen Aufklärung an den Leser heran. Die Vernunft, die zu Abstraktionen, Idealisierungen und unmenschlichen Systematisierungen führt, ist die technisch-instrumentelle Vernunft: die Vernunft des Errechnens, des Kalkulierenes, die Vernunft, die eine Unterwerfung unter das naturwissenschaftliche, materialistisch-reduktionistische Weltbild erzwingen will. In ihrem Namen werden unmenschliche Entscheidungen getroffen, die zu einer Reduktion des Individuums auf sein materielles So-Sein und Leugnung seiner einzigartigen Existenz führen. Inwieweit Bechers Weitblick bereits die unmenschlichen Züge des zu dieser Zeit ausufernden Stalinismus vorwegnimmt, mag dahingestellt bleiben, sicherlich aber verarbeitet er in dieser Analyse die Erfahrungen des Faschismus. Auch seine Forderungen nach einer Aufklärung gemäß dem Menschenmaß bleiben stets realistisch und demokratisch.

„Stelle nicht ein Bild auf vom anständigen Menschen, das nur eine auserlesene Minderheit verwirklichen kann. Unmögliches zu fordern ist ebenfalls unmenschlich. Verlange das, was die Mehrzahl der Menschen bei einigermaßen gutem Willen unter bestimmten gegebenen Verhältnissen verwirklichen kann ...“ Die Auseinandersetzungen Bechers beschränken sich jedoch bei weitem nicht nur auf den gesellschaftspolitischen Bereich. Die eigentliche Größe seiner lyrischen Essayistik offenbart sich in den Betrachtungen zu Themen wie der transzendentalen Obdachlosigkeit des modernen Menschen, seinen Verlust an religiösen und metaphysischen Auseinandersetzungen und schließlich seiner Endlichkeit. Die beinahe existentialistische Einsicht in die Sinnlosigkeit des im Leben Erstrebten angesichts des Todes und das trotzige Trotzdem, das Becher sub specie aeternitatis in die Leere singend, nicht schreiend, verkündet, macht Bechers Essays, lange nach ihrer Entstehung, zu einem Ozean, in dem sich auch und gerade der Leser unserer Tage mühevoll treibend finden wird.

„Wenn wir auch trauern und klagen, wenn wir auch verzweifelt sind und sterbensmüde - unsere Trauer und unsere Klage, unsere Verzweiflung und Sterbensmüdigkeit stehen im Zeichen der Rühmung ... wir rühmen dieses Einmalige-Unwiderbringliche, dieses Unbegreiflich-Zauberhaft-Unwiederkehrbare, das wir Leben nennen ... und nur im Wissen oder in der Ahnung dessen, daß unser Mensch-Sein vollendeter sein könnte, als es ist: trauern wir und klagen wir, sind wir verzweifelt und sterbensmüde.“

Verbindliche Antworten auf die Fragen nach den letzten Dingen konnte auch Becher nicht geben, doch würde ein solcher Versuch auch seiner Konzeption des menschlich Wißbaren widersprechen. „Wir sind nicht allein“, ruft er dem verzweifelnden Leser zu, „ich bin es nicht und du bist es nicht, die Antworten wirst Du im steten Diskurs mit den Anderen finden, die Anderen, die dich jäh umgeben, und in dem Anderen, der Du für jeden weiteren bist und sein sollst.“


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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