Eine Rezension von Sven Sagé

Zeit fürs Zetern

Thomas Rosenlöcher:

Ostgezeter. Beiträge zur Schimpfkultur

Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1997, 179 S.

 

Die DDR hat die DDR aufgefressen. Sagt Thomas Rosenlöcher nicht. Sagt es auch nicht so ähnlich. Sagt aber Ähnliches. Die DDR ist an den Intershops zugrunde gegangen. An der anderen Welt in der eigenen Welt. Auch das sagt Rosenlöcher nicht oder so ähnlich. Er spricht davon, wie eine vorgeblich entwickelte Welt eine angeblich unentwickelte Welt einwickelte. Er spricht mit Schmunzeln. Mit Scham. Mit Schadenfreude. Der Dresdner denkt an Deutschland. Mit Schluckbeschwerden. Nicht in der Nacht. Nicht um den Schlaf gebracht.

Die Ankunft der DDR in Deutschland hat sich für den hintersinnig-heiteren Sachsen schon deshalb gelohnt, weil „es hier nun endlich auch anständigen Rotwein“ gibt. Zu schlußfolgern ist, daß die Ostdeutschen vom Roten nun mal nicht lassen können. Punktum! Einmal rot - immer rot! Zumindest etwas röter im Roten. Zumindest im zusammengeflickten Restreich von Anno 1937. Rosenlöcher gibt ungeniert und ungehemmt den geröteten Roten. Als altgedienter Verweigerer ist er darin geübt, „im Wort seine eigene Welt zu behaupten“. Behauptet R. und verweist unbekümmert auf seine in der DDR verfaßten und veröffentlichten Verse. Abgenabelt von der DDR, lockerte sich des Lyrikers Bindung an die Poesie. Seither mischt er sich vor allem mit prosaischessayistischpolemischen Texten unter die brabbelnden deutschen Autoren. Selbstbewußter, der eigenen Stimme fest vertrauend, macht sich der Fünfzigjährige zum leisen Sprecher lauten Ostgezeters.

Der Stolz des naturalisierten Berliners Fontane ist unüberhörbar, der sagte: „Der Berliner zweifelt immer!“ Der Stolz des sächsischen Ostdeutschen ist die widerborstigwitzige Schimpfkultur der gelernten DDRler, die er kultivieren will. Gemäß dem Motto: Geschimpft wird immer! Die in dem Band Ostgezeter gesammelten Texte retten eine Widerstreitkultur, hinter der sich kein Widersinn, keine Widrigkeit, keine Widerwärtigkeit verbergen können. Die Zeit verlangt das Zetern. Mit Thomas Rosenlöcher kann gelacht werden über das Gezeter in der Zeit. Die Zeit kann verlacht werden. Wie in alten Zeiten. In DDR-Zeiten! Ostgezeter ist zuerst ein Buch der Szenen aus der DDR. Ist auch ein Buch der Szenen der DDR in Deutschland. Ist ein bißchen ein Buch der Szenen aus dem jungen Deutschland. Ostgezeter ist ein Buch der Kultur des Verlachens des Lächerlichen. Ist das Lächerliche inzwischen derart inflationär geworden, daß mittlerweile allen das Lachen vergangen ist?

Tatsächlich klein gedruckt, kommt Thomas Rosenlöcher tatsächlich mit Kleingedrucktem. Mit Dutzenden Geschichten zur ost-/westdeutschen, deutschdeutschen und deutschen Geschichte. Geschichten, die wirklich genau gelesen sein wollen. Sie haben nichts von den kleinkarierten Talkshow-Schwätzereien, in denen Gegenwart gepudert und Vergangenheit verwischt werden. Rosenlöchers Texte haben auch nichts vom intellektualisierten rhetorischen Geschwafel über Realität. Rosenlöcher redet von der Realität. Von seinen realen Erfahrungen. Die Geschichten sind Gespräche mit den Menschen und für sie. Sie sind Geschichten von Menschen. Keine Reden eines Radikalen. Radikal ist die Abwehr der Sprachhochstapler, die sich eine gewesene wie gegenwärtige Wirklichkeit zurechtreden, die keiner Realität standhält. Rosenlöchers Worte sind vorsätzliche Zuwiderhandlungen. Sie versuchen, den allgemeinen Gedächtsnisschwund aufzuhalten, dem die wirkliche Geschichte der DDR zunehmend anheimfällt. Thomas Rosenlöcher ist die ganze Zeit der DDR mitgegangen. Das heißt nicht, im Gleichschritt mit der DDR gewesen zu sein. Als Mitgeher war auch er ein Hintergangener und einer, der sich selbst hinterging. Als der spricht er sich aus. Spricht von den Begegnungen der Menschen mit den Menschen. Vom Gedrängtsein und Drängen. Vom Bedrohtsein und Bedrohen. Vom Behindertsein und Behindern. Vom Verhindertsein und Verhindern. Vom Miteinander im Gegeneinander. Vom Gegeneinander im Miteinander. Von allem, was Lebensgewinn und Lebensverlust in der DDR ausmachte. Denn allemal war leben in der DDR Leben, in dem Leben gewonnen wurde und Leben sich verlor. Wann und wo war und ist das anders? Die einzige DDR in der Welt war keine Ausnahme. Was einzigartig DDR war in der deutschen Geschichte, erzählt auch Thomas Rosenlöcher, damit in der Literatur bleibt, was in der Spreu der Historiker-Halbwahrheiten bereits verschwindet. Es bleibt nicht nur, wer schreibt. Geschriebenes bleibt auch. Also muß dem Autor nicht bange sein, der - kokett? - von der „Vergeblichkeit“ seines Äußerns spricht. Grienend? Augenzwinkernd? Sich eins ins Fäustchen lachend? Thomas Rosenlöchers Ostgezeter ist fortgesetzte heitere Heimat-Kunde. Die macht sich seit Jahren beliebt in der Literatur aus ostdeutschen Landen. Von Brussig bis Krawczyk. Da kann man getrost selbst dann lächeln, wenn der sächsische Schreiber einen Stegreifphilosophen mit pädagogischen Ambitionen à la DDR mimt. Weil Thomas Rosenlöcher dem Clown in sich eine Chance geben will?


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

zurück zur vorherigen Seite