Eine Rezension von Licita Geppert

Geborgtes Glück

Charles Dickens:

Große Erwartungen. Roman

Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 1997, 547 S.

 

Pünktlich zum Erscheinen des Kinofilms gleichen Titels bringt der Aufbau Taschenbuch Verlag das Buch heraus, das die Vorlage, oder besser: den Vorwand für den Film bietet. Damit verschafft der Verlag all jenen, die Dickens oder zumindest dieses Werk noch nicht kennen, ein hinreißendes Leseerlebnis. Charles Dickens lebte von 1812 bis 1870. Seine Epoche war gekennzeichnet von zahlreichen gesellschaftlichen Umbrüchen und wirtschaftlich-technischen Veränderungen, die aber für das einfache Volk meist nur Verschlechterung der Lebensverhältnisse bedeuteten. Nicht sozialer Umbruch ist das Thema von Große Erwartungen (erschienen 1861), nicht technische Entwicklung, wohl aber die erbärmliche Situation der Menschen im England des 19. Jahrhunderts. Mit geschärftem Blick und gespitzter Feder führt uns Dickens in die Welt der Armut, der Elenden. Dies gelingt ihm bei aller Deutlichkeit so spannend und unterhaltsam, daß man das Buch nicht mehr aus der Hand zu legen vermag. Die Geschichte ist einfach und zugleich kompliziert: Der Junge Philip Pirrip, der seinen Namen einst zu Pip verkürzte, eine Vollwaise, lebt im grauen, nebligen, öden Marschland. Aufgezogen wird er von der Schwester „mit eigener Hand“, was für ihn gleichbedeutend mit ständiger Drangsalierung und Demütigung ist: „In der kleinen Welt, in der Kinder aufwachsen, wird nichts so genau wahrgenommen und empfunden wie Ungerechtigkeit, ganz gleich, von wem sie erzogen werden ... Seit meiner frühesten Kindheit hatte ich innerlich einen ständigen Kampf gegen die Ungerechtigkeit auszufechten ...“ Joe, der Dorfschmied und Ehemann der Schwester, ist zu schwach und zu gutmütig, ihn vor deren Übergriffen zu schützen, ist ihm aber gleichzeitig bester Freund und einziger Halt seiner Kindheit. Unvermittelt und unerwartet geschehen Ereignisse, die ihn aus dem engen Leben der Dorfschmiede hinausführen in eine bizarre Welt des Wohlstands, eröffnen sich ihm „große Erwartungen“ durch einen unbekannten Wohltäter. So erbärmlich sein Leben in der Schmiede war, so großartig lebt er nun in London auf seine großen Erwartungen hin, vergißt seine Freunde in der Heimat, gibt Geld aus und versucht, trotz aller Ausschweifungen, ein halbwegs anständiger Mensch zu bleiben. „Ein guter Kerl bist du, ungestüm und zaghaft, tapfer und schüchtern, tatkräftig und verträumt - eine seltsame Mischung“, beschreibt sein Londoner Freund den immer wieder von Selbstzweifeln geplagten Pip.

Auch in diesem Buch treffen wir mit dem größten Vergnügen auf die skurrilen Figuren, die üblicherweise die Romane von Dickens bevölkern. Es sind prägnante Gestalten, die neben den Merkmalen ihrer Klasse über psychologisch (bereits vor Freud) gut erfaßte individuelle Merkmale und Schrullen verfügen. Einprägsam wird die Einbettung der Menschen in ihr soziales Milieu geschildert. Dickens übt jedoch nicht nur Kritik an sozialen Mißständen, sondern auch und vor allem an menschlichem Fehlverhalten, und so sind am Schluß des Romans alle Personen, auch die gutmütigsten und liebenswürdigsten, irgendwie mit Schuld beladen, und einer jeden wird das Recht auf Verzeihung gewährt. Dickens Erzählmethode entspricht in großen Zügen der des 18. Jahrhunderts, die sich durch eine unaufhörliche Aneinanderreihung von Abenteuern auszeichnete. Er geht jedoch in seiner Komposition weit darüber hinaus und schafft ein lebendiges Gesellschaftsgemälde seiner Zeit.

Ein Drittel des Romans ist der armseligen Kindheit des Helden gewidmet, in der Pip von der geistigen und materiellen Armut des heimischen Hauses in das gespenstische Panoptikum der außerhalb jeder Realität lebenden, egozentrischen Miss Havisham gerät. Die innere wie äußere Schäbigkeit ist hier nicht geringer, nur Herkunft und Vermögen der Miss Havisham, die ansonsten niemanden in ihr Haus läßt und damit den wildesten Spekulationen Vorschub leistet, vergolden gewissermaßen den Unrat. Bei ihr lernt Pip die Liebe seines Lebens kennen, die launische, arrogante, unberechenbare Estella, die von Miss Havisham dazu erzogen wird, an den Männern das ihr seinerzeit zugefügte Unrecht zu rächen. Beide müssen erst eine gehörige Portion Lebenserfahrung gewinnen, bevor ihre Wege zu einem gemeinsamen werden könnten. Im zweiten Drittel des Buches lebt Pip „in Erwartung“ in London und ist hauptsächlich mit Geldausgeben beschäftigt. Erst im letzten Teil trifft er seinen Wohltäter, dessen Erkennen für ihn jedoch zunächst alles andere als Grund zur Freude ist, bis sie der rasante Verlauf der Ereignisse einander näherbringt. In einem scheinbar unbedeutenden Satz wird Dickens Menschenbild deutlich: „Es gehörte zu meines Vaters Prinzipien, daß nur derjenige ein Gentleman mit gutem Benehmen ist, der in seinem Innern ein Gentleman ist. Er sagt, kein Anstrich könne die Beschaffenheit des Holzes überdecken.“ So wird am Ende jeder den ihm zustehenden Platz einnehmen. Aber bis dahin müssen sich die Romangestalten aus ihrer Fremdbestimmung lösen, die von Dickens teilweise deutlich dargestellt, teilweise hintergründigpsycholgisch vermittelt wird.

Für den Leser bedeuten die über 500 Seiten Lesevergnügen pur, man wird in den Strudel der Ereignisse hineingezogen und atmet erst am Ende - nach zahllosen Abenteuern und Verwicklungen, komischen Situationen, aberwitzigen Konstellationen, Höhen und Tiefen - mit dem Helden erleichtert auf.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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