Eine Rezension von Maria Careg

Mütter - Töchter - Frauenbilder

Lou Andreas-Salomé: Ma

Roman. Mit einem Nachwort von Heidi Gidion.

Ullstein Verlag, Berlin 1996, 192 S.

 

Ein Buch von eigenartiger Schönheit begegnet uns mit diesem Roman der einst berühmten, heute zu Unrecht vergessenen Schriftstellerin Lou Andreas-Salomé (1861-1937). Dieses geradezu lyrische Porträt einer Frauengestalt - Ma - trägt indirekt stark autobiographisch geprägte Züge. Indirekt deshalb, weil nicht die Gestalt der Ma die Identifikationsfigur der Autorin ist. Ma ist es, die drei Lebensprogramme evoziert und unversöhnlich aufeinanderprallen läßt. 1901 erschienen, thematisiert der Roman, ebenso wie viele weitere Werke der Autorin, ein drängendes Problem seiner Zeit: die Rolle der Frau in Familie und Gesellschaft, „... das Bild von ,der‘ Frau, das die Männer entworfen haben und das der Wahrnehmung der Frau von sich selbst und ihren ureigenen Bedürfnissen im Wege steht. Wie gestaltete Variationen dieses Leitmotivs wirken Personen und Handlung auch im Roman ,Ma‘ und sichern ihm seine zeitlose Wirkung, ungeachtet aller Zeitgebundenheit.“ (Heidi Gidion) Seine Geschichte ist die der Loslösung der Kinder von ihren Eltern, hier zugespitzt auf die Problematik Mütter - Töchter.

Ma ist gleichermaßen die Abkürzung für Marianne wie für Mama, einst geprägt von ihren beiden nunmehr erwachsenen Töchtern, die ihre Mutter bisweilen mit dem Vornamen ansprachen, bis schließlich dieses liebevolle Kürzel übrigblieb. Ma ist die Mutter schlechthin, entsagungsvoll und aufopferungsbereit, von Liebe zu ihren Kindern durchströmt, die den einzigen Inhalt ihres Lebens ausmachen. „Eine Mama, das ist jemand, der gewaltig reich geworden ist durch das Verlangen, recht viel zu verschenken an seine Kinder zu haben“, erklärt Ma ihrer Nichte (S. 135), und ihrer Tochter Sophie antwortet sie: „Ich dachte darüber nach, warum ich euch gutwillig mir dermaßen über den Kopf wachsen lasse, ihr Kinder.“ - „Nun, und das Ergebnis war, Ma?“ - „Es war: wachset nur, wachset!“

Sie durfte nur ein kurzes Eheglück erleben, nach dem allzu frühen Tod des geliebten Gatten verengte sich ihr Lebenskreis. Wohl ermöglicht ihr ihre Tätigkeit als Lehrerin vielfältige Kontakte, sie ist jedoch nur lebensnotwendiger Brotberuf, ihre wahren Interessen überschreiten nie den behaglichen, engen Innenzirkel von Wohnung und Kindern. Auch als die Töchter sie verlassen, durchbricht sie diesen Kreis nicht, engt ihn im Gegenteil bewußt noch stärker ein. Sie hatte nur den Kindern zuliebe und dank der unermüdlichen Hilfe des allgegenwärtigen Arztes und guten Freundes der Familie, Dr. Tomasow, seinerzeit wieder Kraft zum Weiterleben gefunden. So bewegte sie sich alle Zeit auf dem schmalen Grat zwischen Aufgeben und Durchhalten. Die Gestalt der Ma wird nicht denunziert, sondern im Gegenteil liebevoll beschrieben. Sie erscheint als eine, wenn auch überholte Form weiblicher Existenz, die aber notwendig war, um ihren Töchtern den Aufbruch zu ermöglichen.

Ihre beiden Töchter, Cita und Sophie, suchen das Leben außerhalb dieses Horts von Wärme und Geborgenheit, von Vertrautheit und Mutterliebe. Sie drängen hinaus in eine Welt, die ihnen die Tore weit zu öffnen scheint. Sie werden ihr neues Zuhause in der Frauenbewegung finden und in den geistigen Welten, die diese ihnen eröffnet. In ihnen manifestiert sich das Lebensprinzip der Lou Andreas-Salomé selbst. Mas Töchter, 19 und 21 Jahre alt, erfahren wenig von den inneren Kämpfen der Mutter, sie erahnen sie nur. Die Mutter ist trotz allen Schmerzes aber auch dazu bereit, ihren Kindern die eigene Lebensplanung zu ermöglichen, hier siegt ihre Selbstaufgabe zu Recht. Jetzt endlich wäre auch sie in der Lage, in sich hineinzuhorchen und lange verdrängtem Sehnen nachzugeben. Ma schlägt jedoch am Schluß des Romans die Werbung Dr. Tomasows aus, sie will ihren Kindern das (Trug) Bild des Unveränderlichen bieten, um sie wenigstens noch mit diesen schwachen Banden an sich zu binden. Aber auch Dr. Tomasow erkennt am Ende, daß er nicht die gleichberechtigte Gefährtin sucht in der Frau, die ihm seit langem nahestand, sondern das Bild, das sie ihm stets geboten: das der ratlos-ratsuchenden, ergeben-achtungsvoll zu ihm aufblickenden Frau.

Das schöne, informative Nachwort von Heidi Gidion ermöglicht dem Leser Einblicke in Leben und Schaffen der Schriftstellerin. Als Lou von Salomé als jüngstes Kind und einzige Tochter eines im Dienste des russischen Zaren stehenden Generals deutsch-französischer Herkunft geboren, erlebt sie Wärme und Geborgenheit in einer großen Familie, Liebe und Freizügigkeit jeder Art. Dies ist die Voraussetzung für die spätere Ungebundenheit ihres Charakters. Sie behält diese Selbstbestimmtheit trotz ihrer Nähe zur Frauenbewegung bei, von der sie sich nie vereinnahmen oder gar ihre Weiblichkeit nehmen läßt.

Die drei so unversöhnlichen Frauenbilder, die die Personen des Romans verkörpern oder die sie als Ansicht vertreten, wurden von Lou Andreas-Salomé einfühlsam und ohne Anklage beschrieben und gestaltet. Sie müssen zwangsläufig zum Auseinanderdriften ihrer aller Lebenswege führen. Der Roman beginnt mit einer poetischen und dennoch detailgetreuen Schilderung des Kremls und der anbetungswürdigen Iberischen Mutter Gottes, die durch Moskau gefahren wird. Der Kreis der Erzählung schließt sich mit einer erneuten Beschreibung des als heilig geltenden Kreml-Bezirkes, jedoch ohne Erwähnung des Heiligenbildnisses. An dessen Stelle wird die sich in den Augen ihrer Betrachter vielschichtig spiegelnde Ma vom Kreml herabsteigen, wie mit einem Heiligenschein umgeben, als Symbol für das Unwandelbare, Mütterliche, Archaische.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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