Wiedergelesen von Klaus Ziermann

Heinrich Böll: Ansichten eines Clowns

Kiepenheuer & Witsch, Köln 1963

 

„Es war schon dunkel, als ich in Bonn ankam ...“, las ich - wie damals, gegen Mitte der sechziger Jahre - den Anfang des Romans, und wieder nahm er mich - wie dreieinhalb Jahrzehnte vorher - bereits auf den ersten Seiten gefangen.

Es war schon ein genialer literarischer Einfall von Heinrich Böll, der konservativen, verkrusteten Bonn/Kölner Gesellschaft am Ende der „Ära Adenauer“ einen Spiegel in Gestalt des Clowns Hans Schnier entgegenzuhalten. Sohn eines Bonner Industriellen ist er, aus bester „Wirtschaftswunder“-Familie, und er hätte eigentlich alle Voraussetzungen in dem sorgsam restaurierten Adenauer-CDU-Staat gehabt, glücklich zu sein. Er brauchte doch nur wie „Günti“ Sachs den Playboy zu spielen, wie Hermann Josef Abs, Henri Nannen und Reinhard Mohn „erfolgreicher deutscher Unternehmer“ zu werden oder wie Franz Josef Strauß und der junge Helmut Kohl zum christdemokratischen „Karriere-Politiker“ aufzusteigen. Aber nein, dieser sensible, künstlerisch veranlagte junge Mann vom Rhein wird Clown - ein einigermaßen erfolgreicher sogar, aber auch ein eigentümlicher: „Wenn ich betrunken bin, führe ich bei meinen Auftritten Bewegungen, die nur durch Genauigkeit gerechtfertigt sind, ungenau aus und verfalle in den peinlichsten Fehler, der einem Clown unterlaufen kann: Ich lache über meine eigenen Einfälle. Eine fürchterliche Erniedrigung“, gesteht er.

Daß dieser „Künstler“ mit Scharfblick für seine Umwelt, der von Berufs wegen Lachen und Lebensfreude produzieren und verbreiten soll, im „dunklen“ Bonn überall auf Unverständnis stößt, immer mehr zum Außenseiter wird und letztlich scheitert - bei seinen Eltern und deren Wertvorstellungen, bei den Bonn/Kölner Katholiken, schließlich auch in seiner Liebe zu Marie -, ist fast vorauszusehen und dennoch von Heinrich Böll literarisch überzeugend gestaltet. Am Ende sitzt der perspektiv- und heimatlose Hans Schnier verzweifelt auf der Treppe des Bonner Hauptbahnhofs; neben ihm liegt der Hut, den er „früher bei Chaplin-Imitationen getragen hatte ...“ Die Bonner Bürger, die an ihm vorbeiziehen, behandeln ihn wie einen Bettler und werfen ihm ein paar Groschen zu. Was für ein literarisches Abschlußbild!

Marcel Reich-Ranicki allerdings entdeckte 1963 in einer Rezension, daß „dieser Roman keine überraschend neuen Züge“ zum „bisher bestehenden Bild des Schriftstellers Heinrich Böll“ hinzufügte. „Allzu leicht macht er es den Gegnern seines Talents, schwer seinen Verehrern“, schrieb er im „Zeit“-Feuilleton. „Zum erstenmal habe ich bei Böll den Eindruck, daß sein Buch nicht der moralischen Entrüstung entspringt, sondern einem unentwegten Mißbehagen. Es ist nicht ein Buch des Aufruhrs, sondern der Verärgerung. Und dabei reibt er sich so sehr an Belanglosem und an Kleinigkeiten, daß er keine Distanz zum behandelten Gegenstand gewinnt und die großen Fragen unserer Zeit seiner Aufmerksamkeit entgehen. Der Roman Ansichten eines Clowns hat keinen Hintergrund, keine Perspektive. Der ,katholische Klüngel‘ von Bonn und Köln verstellt dem Autor den Blick in die Welt.“ Durch das Aufbauschen angeblicher „literarischer Mängel“ versuchte er, die treffsichere gesellschaftskritische Aussage des Böll-Romans „feuilletonistisch“ zu zerreden. Doch Reich-Ranickis Auffassung wurde von den meisten Star-Kritikern der Bundesrepublik nicht geteilt.

Für mich war Ansichten eines Clowns stets das poetischste Buch der BRD-Literatur. Heinrich Bölls stille, lautere und moralisch grundanständige Anteilnahme für einen Erniedrigten und Beleidigten in künstlerisch genauen Bildern, einprägsam und mitfühlend geschrieben, ist für mich bis zum heutigen Tag - ähnlich wie bei Dostojewski - Weltliteratur im besten Sinne des Wortes. Ich würde sogar sagen: Ansichten eines Clowns waren literarischer Durchbruch und Höhepunkt Heinrich Bölls auf seinem Weg zum verdienten Nobelpreis 1972. Das haben damals bestimmt auch viele Leser in der DDR gemerkt, die den Schriftsteller vom Rhein zu einem ihrer Lieblingsautoren kürten. Die DDR-Führung sah das allerdings anders: Bis 1990 durfte der Roman in der DDR nicht erscheinen, weil sich Hans Schnier im 22. Kapitel mit „irgendwelchen Kulturfritzen in Erfurt getroffen hatte“. Eine Alternative zum Kölner Klerus sah Schnier im DDR-Sozialismus nicht. Auch Clownnummern wie „Sitzung des Kreiskomitees“, „Der Kulturrat tritt zusammen“ oder „Der Parteitag wählt sein Präsidium“ kamen nicht zustande, obwohl Hans Schnier darin „keine Propaganda gegen die Arbeiterklasse“ sah. Auf alle Fälle wurde er schnell wieder über Bebra in den Westen abgeschoben.

An Aktualität haben Heinrich Bölls Ansichten eines Clowns auch im Detail wenig eingebüßt. Davon kann sich jeder Leser überzeugen, der das Ende des 20. Kapitels liest und dort - aus einem Telefongespräch am Ende der „Adenauer-Ära“ - von diesem Dialog erfährt:

„Sie sind Deutscher, ich spreche grundsätzlich nur mit deutschen Menschen.“ - „Das ist ein guter Grundsatz“, sagte er. „Wo fehlt’s denn bei Ihnen?“ - „Ich mache mir Sorgen um die CDU“, sagte ich, „wählen Sie auch fleißig CDU?“ - „Aber das ist doch selbstverständlich“, sagte er beleidigt ...

Könnte dieser „Blick in die Welt“ nicht auch aus der gegenwärtigen „Kohl-Ära“ stammen?


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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