Eine Rezension von Max Reizmann

Viel Nebensächliches und manches Interessante

Friedrich Fiedler: Aus der Literatenwelt

Charakterzüge und Urteile - Tagebuch.

Herausgegeben von Konstantin Asadowski.

Veröffentlichungen der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, 71. Veröffentlichung.

Wallstein Verlag, Göttingen 1996, 576 S.

In der russischen Literaturgeschichte gab es des öfteren „Liebhaber der schönen Künste“, die in Tagebüchern oder langen Briefen alles, was ihnen in der literarischen Szene bedeutend erschien, der Nachwelt überliefern wollten. Friedrich Fiedler, selbst mit literarischen Werken nicht sehr erfolgreich, gehörte offensichtlich dazu.

In Konstantin Asadowskis vierzigseitigem Einleitungsartikel „Ein Ritter der russischen Literatur“ wird der Rußlanddeutsche ausführlich vorgestellt, als geistig produktiver Vermittler zwischen russischer und deutscher Literatur gewertet, als Übersetzer, Herausgeber und eigenwilliger Sammler gewürdigt.

Der Hauptteil des Buches - Friedrich Fiedlers Tagebuch Aus der Literatenwelt. Charakterzüge und Urteile - umfaßt einen Zeitraum von fast drei Jahrzehnten: vom 26. Februar 1888 bis zum 9. Dezember 1916. Auf mehr als 450 Druckseiten gibt es viele Kleinigkeiten und Nichtigkeiten, manches Nebensächliche und Unwichtige, z. B. wenn von kaum besuchten Abenden russischer Literaturgesellschaften berichtet wird. Mancher mag sich fragen, was soll es heute noch, wenn Friedrich Fiedler am 10. Agust 1899 in sein Tagebuch eintrug: „Gestern kam Mamin, dick, rot im Gesicht, in einem fragwürdigen, graupunktierten Paletot, eine Prikstschik- resp. Spitzbubenmütze auf dem Kopf, doch lieb und gutmütig. Komisch wie immer. Während des Sommers hat er zehn Druckbogen geschrieben.“ (S. 258) Oder: „Ich vergaß zu notieren, daß ich vorgestern im ,Verband‘ habe behaupten hören, Ant. Tschechow werde demnächst die Moskauer dramatische Schriftstellerin Knipper heiraten ...“ (S.264)

Immerhin waren die drei Jahrzehnte in Fiedlers Tagebuch Höhepunkte des kritischen Realismus in der Weltliteratur und mit Namen wie Lew N. Tolstoj, Fjodor M. Dostojewski, Iwan Turgenjew und - als aufgehenden Stern - Maxim Gorki verbunden. Sergej A. Berdjajew, Friedrich Bodenstedt, Wladimir Bontsch-Brujewitsch, Wsewolod Garschin, Leonid Andrejew, Wladimir Lichatschow, Dimitrij Mereshkowski, Nikolaj Michailowskij sind Namen, auf die man in Fiedlers Tagebuch-Aufzeichnungen auf Schritt und Tritt stößt. Es spricht schon von Zeitgeist, wenn Friedrich Fiedler am 1. April 1904 notiert: „Ich komme soeben von der Premiere von Tschechows ,Kirschgarten‘. Die Darsteller wurden nach jedem Akt 3-4 Mal hervorgerufen, zum Schluß gegen acht. Auch nach dem Verfasser, als das Stück aus war, riefen etwa dreißig Stimmen ...“ (S. 323) Oder: „War heut in Kuokkala bei Repin. Er führte mich in seinem Atelier herum und ließ mich vor seinem neuesten ... Portrait Tolstojs niedersitzen. Ich wunderte mich über dessen sanftblickende Augen, und Repin versicherte, daß sei in der letzten Zeit ganz so; Tolstoj weine jetzt jedesmal, wenn er etwas Rührendes lese.“ (S. 402)

An Lew Tolstoj kam Fiedler trotz aller Bemühungen nicht heran. Von Fjodor Dostojewski ist aus seinen Notizen nur zu erfahren, was er vom Hörensagen mitbekam. Am ausführlichsten wird Maxim Gorki beschrieben: „Heute zum Mittag besuchte mich Gorkij (A. M. Peschkow). Hoch, knochig von Gesicht - unintelligenter Handwerker, schlicht und natürlichbescheiden von Wesen. Erzählte sehr viel von seinem Leben, das geradezu eine Odyssee bildet. Zählt 31. Am 26. Oktober 1892 wurde er zum ersten Mal gedruckt: in der Zeitung ,Kawkas‘, die seinen ,Makar Tschudra‘ brachte. An demselben Tage wurde er sozialpolitischer Umtriebe wegen arretiert; dasselbe passierte ihm sonderbarerweise auch, als der erste Band seiner Werke erschien: um 10 abends erhielt er ihn zugeschickt, und um 12 saß er fest ...“ (S. 261) Die Aufzeichnungen über Maxim Gorki, den er zu guter Letzt auch bei der Ausreise aus Rußland begleitete, dürften das Interessanteste aller literarischen Aufzeichnungen Fiedlers sein.

Die Notizen von Auslandsreisen, speziell auch mehreren Aufenthalten in Deutschland, bei denen er sich im Reclam-Verlag Leipzig aufhielt, mit Gustav Freytag und anderen Literaten zusammentraf, erreichen nicht die Substanz der Rußland-Aufzeichnungen. In einzelnen Fällen vermittelt Friedrich Fiedler auch Stimmungen von der revolutionären Bewegung in Rußland vor 1917. So steht in einer Eintragung vom 5. Oktober 1899: „In der Redaktion der ,Shisn‘ hatten sich gestern gegen hundert Personen eingefunden: auch die Mitglieder der ,Russkoje bogatstwo‘ und des ,Mir Boshij‘. Beim Champagner wurde auf die Verbrüderung der Marxisten und der Volkstümler getoastet ...“ (S. 260) Doch das waren mehr zufällige Notizen, denn mit den revolutionären Bestrebungen hatte Friedrich Fiedler kaum etwas gemein: Er starb einen Tag vor der Februarrevolution 1917.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

zurück zur vorherigen Seite