Eine Rezension von Eberhard Fromm

Auf großer Fahrt

Jorge Amado:

Notizen für eine Autobiographie, die ich niemals schreiben werde

Dietz Verlag, Berlin 1997, 376 S.

Als ich beim Lesen dieses Buches vom Tod des großen isländischen Romanciers Halldor Laxness erfuhr, wurde mir mit aller Deutlichkeit bewußt, wie wichtig die Erinnerungen, Memoiren, Autobiographien und ähnliche Betrachtungen der Großen aus Kunst und Literatur für die Kulturgeschichte unseres 20. Jahrhunderts sind. Gegenüber der Flut von Erinnerungsbüchern aus dem Bereich der Politik, wo der laute Anspruch auf Objektivität meist gepaart ist mit der verdeckten Rechtfertigung des eigenen politischen Tuns, brauchen wir für eine ausgewogene Zeitdiagnose das ganz subjektive Zeiterlebnis des Künstlers - und zwar auch und gerade außerhalb seines künstlerischen Werks, seiner Romane, seiner Bilder, seiner Sinfonien oder Gedichte.

Deshalb sind auch die vorliegenden autobiographischen Notizen des brasilianischen Schriftstellers Jorge Amado (Jahrgang 1912) so bedeutsam, die seit 1986 aufgezeichnet wurden. Amado notiert hier Ereignisse, Erinnerungen, Begegnungen in lockerer Folge, springt durch die Zeiten, auf eine Erinnerung aus dem Jahre 1933 folgt eine Bemerkung zu 1968, er betont, daß er für die Richtigkeit der Daten keine Garantie übernehmen kann - und doch enthält dieses zeitliche Puzzle und biographische Kaleidoskop unschätzbares Wissen und bisher nicht bekannte Informationen. Köstliche Anekdoten über berühmte Zeitgenossen wechseln sich ab mit inhaltsschweren Entscheidungsfragen; künstlerische Schaffensprobleme werden ebenso diskutiert wie politische Situationen. Wenn Amado es ernst meint mit der Eintragung „... der Zug der Geschichte frißt die Entfernungen mit einer Geschwindigkeit, die größer ist als die des Lichts“ (S. 20), dann erscheint diese geradezu aphoristische Form der Erinnerung wohl angemessen.

Mit großem Interesse liest man die sehr persönlichen Ansichten Amados über solche berühmten Kollegen wie seinen Freund Ilja Ehrenburg oder den als Schriftsteller geachteten, sonst jedoch sehr kritisch betrachteten Michail Scholochow, über die Beziehungen zu Jean-Paul Sartre oder die Distanz zu Louis Aragon, seine Freundschaft mit Anna Seghers oder die Begegnung mit Graham Greene. Man erfährt, wie sich Anna Seghers bei Amado dafür einsetzte, daß Bertolt Brecht den Stalin-Friedenspreis erhielt, um ihn in den internen Auseinandersetzungen mit der SED zu unterstützen. Oder man liest schmunzelnd, wie der Berliner Verlag des Brasilianers, Volk & Welt, nur e i n e n Roman nicht veröffentlichte, weil - so die Begründung - eine Hure kein positiver Held sein könne.

Natürlich steht im Mittelpunkt der Neugier des Lesers, wie denn der kommunistische Schriftsteller Amado die Umbrüche der letzten Jahre verarbeitet hat, wie er seine eigenen Positionen von gestern und heute einschätzt. Von den Zweifeln seit den fünfziger Jahren erfährt man immer wieder. Zugleich steht dagegen aber auch die Formel: „Die Zweifel wachsen, wir dürfen nicht zweifeln, wir wollen nicht zweifeln, wir wollen weitermachen in unversehrtem Glauben, in Gewißheit, dem Ideal folgen.“ (S. 148) Hart sind seine Urteile über die Fehler, über das Häßliche, Faule und Widernatürliche, über das ein ideologischer Schleier gedeckt wurde. Gleichzeitig beharrt Amado jedoch darauf, daß die Oktoberrevolution „das Gesicht der Welt und das Leben der Menschen“ für immer verändert habe. „Die von ihr ausgerufenen neuen Werte bleiben jenseits der vermeintlichen gegenwärtigen Niederlage bestehen.“ (S. 350) Deshalb sieht Amado für sich auch keinen Grund zur Verzweiflung, denn die Probleme, für die er gekämpft hat, bleiben riesig, und „der Traum, den wir träumten, bleibt unversehrt in seiner faszinierenden Herausforderung“. (S. 349)

Die von Amado so bescheiden „autobiographische Notizen“ genannten Erinnerungen und Reflexionen sind so die Aussagen eines Zeitzeugen des 20. Jahrhunderts, der nicht den Anspruch einer objektiven Berichterstattung über seine Zeit erhebt, sondern der auch in diesen Notizen der „romantische, sinnliche Bahianer“ bleibt, als den er sich selbst sieht.

Es ist bedauerlich, daß der vorliegende Band nicht einmal ein paar kleine Hinweise zu Jorge Amado (Lebensdaten, bibliographische Angaben) liefert. Noch betrüblicher ist es jedoch, daß hier eine ausgezeichnete Möglichkeit vergeben wurde, über das geistige Leben Südamerikas zu informieren. Viele der konkreten Erinnerungen Amados hätten einer Erklärung bedurft. Ein guter Apparat wäre für den Leser nicht nur hilfreich für ein besseres Verständnis von Personen, Werken, Zusammenhängen, Institutionen usw. gewesen, sondern hätte eben auch ein genaueres Bild der geistigen und teilweise sogar politischen Entwicklungen auf dem uns ja nicht so bekannten Subkontinent zeichnen können. Viele der Fußnoten im Text machen jedoch den Eindruck der Zufälligkeit, der sporadischen Eintragung: Da werden Abkürzungen einmal nur auf portugiesisch erläutert, ein anderes Mal auch auf deutsch; da werden Persönlichkeiten entweder mit vollem Namen, nur mit Familiennamen, mit oder ohne Lebensdaten usw. vorgestellt; da werden namhafte Personen aus Kultur und Politik gar nicht erklärt, dafür aber eine russische Dolmetscherin oder eine Restaurantbesitzerin.

Jorge Amados Lebensreise führt den Leser durch ein bewegtes Jahrhundert. Und auch gegen Ende dieses Jahrhunderts bleibt der große brasilianische Autor seiner Devise treu, die er seinen Erinnerungen vorangestellt hat: „Ich sage nein, wenn alle einstimmig ja sagen. Das ist meine Verpflichtung.“


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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