Wiedergelesen von Horst Wagner

Doris Lessing: Schritte im Schatten. Autobiographie 1949-1962

Aus dem Englischen von Christel Wiemken.

Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 1967, 478 S.

Bekannt geworden ist die 1919 als Tochter englischer Eltern im Iran geborene, ab ihrem fünften Lebensjahr im heutigen Simbabwe aufgewachsene und seit 1949 in London lebende Doris Lessing bei uns vor allem durch ihre in Afrika spielenden Romane und Erzählungen. Vor vier Jahren hat sie den ersten Teil ihrer Autobiographie unter dem Titel Unter der Haut veröffentlicht. Den jetzt erschienenen zweiten Teil, der die Jahre 1949-1962 umfaßt, nennt sie Schritte im Schatten. Sie hat ihm eine Liedzeile aus „On the Sunny Side of the Street“ vorangestellt, die besagen könnte, daß sie nun von der Schatten- auf die Sonnenseite getreten ist oder treten möchte. Doch die Schatten sind - wie wir noch sehen werden - geblieben.

Ihr Neffe, Gregor Gysi, hat in seiner Autobiographie Doris Lessing, der er erst nach 1990 in London begegnet ist, als eine „in sich gekehrte Frau“ beschrieben, die „große Klugheit ausstrahlt“ und „sehr scheu wirkt“. Aus Schritte im Schatten könnte man schlußfolgern, daß sie sich äußerlich nichts mehr so leicht unter die Haut gehen läßt, aber innerlich doch wie ein feiner Seismograph reagiert. Zwar baut sie großen Erwartungen, sehr Persönliches aus ihrem Leben zu erfahren, mit dem Satz vor: „Es ist unmöglich, das Leben eines Schriftstellers zu beschreiben, denn das Reale in ihm läßt sich nicht niederschreiben.“ (S. 126) Und doch läßt sie uns manche Blicke in die Realitäten ihres Alltags tun. In ihre Londoner Wohnungen, in denen sie mit ihrem Sohn und ihren Katzen lebt. Auf das Scheitern ihrer Ehe mit Gottfried Lessing, der in späteren Jahren die DDR als Diplomat in Afrika vertreten hat. Auf ihre Liebe zum Tschechen Jack und zum US-Amerikaner Clancy. Sie nimmt uns mit auf nächtliche Spaziergänge durch London, auf Touren durch den afrikanischen Busch wie auf eine Reise mit englischen Freunden in die Sowjetunion. Freimütig läßt sie uns an manchem intimen Gespräch teilhaben, wie auch an ihrer Verzweiflung in der Zeit, als sie „eine Frau in mittleren Jahren war, die im Spirituosenladen literweise Whisky kaufte“ (S. 338).

Aber immer sind die „Schritte“ ihres persönlichen Lebens hineingestellt in die „Schatten“, welche die Zeitereignisse werfen, die Schatten vor allem des kalten Krieges, der in den beschriebenen Jahren manchen Höhepunkt erfährt. Die Auseinandersetzungen zwischen den Großmächten spielen hinein in ihre Erlebnisse auf den Friedensmärschen von Aldermaston, auf denen sie Bertrand Russell kennenlernt, wie in ihrer Tätigkeit in der „Kampagne für einseitige Abrüstung“, in deren Auftrag sie Henry Kissinger davon überzeugen soll, daß die englische Friedensbewegung nicht nur aus Kommunisten besteht. Als junge, romantische, völlig undogmatische Kommunistin sieht sich Doris Lessing zur Auseinandersetzung gezwungen: mit den antikommunistischen Hexenjägern ebenso wie mit Dogmatismus, Heuchelei und Verbrechen in der kommunistischen Bewegung. Zur Auseinandersetzung aber immer mehr auch mit sich selbst: mit naiver Gläubigkeit und verordneter Disziplin.

Dabei scheint mir allerdings der innere Prozeß von der vertrauensvollen Parteigängerin zur Zweiflerin und schließlichen Gegnerin zu verkürzt geschildert. Sicher: Doris Lessing zitiert einen von ihr 1956, kurz nach dem XX. KPdSU-Parteitag geschriebenen Brief als eine Art Schlüssel zu ihrer inneren Wende. Aber für meinen Geschmack hat sich doch zu viel aus heute herrschender Sicht, der Sicht der Sieger im kalten Krieg, in die Wiedergabe damaliger Ereignisse eingeschlichen. Daß dabei manche Personen, darunter auch Michail Scholochow, und Situationen, zum Beispiel auf ihrer Sowjetunionreise, fast zu Karikaturen geraten, mag ja noch hingehen. Für historisch unzulässig und politisch schockierend halte ich es aber, wenn Doris Lessing schreibt, Hitlerdeutschland sei - einschließlich des Holocaust - „in Sachen Terror im Vergleich zu Stalins Regime ein Waisenknabe“ gewesen (S. 74), und an anderer Stelle sich allen Ernstes dagegen wendet, „daß Hitler die Rolle des Hauptverbrechers unserer Zeit zugewiesen wird, während Stalin doch tausendmal schlimmer war“ (S. 314). Man kann zu Lenin ja stehen wie man will. Aber man wird ja wohl fragen dürfen, auf welche Quellen sich Doris Lessing stützt, wenn sie Lenin „einen der skrupellosesten Mörder der Geschichte“ nennt und ihn zum Erfinder einer „Permanenten Revolution“ macht, die „nichts anderes bedeutete, als daß die Mitglieder der Kommunistischen Partei regelmäßig und stetig ermordet, gefoltert, ins Gefängnis geworfen und in die Lager geschickt werden mußten“ (S. 205). Es ist ja bekannt, daß Liebe zuweilen in Haß umschlägt. Aber der Haß auf einst Verehrtes, der hier die Feder geführt hat, ist für mich dazu angetan, Doris Lessings Buch zu entwerten.

Zu den wertvollen, interessanten Passagen ihrer Biographie zähle ich dagegen ihre Gedanken über Literatur im allgemeinen und die Wirkung ihrer eigenen Bücher im besonderen. In den Mittelpunkt rückt sie dabei ihr Goldenes Notizbuch, von dem sie selbst gar nicht erwartet hatte, daß es zu einer Art „Bibel der Frauenbewegung“ wurde. „Diese Sache, daß ein Buch das Leben eines Menschen verändert“, schreibt sie, „kann nur bedeuten, daß jemand bereit ist, sich zu ändern, und das Buch das Zünglein an der Waage ist.“ (S. 409)

Ein gutes Dutzend Seiten gegen Ende der Biographie sind ausschließlich dem Thema Liebe und Sex bzw. den nationalen Besonderheiten auf diesem Gebiet gewidmet. Manche werden sie besonders amüsant, andere vielleicht frivol-schockierend finden. „Da war der intelligente Kopf, da war der heiße Pimmel und die heißen Eier, aber dazwischen - eine kalte, defensive Stelle“, heißt es über den amerikanischen Mann. Oder: „Frauen, die mit einem Engländer verheiratet sind, müssen weitaus weniger befürchten, ihn an eine andere Frau zu verlieren als an den Klub oder die Kameraderie des Büros.“ Natürlich kommen auch die „Mythen“ über die besondere sexuelle Kraft des afrikanischen Mannes zur Sprache. Den deutschen Mann freilich hat sie ausgelassen (obwohl sie mit einem verheiratet war).

Übrigens: Als ich diese Autobiographie zu lesen begann, habe ich, wie immer, nach Inhalts- und Personenverzeichnis gesucht. Beides ist nicht vorhanden. Ich dachte schon, ich hätte ein mangelhaftes Rezensionsexemplar erwischt, bis ich mich davon überzeugte, daß auch schon Unter der Haut keines von beiden besaß. Nachlässigkeit des Verlages oder Wunsch der Autorin?


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

zurück zur vorherigen Seite