Rezension

 

Kosmonaut siehe Astronaut

Von Anton bis Zylinder
Das Lexikon für Kinder.

Der Kinderbuchverlag, Berlin 1997, 480 S.

Endlich ist es soweit und unsere Kinder können die ersten Worte selber lesen. In der Regel dauert es dann nicht lange, bis sie ihr erstes Lexikon erhalten. Wenn er oder sie es nicht von Vater oder Mutter bekommen, dann garantiert von einem anderen wohlmeinenden Verwandten oder Bekannten. So ein Lexikon ist zudem ein wirklich nützliches Geschenk, kann doch der muntere Nachwuchs, statt Fragen zu stellen, gefälligst selbst nachschlagen, wenn er etwas nicht weiß. Eigens zu diesem Zweck existieren ja Kinderlexika, und von diesen gibt es auf dem Buchmarkt ein breites Angebot.

Erste und vermutlich einzig mögliche Wahl war in der DDR Von Anton bis Zylinder - Das Lexikon für Kinder. Hier fanden Heranwachsende anschaulich erklärt, wie der Zucker aus der Zuckerrübe gewonnen wird oder wie eine Sendung aus dem Fernsehstudio auf den heimischen Bildschirm kommt. Da keine politische Wende den Wissensdurst von Kindern beeinflußt, bringt „Der Kinderbuchverlag Berlin“ nun eine völlig überarbeitete und erweiterte Fassung des beliebten Nachschlagewerks heraus, mit mehr als 1450 Stichwörtern und über 1000 Fotos und Zeichnungen.

Grund genug für mich, mein zerledertes Exemplar (Redaktionsschluß: 1966) hervorzuholen. Welche Stichworte hatten wohl den Sprung ins vereinte Deutschland und in die Neuauflage geschafft? Schließlich stand unter A nicht nur der namensstiftende „Anton“, sondern auch „Abgeordnete“ und unter W nicht nur „Wiese“, sondern auch solch nette Einträge wie „Westdeutschland“, mit markigen Sätzen wie: „Im westdeutschen Staat ist die Hetze gegen andere Völker und zum Krieg erlaubt und wird sogar gefördert ... Die Kriegsgefahr, die von Westdeutschland ausgeht, ist groß.“

Verwunderlich ist nicht, daß „Volkspolizei“ verschwand, auch wenn wir nun nicht mehr den Schutzpolizisten „bei Tag und Nacht, Wind und Wetter ... auf ihrem Streifengang“ begegnen können, sondern unter „Polizei“ in der Neuausgabe ganz sachlich über Aufgaben und Funktionen der „Polizei“ informiert werden.

Doch was fand nun erneut Aufnahme, und welche Erklärungen änderten sich?

Wie erging es wohl den „mutigen sowjetischen Kosmonauten“ und dem „Atomeisbrecher Lenin“, dem ersten Atomeisbrecher der Welt, der den „Frachtschiffen den Weg durch das Nördliche Eismeer bahnt“?

Würden wir Wilhelm Pieck noch antreffen, den „jungen Tischlergesellen“, der „auch später als Parteiführer und Staatsmann stets sein ganzes Wissen und Können für die Werktätigen“ einsetzte?

Oder stoßen wir vielleicht auf Walter Ulbricht, über den mein Lexikon zu berichten wußte: „Vielen Kindern ist Walter Ulbricht, der Vorsitzende des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik und Erste Sekretär der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, schon begegnet. Er besuchte sie in der Schule, unterhielt sich mit ihnen auf dem Spielplatz, oder sie trafen ihn beim Wintersport im tiefverschneiten Wald. Immer hatte er Zeit für sie, ließ sich erzählen, wie sie leben und was sie lernen.“?

Wilhelm Pieck fehlt in der Neuausgabe, dafür stehen Konrad Adenauer und Helmut Kohl jetzt darin. Walter Ulbricht hat ebenso wie Erich Honecker Aufnahme gefunden. Nur stapft Ulbricht nicht mehr durch den tiefverschneiten Wald und spricht wildfremde kleine Kinder auf Spielplätzen an. Der kindliche Duktus wurde wie bei allen anderen Einträgen zugunsten einer zwar kindgemäßen, aber recht nüchternen Darstellung aufgegeben. Die Texte versuchen, möglichst objektiv zu informieren. Bei der Entideologisierung sind aber auch Formulierungen entstanden, die zu einer neuerlichen Verniedlichung führen, so die Aussage über Walter Ulbricht: „Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wanderte er 1933 aus Deutschland aus und lebte seit 1938 in der Sowjetunion.“

Wenn Einträge verschwanden wie „Atomeisbrecher“ oder „Atom-U-Boot“, und statt dessen etwa „Atommüll“ erläutert wird, ist das sicher nicht nur dem Wechsel der Gesellschaftsordnung geschuldet. Die recht unbefangene Technikbegeisterung, die vor mehr als dreißig Jahren allgemein üblich war, ist einer nachdenklicheren Sicht auf die damit verbundenen Gefahren gewichen. Davon zeugen auch die Texte zu „Umweltschutz“, „Abgase“ und „Abfall“.

Anders verhält es sich mit dem Stichwort „Kosmonaut“. Hier findet sich gar keine Erläuterung mehr, nur noch der Querverweis auf „Astronaut“. Der „bekannteste“ Weltraumflieger ist nun nicht mehr der erste Mensch im Weltall, sondern der erste Mensch auf dem Mond. Sicher kein Zufall, daß der eine Sowjetbürger war und der andere US-Amerikaner ist.

Und wie erging es den „Abgeordneten“: „Zu jeder Volkswahl wählen die Bürger der DDR Abgeordnete. Das sind kluge und verantwortungsbewußte Männer, Frauen und Jugendliche. Sie besitzen das Vertrauen des gesamten Volkes und vertreten seine Interessen ...“ Die Interessen des Volkes vertreten die Abgeordneten angeblich auch 1997, allerdings versteigt sich nun niemand mehr zu der Behauptung, daß sie klug und verantwortungsbewußt wären.

Interessant zu sehen, was dem Eintrag „Arbeit“ passierte. Hier hieß es 1966 u. a.: „Wenn nicht gearbeitet würde, müßten wir hungern, nackt gehen, frieren. Deshalb wird in unserer Republik die Arbeit geachtet ...“ So putzig das auch klingt, andererseits fehlt doch bezeichnenderweise im neuen Lexikon gleich das ganze Stichwort. Obwohl es natürlich der Wirklichkeit entspricht, wenn statt „Arbeit“ jetzt „Arbeitslosigkeit“ erläutert wird.

Wie nimmt nun die Zielgruppe - für Leser ab 9 Jahren - das Buch auf. Hatte das Lexikon neben dem Wechsel der Systeme auch den der Generationen geschafft? Meinem Sohn - mit 9 Jahren exakt im Zielgruppenalter - gefallen beide Exemplare. Politik interessiert ihn bislang herzlich wenig. (Erst kürzlich war es mir gelungen, ihm klarzumachen, daß es doch einen Unterschied zwischen der Berliner Mauer und der Bernauer Stadtmauer gibt.) Ihn stört also auch nicht, wenn jetzt Konrad Adenauer statt Wilhelm Pieck im Lexikon steht. Wichtiger findet er, daß „Internet“ oder „Ozonschicht“ verständlich erklärt werden. Komplizierte Sachverhalte, etwa „ein Gewässer kippt um“ oder „so funktioniert ein Wärmekraftwerk“, sind für ihn vor allem durch die Hilfe von Zeichnungen nachvollziehbar erläutert. Die Fotos und Illustrationen zu Themen wie Autofabrik, Klärwerk, Erdgeschichte oder Luftschichten der Erde beeindrucken ebenso. Alle Länder haben zudem, im Gegensatz zu der früheren Ausgabe, nunmehr einen Eintrag.

Natürlich stößt mein Sohn auch auf völlig andere Versäumnisse beim Nachschlagen: Der Brachiosaurus ist nicht da. Das wäre immerhin noch entschuldbar. „Weil er der größte Dinosaurier ist, hat er vielleicht nicht mehr hereingepaßt. Aber wo sind Archäopteryx und Triceratops?“

Kathrin Chod


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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