Rezension

 

Nach anderen Noten, aber die gleiche Melodie

Landolf Scherzer: Der Zweite

Aufbau-Verlag, Berlin 1997, 270 S.

 

Scherzer (56) ist Publizist, nicht Literat. Sein Geschäft ist nicht Poesie, sondern die Reportage. Aber er hat ein geniales Gespür für aktuelle Stoffe, er hat gute Ideen, wie er an sie herankommt und wie er sie in den formenden Griff bekommt, und zu seinem journalistischen Geschick gehört, daß er damit zur rechten Zeit an die Öffentlichkeit kommt. Das bringt ihm nun zum zweiten Mal nachhaltigen Erfolg.

Das erste Mal geschah es 1988 mit dem Buch Der Erste. Damals hatte er mehrere Wochen protokollierend den Ersten Sekretär der SED-Kreisleitung von Bad Salzungen, Hans-Dieter Fritschler, begleitet, einen Mann, der sich aufopfernd und selbstlos bemühte, in seinem Territorium einen Sozialismus zu verwirklichen, der ein menschliches Gesicht hat und für die Bürger effektiv wird. Dabei stieß Fritschler aber dauernd an seine Grenzen: Sie wurden gezogen von der Parteihierarchie (die Regeln wurden nicht in Bad Salzungen, sondern in der Zentrale, in Berlin, oder im Bezirk, in Suhl, aufgestellt) und von den äußerst begrenzten finanziellen und wirtschaftlichen Ressourcen des damals schon auf schwachen Füßen stehenden Staates. Für diesen Staat kam das Buch vor seinem 40. Jahrestag als Loblied auf den kleinen Parteiarbeiter gerade recht, nur der SED-Chef des Bezirks Suhl, Hans Albrecht, fühlte sich ungünstig porträtiert, ihm war die Innenansicht des SED-Apparates fatal, er kanzelte den Autor ab, er habe den Vorhang vor Parteiinternas zu Unrecht gelüftet, und er leitete die Großteile der für den Bezirk bestimmten Auflage an die NVA um. Für die Öffentlichkeit wurde das Buch ein Ereignis, weil es ein ungeschminktes Bild der Realität vermittelte und ein Stück Hoffnung, daß der Sozialismus mit Menschen wie Fritschler noch eine Chance hätte. Inzwischen ist der Ranghöchste in Bad Salzungen der Landrat. Der erste ist schon gegangen, der zweite heißt Stefan Baldus (CDU), war bis vor kurzem Bundeswehr-Major, insgesamt ein honoriger Mann, aber vom Armee-Feindbild her und auch behufs seines katholischen Glaubens ein bornierter Antikommunist. Nach langem Zögern gibt Baldus dem Drängen Scherzers nach und läßt ihn (beschränkten) Anteil nehmen an seiner Arbeit. Er ist voller Mißtrauen und Argwohn gegen die „Rote Socke“, aber zumindest vierzehn Tage darf der Journalist Baldus begleiten (wenn's brenzlich wird oder wenn sich die CDU intern berät, muß er sich freilich zurückziehen), es gibt ausführliche Gespräche zwischen beiden und ganz offenbar am Ende auch eine gewisse Annäherung. Die Kontakte haben nicht den Umfang wie beim „Ersten“, das gibt dem Autor die Möglichkeit, den Problemen weiter nachzuspüren und selbst zu recherchieren. Das verlangt dem Buch natürlich eine andere Struktur ab. Scherzer fährt im Kreis hin und her, spricht mit Gott und aller Welt, mit denen, die die Kurve zur Marktwirtschaft geschafft haben, mit denen, die auf der Strecke geblieben sind, mit den ganz Gestrandeten am Boden des Lebens, den Obdachlosen, und mit denen, die einfach ihren Schnitt gemacht und am Umbruch verdient haben. Scherzer kennt „seinen“ Kreis, er beobachtet, was aus den Menschen von damals heute geworden ist, er liefert Wende-Lebensläufe im Dutzend, aber er nimmt auch die Westbeamten und Westunternehmer ins Visier. Die Untersuchungen ziehen sich über ein Jahr hin (Dezember 1992 bis Februar 1994), und im Dezember 1996 spürt er nochmals den Ergebnissen des Prozesses nach. Er hat das mit äußerstem Geschick, profunder Sachlichkeit, hoher Authentizität und großem Takt realisiert. Das Mosaik von Einzelaussagen ergibt ein stimmiges und überzeugendes Bild der Wende-Folgen in einem bestimmten Kreis, das aber weit darüber hinaus Gültigkeit hat: Bad Salzungen liegt überall in den neuen Bundesländern. Ist das spannend? Ja, aber die Dramatik ist niemals äußerlich, sie ergibt sich aus dem Stoff.

Ein Landrat, erfahren wir, ist kein Souverän. Infrastruktur und Dienstleistungen sind seine Sache, also Müllabfuhr, Straßenbau, Umweltschutz und Standortpolitik zum Beispiel und Interessenausgleich seine Arbeitsmethode. Nur in seinem Amt ist er König. Dort stützt er sich auf Leihbeamte und Blockflöten, die PDS will er ausbrennen, und wer nur entfernt mit der Stasi ins Gerede kommt, fliegt. Dem Vorwurf, daß er immer mehr Wessis aus dem rabenschwarzen Fulda in das Landratsamt hole und mittels seiner Glaubensbrüder, den Katholiken, aus dem evangelischen Thüringen eine katholische Enklave mache, stellt er sich. Als der Personalrat interveniert, „weil immer mehr Westbeamte hier ihre Karriere nachholen und unsere Fachleute arbeitslos machen. Von Sesselfurzern aus Fulda haben wir genug“, erwidert Baldus: „Aber ohne deren Kompetenz würde hier noch weniger funktionieren, oder wollen Sie behaupten, daß Sie das komplizierte Baurecht der alten Bundesländer schon beherrschen?“ Der Personalrat hält dagegen: „Und weshalb hat man uns das komplizierte, an Bürokratie und Unlogik nicht mehr zu überbietende Baurecht der alten Bundesländer verordnet? Damit wir auch auf die dazugehörigen Beamten der alten Bundesländer angewiesen sind und für lange Zeit von denen abhängig sind. Bevor unsere Leute all diesen Kram beherrschen, sitzen diese Kuckucksvögel schon vollgefressen im Nest.“ Man geigt sich die Meinung, einigt sich aber nicht.

Einem abenteuerlichen Hochstapler aus Amerika, der für seine dubiose Firma 21 Hektar grüne Wiese am Rande des Biosphärengebietes der Rhön billig abstauben will, kann Baldus, den Trickbetrug witternd, seine Unterstützung versagen. Gegen den Ausverkauf des Hartmetallwerks Immelborn aber, das Spezialwerkzeuge allererster Qualität herstellte, die in aller Welt begehrt waren, ist er machtlos. Die Treuhand erteilte einem rheinischen Familienunternehmen mit angeblich gesunder Bilanz den Zuschlag, aber dem Unternehmer mangelte es im Rheinland schon an Geld, und so sucht er in Immelborn nur wegzuschleppen, was er konnte: Maschinen, Autos, Geld, Gebäude, Grundstücke und die Kundenkartei. Baldus bleiben nur die Arbeitslosen. Auch beim Machtspiel der Kalimonopole zur Beseitigung der lästigen Ostkonkurrenz hat er schlechte Karten. Wieder ist es die Treuhand, die die thüringischen Kaliwerke von Merkers und Bischofferode an die hessische Konkurrenz übergibt. Die Thüringer arbeiten rentabler, sie haben größere Lagerkapazitäten und ihr Kali hat den höheren Salzgehalt - trotzdem werden sie von den Hessen stillgelegt, die sich nun besser dem Weltmarkt stellen können. Baldus stellt den sich wehrenden thüringischen Kumpels zwar Fax und Kopiergerät zur Verfügung, aber bei den Hessischen Konzernherren vorstellig werden will er nicht, er weiß, wo seine Macht endet und wie dieser Kampf ausgeht. Er muß dafür sorgen, daß Massenentlassungen nicht zu Unruhen, zu einem politischen Flächenband führen. Das ist seine Aufgabe, anderes kann er nicht ausrichten.

Im Versuch, das ungebremste Walten einer übermächtigen Gesellschaftsordnung in der realen Wirklichkeit seines Landkreises erträglich zu machen, wie in seiner Hilflosigkeit, seinem Ausgeliefertsein, zeigt Baldus Ähnlichkeiten mit Fritschler. Es ist überhaupt beklemmend: Es stehen zwar andere Noten auf dem Papier, aber die Melodie ist die gleiche. Anstelle ideologischer Zwänge herrschen nun die ökonomischen. Es ist alles ganz anders in diesem neuen System, und doch wieder recht ähnlich. Für Fritschler wäre es politischer Selbstmord gewesen, übergeordneten Leitungen zu widerstehen: „Es gibt nun einmal Dinge zwischen Himmel und Erde, die werden so geklärt, wie es auf Bezirksebene beschlossen wurde. Wozu sonst haben wir demokratischen Zentralismus. Wir können da nichts ändern, selbst wenn wir es wollten.“ Baldus dagegen erklärt seine Ohnmacht so: „Das Kapital geht seine fremdbestimmten Wege, und nicht die Wege, die wir gerne hätten. Daran ist nichts zu ändern. Und den Staatssozialismus mit Planwirtschaft wollen wir doch nicht noch einmal?“ Fritschler scheitert an der Parteihierarchie, Baldus an der Macht des Kapitals.

Die Probleme sind jetzt meist ganz andere, aber einige wiederholen sich. Sieben Pfarrer protestieren gegen die geplante Mülleinlagerung in den Kalkgruben an der Werra: „Wollen Sie, Herr Landrat, die Umwelt und die Menschen dem Gewinn der Müllfirmen opfern?“ Baldus empört sich: „Die sollen anständig predigen, anstatt Politik machen zu wollen.“ Er wird darauf hingewiesen, daß die Pfarrer in DDR-Zeiten fast die einzigen gewesen seien, die es gewagt hätten, Umweltproteste zu organisieren. Darauf der Katholik Baldus: „Aber wir leben inzwischen nicht mehr in der DDR. Das müssen nun auch die Pfarrer begreifen.“ Lesen wir die gleiche Geschichte zum zweiten Male?

Am Ende muß auch Baldus abtreten, im Kampf um den Landratsposten unterliegt er, Bad Salzungen wird im Zuge der Kreisreform anderen Kreisen zugeschlagen. Den tiefen Fall von Fritschler jedoch muß er natürlich nicht teilen. Er kann sich ein Haus bauen lassen (noch 1989 fuhr er einen alten klapprigen Käfer, hatte keine müde Mark auf dem Konto und lebte von der Hand in den Mund) und geht in die Wirtschaft, denn: „Ministerpräsident Vogel läßt keinen von uns im Regen stehen.“ Immerhin ist Baldus inzwischen zu neuen Einsichten gekommen: „Ich bin jetzt zu Hause, fühle mich, wenn ich höre, wie die Wessis arrogant über den Osten urteilen und versuchen, die Lebensleistung der Hiesigen zu verunglimpfen, solidarisch mit den Ostdeutschen. Die Westdeutschen leben ihr Leben in Köln und München so weiter wie bisher, so als ob es den Osten gar nicht gibt. Der Osten interessiert sie nicht.“

Wächst so zusammen, was zusammengehört? Unter der Werra-Brücke wohnen Marx (West) und Stander (Ost) gemeinsam. Marx (58) ist aus Gelsenkirchen, war früher Bergmann, ist seit über zehn Jahren obdachlos. Vor zwei Jahren sei er in den Osten gegangen, weil die Leute hier noch was Soziales, vom Sozialismus Übriggebliebenes besäßen: „Sie treten nicht nach dir, wie nach einem tollen Köter.“ Stander widerspricht, nichts sei hier mehr wie früher. Wenn er in der DDR mal auf die Straße geflogen sei, habe er im Rathaus nur drohen müssen: wenn er wohnungslos bleibe, baue er ein Zelt neben der SED-Kreisleitung auf, mit einem Schild dran: „Ich bin obdachlos.“ Dann habe er sofort fünf verschiedene Wohnungen angeboten bekommen. Heute könne er zehn Schilder aufstellen, sich mit Benzin übergießen und ein Feuerzeug in die Hand nehmen, er würde nur Hohn und Spott ernten.

Die Bestandsaufnahme ist beklemmend. Ein Bericht, der mit Vorurteilen zwischen Ost und West aufräumt, wie der Verlag vermeint, ist weiß Gott nicht entstanden und daß er Kommunalpolitik transparent macht, kann ich auch nicht finden. Oder sollte jene Politik-Definition gemeint sein, mit der im Buch ein Sozialdemokrat zitiert wird? „Die Banken, Monopole und Handelsketten aus dem Westen haben im Osten ökonomisch gesiegt“, heißt es dort. „Nun wollen sie diese ökonomische Macht genau wie im Westen in politische Macht ummünzen. Dazu brauchen sie folgsame Erfüllungsgehilfen unter den Abgeordneten und in den Verwaltungen. Und diese Erfüllungsgehilfen, „Politiker“ genannt, müssen, damit es nicht jedem auffällt, daß sie nicht mehr Volkeswille, sondern der Wirtschaft Wille vertreten, die Wahrheit verschleiern und geschickt lügen.“ Daraus könnte man nur schlußfolgern, daß die Befreiung der Politik auch nach der Wende noch auf der Tagesordnung steht.

Aber, daß ein Buch entstanden ist, das, aus den Niederungen des politischen Alltags berichtend, Zusammenhänge verdeutlicht, ein Buch, das ganz Deutschland angeht und das so spannend und unglaublich ist wie die Realität, das nun freilich kann ich nur dick unterstreichen.

Hans-Rainer John


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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