Eine Rezension von Reinhard Mocek

Ich seufze, also bin ich

Salman Rushdie: Des Mauren letzter Seufzer
Aus dem Englischen von Gisela Stege.
Kindler Verlag, München 1996, 582 S.

Die enthusiastischen Rezensionen über dieses Buchereignis der Jahre 1995 (da erschien die englische Ausgabe) und 1996 sind inzwischen sämtlich geschrieben, und es ist keine Frage, daß die von ihnen angezogenen Leser zu ähnlichen Urteilen gelangt sind. Faszination und neugierig machende Irritation zugleich vermittelt die Welt-, Kultur- und Kolonialgeschichte der Familie da Gama-Zogoiby; und etliche Kommentare versuchen bereits, den Sinngehalt dieses historischen Familiengemäldes zu enträtseln. Sie erblicken in ihr eine Persiflage auf die produktiven Schattenseiten des Bösen, die unübertrefflich zeigt, wie der Alltag des real existierenden Manchesterkapitalismus auf den Charakteralltag durchschlägt. Oder aber, gänzlich abgewandt von allem Suchen nach realgesellschaftlichen Vorbildern, man unterlegt der phantastischen Geschichte ein scheinbar absichtsloses, aber gerade in dieser Unabsichtlichkeit um so mehr durchschlagendes Motiv einer rekonstruktiven Magie, nach der Geschichte gerade dadurch, daß sie nichts beweist außer, daß historisch nichts zu beweisen ist, zu einem Projektionsgebiet verborgener Wünsche und Sehnsüchte geworden ist. Diese Sehnsüchte jedoch entbehren sämtlicher edlen Motive des Erziehungsromans, in dessen nachwirkendem Flair zumindest die mittlere und ältere Generation hierzulande noch mit dem Buche umzugehen pflegt. Doch von der guten alten Überzeugung, wonach es vernünftig sei, dem Guten nachzustreben, wie es doch aufklärerische Sittlichkeit verlangen würde, ist die literarische Welt längst weit entfernt. Wenn dieser Literatur in irgendeiner Form noch so etwas wie ein widerspiegelnder, eine Gesellschaft beurteilender Wesenszug zukommen sollte (zugegeben, das ist eine nahezu antiquierte Frage), ist man als Leser geradezu begierig, nach solch sprudelndem Quell historischer Einsicht zu greifen. Doch will Rushdie das? Ein moderner Roman wäre kein solcher, wenn er den Klischees der alten Macharten nicht entweichen könnte. Man lernt nichts mehr auf direktem Wege; doch vergräbt sich ein Romancier wie Rushdie in den Einöden der Belanglosigkeit, des Spieles mit Worten und Gesten, des Deklinierens von Gefühlen, der Erprobung der Reaktionen seiner Heldenkinder angesichts aller möglichen denkbaren Schicksale? Ein verstohlener Blick auf die letzten Worte dieses Romans, dessen 580 Seiten man aber dann noch vor sich hat, zeigt, daß Rushdie zumindest einen großen und höchst realen Traum zu träumen unternommen hat, dem sich alle Ideale der modernen Aufklärungswelt widerstandslos unterordnen - die Augen zu schließen und darauf zu hoffen, „in einer besseren Zeit erfrischt und freudig zu erwachen“.

Oder lieber keine Deutung des Vorhabens, sondern Beschränkung auf die Geschichte selbst? Dekomponieren wir dieses historische Gemälde, treten also nicht drei Schritte zurück, um es in seiner Ganzheit auf uns wirken zu lassen, sondern ergreifen die Lupe und genießen das Detail: die Geschichte der erzählenden Hauptgestalt, eines Wunderwesens namens Moor, das nach nur viereinhalbmonatiger Schwangerschaft geboren wurde, um dann das Leben im Zeitraffertempo zu durcheilen. Doch was wird aus dem Familiengemälde, wenn wir es in lauter kleine Bildausschnitte auflösen, in bedeutungslose, in ihrer Art nichtsdestoweniger interessante Episoden. Das Ganze zerfließt - darf es uns zerfließen? Es gibt wohl kein stärkeres Argument als dieses, um hinter den Kulissen der Familiengeschichte der da Gama-Zogoiby eine andere Botschaft zu suchen; wohlgemerkt, eine Botschaft, keine historisch abgeklärte Einsicht. Unter diesem Blickwinkel wird nun die Geschichte selbst, von deren Unwirklichkeit der Leser trotz des Hinweises auf so manches historische Dokument von vornherein überzeugt ist, auf eine gänzlich andere Weise interessant, soweit man sich nicht darauf beschränken will, sich über Rushdies konstruktives literarisches und Erzählertalent zu amüsieren.

Auf Cabral Island, der bürgerlichen Lebewelt vor der City der indischen Metropole Bombay, steht die Villa der Gewürzhändlerfamilie der da Gamas, ins Land gekommen in mittelalterlicher Zeit; und der Bezug auf den großen Weltensegler und Eroberer Vasco da Gama setzt die Familiengeschichte auf der Seite der Besitzenden, der Oberschicht an. Die Großmutter Epifania gebar ihrer Karikatur von Mann zwei Söhne; Aires der eine, der seine Hochzeitsnacht auf dem Lager seines homosexuellen Gefährten verbringt, der sich späterhin gleichwohl mit der zeitlebens von ihrem Manne unberührten Gattin Carmen zusammenfindet, während Aires, stets begleitet von seinem aus Protest gegen die Kongreßpartei Nehrus Jawaharlal genannten Hund, den er nach dessen Tod ausstopfen und mit vier Rädern versehen ließ, sein Erbteil am Familienbesitz dem sicheren Ruin entgegenführte. Der andere, Camoen, wird nur durch die Kraft seiner Frau Isabelle vor dem gleichen Schicksal bewahrt. Ein Romantiker und politischer Wirrkopf, der eine aberwitzige Geschichte inszeniert, indem er eine Gruppe von Tagelöhnern anwirbt, damit sie Lenin-Texte auswendig lernen und, als Lenin wirklich in Bombay, eingeladen von Camoen, auftaucht, diesen mit ihrem Propagandistengeschrei sogleich in die Flucht schlagen. Ihre Tochter Aurora wird zur Zentralgestalt des Romans, eine alle gewinnende, alles beherrschende Frau; Malerin, Mäzenin, Anlaufpunkt für gestrandete Genies, von denen eines, Vasco Miranda, zum Schicksalsvollstrecker der Familie wird. Selbst die Mordabsicht an ihrer verhaßten Großmutter wird ihr von Salman Rushdie, dessen ironisches Lächeln durch alle Buchseiten hindurch gegenwärtig bleibt, als positive Beigabe zu ihrer Außergewöhnlichkeit konzediert. Diese Aurora nun zimmert den Bund der da Gamas mit einer aus dem andalusischen Benengeli stammenden jüdischen Familie, indem sie den subalternen Angestellten der da Gamas, Abraham Zogoybi, regelrecht in Besitz nimmt. Dieser Abraham rettet die zwischendurch mehrfach gefährdete Firma durch kaufmännisches Geschick und ein Geschäftsgebaren bar jeder Moral, führt sie in die erste Reihe der indischen Unternehmen auch dadurch, daß er sich an diversen dunklen Geschäften beteiligt, darunter den Handel mit Tempeltänzerinnen, die er in eindeutige Etablissements verschachern hilft. Nachdem Aurora ihm drei Töchter geboren hatte, kam endlich der ersehnte Sohn zur Welt, viereinhalb Monate nach dem ehelichen Kontakt mit Abraham, aber genau neun Monate nach einem dreitägigen Aufenthalt Auroras bei Jawaharlal Nehru. Der Mythos im Leben des Sohnens Moraes Zogoiby, nach nur halbzeitiger Schwangerschaft das Licht der Welt erblickt zu haben, setzt sich in einer Art Zeitraffer-Leben des nunmehrig zum Ich-Erzähler avancierten Moreas alias Moor fort, der jedes Jahr für zwei nimmt, mit sieben Jahren als Vierzehnjähiger bei seiner Hauslehrerin die erotische Welt zu erstürmen beginnt, ehe er, angelernt durch den von seiner Mutter zum Krüppel gemachten Portier des Hauses, Lambajan, zum Boxer ausgebildet wird, was ihm, trotz einer verunstalteten rechten Hand, symbolisch und lebensweltlich zum eigentlichen Vollstrecker der Familienbestimmung werden läßt. Doch bald schon verdüstert sich der Himmel endgültig (etliche Verdüsterungen werden vorher glimpflich überstanden, so der blutige Krieg zwischen den beiden Mutterlinien der Familie, der Lobos gegen die Menezis), ein fürchterlicher Brand zerstört die Bombayschen Besitzungen der Familie, Aurora stürzt bei dem von ihr alljährlich als Tanz gegen die Götter definierten Klippentanz zweiundsechzigjährig in den Abgrund. Der mit ihr inzwischen fast gleichaltrige Moor (ich erinnere, seine Jahre zählten doppelt) folgt dem schon erwähnten Vasco Miranda nach Spanien, gelangt in das sagenumwobene Benengeli, um eine Wahrheit über seine Mutter aufzudecken, die in einem ihrer Bilder versteckt sei. Auf unerklärliche Weise zum Gefangenen Mirandas werdend, entdecken er und eine gleichfalls angekettete Restauratorin unter einem übermalten Bild Vascos ein Schlüsselbild der Aurora, worauf jener die Restauratorin erschoß. Ihr Tod „lag auf seinem Porträt meiner Mutter“, resümiert Moor die Geschichte seiner Familie, als der Letzte seiner Sippe, mit sechsunddreißig Jahren inzwischen zweiundsiebzig Jahre alt und müde, aber am Ende seiner Geschichte.

Erschüttert, verwirrt (je nach Temperament), mitfühlend, spöttisch, kopfschüttelnd wird man das Buch beiseitelegen. Vielleicht wird man seufzen, welch Irrgarten von Menschlichkeit! Und die Botschaft? Ja, richtig, der Seufzer! Was hat es damit für eine Bewandtnis? Im Roman ist er dem Munde des Zogoiby-Vorfahren Boabdil entwichen, als dieser, aus dem andalusischen Benengeli vertrieben, vom Schiffe aus auf die Stätten seiner großen Lebenstage zurückblickte. El Zogoiby - der Glücklose: wie ein Nebenmotiv durchzieht dieses historische Mal die Familiengeschichte, die bei allem erlebten Ungemach - kaum einer der Familienangehörigen durchlebt ein normales Leben bis zu einem sanften normalen Tod - doch einen scheinbar unaufhaltsamen geschäftlichen Aufstieg erlebt. Mehrfach taucht diese Erinnerung im Leben der da Gama-Zogoibys auf; und Aurora wie Vasco Miranda gestalten dieses Seufzen in ihren Bildern. Doch es ist mehr als Erinnerung für die Familie, es zwängt sich zwischen die starken Frauen und die schwachen Männer, zwischen Moral und Geschäft. Kraft und List auf der einen, betrügerische Schwäche und Laster auf der anderen Seite. Beides aber wächst auf einem Stamme, und der Seufzer zeigt, wie wach und bewußt dieser Zwist registriert wird. Weil er seufzt, ist der Mensch. In all seiner widersprüchlichen Natur. Nicht auf Gewinn, sondern auf Vergehen angelegt.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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