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Vom Credo des Schreibens

Im Gespräch mit Joachim Walther

Herr Walther, von den bisher beim Ch. Links Verlag erschienenen Publikationen der Wissenschaftlichen Reihe des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der DDR erfreut sich Ihr „Sicherungsbereich Literatur“ der höchsten und nachhaltigsten Aufmerksamkeit. Was sind Ihrer Meinung nach die Gründe für diese breite und außerordentliche Resonanz?

Wahrscheinlich gibt es mehrere Gründe. Aber ich will zwei nennen: der eine ist, daß dieses Buch die erste umfassende Darstellung eines gesellschaftlichen Bereiches in der DDR ist, also in dem Falle der Literatur, das nicht nur einen Teilaspekt oder einen zeitlich eingegrenzten Aspekt untersucht hat, sondern versucht, die 40 Jahre sowohl strukturell, quantitativ als auch qualitativ zu erfassen und darzustellen. Deshalb ist es ja auch so unsäglich dick geworden, weil ich diesen 40 Jahren Gerechtigkeit widerfahren lassen wollte, d. h. alles möglichst in allen Aspekten darzustellen, aber eben auch den gesellschaftlichen Rahmen zu setzen, dem alle unterlagen, und zu zeigen, das war mein eigentliches Anliegen, wie in einem solch repressiven Rahmen doch sehr, sehr unterschiedliche menschliche Verhaltensweisen möglich sind, von affirmativem Verhalten bis hin zum widerständigen, subversiven mit allen Zwischenschattierungen. Der zweite Grund mag sein, daß die Literatur von je her ins Zentrum der Gesellschaft gehört. Das hat einerseits mit der Sprache zu tun, mit der Nationalsprache, Nationaldichtung usw., und zum anderen mit dem Credo des Schreibens. Da kommen wir zur Moral, und da trennen sich dann auch die Geister. Die einen sagen, daß das Schreiben völlig wertfrei und frei von einem Ethos sein müsse. Das meine ich nicht und glaube, dies auch im Buch deutlich gemacht zu haben. Es hat immer diese Strömung gegeben, daß Literatur ein inneres Ethos hat und moralisch auf die Gesellschaft ausstrahlt und einen Auftrag in dieser Richtung verspürt.

In Ihrem Vorwort beschreiben Sie das ja und sagen, daß Sie dies vor allen Dingen bei Diktaturen prononcierter sehen. Aber ist es nicht so, daß die Frage eigentlich immer steht?

Natürlich. Nur in diktatorisch verfaßten Gesellschaften wird die Verantwortung viel größer.

Sowohl als Lektor wie auch als erfolgreicher Autor waren Sie mit dem Literaturbetrieb der DDR engstens vertraut. Insofern ist das, was Sie mit dem Sicherungsbereich Literatur beschreiben, auch miterlebte und miterlittene Geschichte. Was hat Sie jedoch gedrängt, diese Seite der DDR-Wirklichkeit in einer zeitlich enorm aufwendigen Arbeit, die allerdings mehr historisch-dokumentarischen und nicht vorrangig literarischen Charakter hat, darzustellen?

Obwohl ich Sachse bin, habe ich offenbar ein „preußisches Pflichtgefühl“ in mir, also ich fühlte, daß wir in der Pflicht sind, zumal es u.a. auch eine Facette des Berufes des Schriftstellers ist, Chronist zu sein, also Zeitgeschichte zu begleiten, aufzuarbeiten, zu bewerten. Also einerseits dieses Pflichtgefühl. Günter de Bruyn hat in seiner Rede, die er zur Vorstellung des Buches auf der letzten Frankfurter Buchmesse gehalten hat, von einer intellektuellen Pflichtaufgabe gesprochen, also auch da dieses „preußische“ Verständnis. Zum anderen waren es auch Emotionen. Es war nicht nur Kalkül oder Ratio, es waren auch Emotionen, nach der Euphorie der Umbruch- und Wendezeiten eine abgrundtiefe Ent-Täuschung, Verlust einer Illusion, daß ich glaubte, daß nach dem Fortfall der diktatorischen Rahmenbedingungen, die alle betrafen, sowohl die Täter als auch die Opfer, nun eigentlich alle befreit seien von diesem Druck und nun miteinander über ihre verschiedenen Verhaltensweisen sprechen können. Und zwar nicht inquisitorisch anklägerisch, also einer sitzt oben und der andere unten, sondern daß man sich gegenseitig etwas erzählt und daraus möglicherweise etwas lernt. Da das nicht eingetreten ist, sondern das Übliche eintrat, wie es immer so war, nicht nur in Deutschland, aber auch in Deutschland nach 1945: Die Täter mutierten in Windeseile zu Opfern und erzählten Lügen, Legenden, spielten ihren Beitrag herunter, beschuldigten die, die sie eigentlich behindert oder verfolgt haben. Das hat mich geärgert, und da habe ich mir gedacht, wenn es nicht möglich ist zu sprechen, dann muß man wohl einen Schritt zurück gehen - ich empfinde das als einen großen Zeitverlust - und erst mal sichern, was überhaupt gewesen ist, um es dann schwarz auf weiß zu haben, damit jene, die das Gespräch verweigern, sich nicht mehr in die Dunkelzonen zurückziehen können, sondern daß man sagt: Das war Fakt und jetzt laßt uns darüber reden, aber nicht mehr nur über die Fakten, sondern über das, was die Fakten bedeuten.

Ein Schriftsteller schreibt über Schriftsteller, und zwar mit Mitteln der Dokumentation, der Quellendarstellung, der Quellenanalyse und nicht mit den normalen literarischen Mitteln. Wie reagieren die Kollegen darauf? Hat das eine Diskussion ausgelöst? Hat man mit Ihnen gesprochen? Ist der Effekt, den Sie im Auge hatten, eingetreten?

Das ist ein schwieriges und auch schmerzliches Kapitel. Es gab natürlich keine homogenen Reaktionen, aber was die Reaktionen in Ostdeutschland betrifft, bin ich mehr betroffen als entzückt. Es hat bereits im Vorfeld der Veröffentlichung Anwürfe und Anschuldigungen gegeben, die ich als ideologisch bezeichnen muß, was mich erschreckt, da die alten ideologischen Gräben wieder neu aufgebuddelt wurden. Das ging von - auch das ist ein historisches Muster - „Nestbeschmutzer“ bis hin zu „Verräter“. Wobei ich das, was da als Nest bezeichnet wird, nie als Nest empfunden habe, außerdem existiert dieses Nest nicht mehr und es war bereits randvoll mit Unrat. Man kann das Nest nicht beschmutzen, weil es bereits beschmutzt war. Dann bis hin zu Vorwürfen, daß ich in fremdem Auftrag handele, um die DDR-Literatur zu desavouieren. Oder sogar, „um Geschichte auszulöschen“. Das hat mich sehr betroffen gemacht, weil darunter Kollegen waren, mit denen ich zu DDR-Zeiten befreundet war. Aber natürlich läßt sich auch das erklären. Der Druck ist weg, der uns zusammenhielt. Die Gegnerschaft war damals klar polarisiert. Die ist weg, und plötzlich zeigt sich, wie differenziert die Szene war und nur zusammengehalten wurde aufgrund der Solidarität untereinander. Es zeigt sich, daß es da auch generationstypische Unterschiede gab, wie weit man sich auf den Staat DDR und dessen Idee eingelassen hat. Oft war es ja nicht der Staat, sondern oft hingen ja die Kollegen an der Idee des Ganzen, die ja viel tiefer fundiert ist und bis in die Antike zurückgeht, und wollen nun von diesen Illusionen nicht lassen. Da wird es interessant. Und darüber ließe sich auch mit Gewinn streiten und diskutieren, wenn man auf diese langanhaltenden Selbsttäuschungen zu sprechen käme, die dann auch dazu führen, daß man mindestens auf einem Auge blind wird, also beispielsweise die Idee höher stellt als die Praxis oder mit der Idee die Praxis entschuldigt. Das war auch immer ein Mittel der Kommunisten, daß sie diese Heils-Geschichte, die immer weit vorn am Horizont stand: der Kommunismus als die klassenlose Gesellschaft, in der alle antagonistischen Widersprüche aufgehoben seien usw., daß man mit diesem Ziel, was eine alte Menschheitsutopie mißbrauchte, immerzu die Praxis rechtfertigte: daß man da durch müsse, durch dieses „Reich der Notwendigkeit“ käme man dann erst in das sogenannte „Reich der Freiheit“. Das freilich war eine Schimäre.

Sie haben den MfS-Sicherungsbereich Literatur gewissermaßen hautnah, als Opfer miterlebt. Dies macht einerseits sensibel für die menschliche Dimension und ist der Untersuchung förderlich. Andererseits konnte durchaus die Gefahr bestehen, die notwendige Distanz zu verlieren. Standen Sie vor solchen Gefahren, und wie haben Sie diese gemeistert?

Zunächst einmal nehme ich für mich den Begriff Opfer nicht in Anspruch, weil es wirkliche Opfer gegeben hat. Ich gehöre nicht zu den Opfern. Ich bin zwar 20 Jahre von der Staatssicherheit bearbeitet worden, aber gottlob hat das Ermittlungsmaterial nie ausgereicht, mich zu verhaften. Oder es schien den Genossen Tschekisten zweckmäßiger, mich nicht zu verhaften oder mir die Ausreise nahezulegen, weil es nicht ins Konzept paßte. Also insofern bin ich kein Opfer. Es gibt einen operativen Vorgang, aber der ist, nachdem ich nun einen relativ guten Überblick habe, glimpflich verlaufen. Es sind die üblichen Dinge, die mir widerfahren sind: Freundesverrat, Bespitzelung, Behinderung von Texten usw. Einige Texte von mir konnten nicht erscheinen. Die habe ich dann im Westen herausgegeben. Das hat die Staatssicherheit natürlich entsprechend recherchiert und dann so kleine Behinderungen veranlaßt über die Verlage oder über den Funk.
Was nun die Distanz betrifft, ich denke, wenn man etliche Jahre als Schriftsteller gearbeitet hat, dann steht man immer vor dem Problem von Nähe und Distanz. Man bringt sich ja in jeden Stoff ein und muß dann sehen, daß man die Distanz zu den Figuren hält. Da es sich bei diesem Buch sozusagen um eine zeitgeschichtliche Dokumentation handelt, war es natürlich entsprechend einfacher, das Subjektive draußen zu halten und das Ganze zu objektivieren, soweit man das vermag. Dafür gibt es wissenschaftliche Standards. Das war nicht das Hauptproblem dieser Arbeit. Es war ein inneres Problem, meine Emotionen, die mich doch hin und wieder überkamen, wenn ich auf besonders böse Beispiele von perfidem Kollegenverhalten oder auch perfider Methoden der Staatssicherheit gestoßen bin, draußen zu halten. Aber ich denke, es ist mir letztendlich gelungen. Zumindest ist mir das in allen ernstzunehmenden Rezensionen bescheinigt worden, daß dies ein Vorzug dieses Buches sei.

Zu den Vorzügen Ihres Buches gehören der logische Aufbau und die gute Lesbarkeit. Man spürt, hier ging ein Schriftsteller zu Werke. Gewaltig waren die Berge an Akten, die Sie zu bewältigen hatten. Es müssen Hunderttausende von Seiten gewesen sein. Wie haben Sie sich diese Dokumente erschlossen? Welche Vorkenntnisse mußten Sie sich aneignen, und welche Hilfe erfuhren Sie?

Ich hatte für diese Arbeit gute Bedingungen. Den Auftrag hatte ich mir selbst erteilt. Dann habe ich mir die Bedingungen gesucht, wo ich das verwirklichen konnte, und ich hatte Glück, weil ich gleich nach Verkündung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes und der Gründung der sogenannten Gauck-Behörde dort vorstellig geworden bin. Es ist immer gut, in Anfangsstadien zu arbeiten, weil da noch nicht alles formalisiert, bürokratisiert und verrechtlicht ist. Ich hatte also den Zugang von innen, ich hatte einen Werk-Vertrag, hatte aber die Bedingungen eines Mitarbeiters der Behörde, hatte so direkten Zugang zu den Akten, natürlich immer unter Beachtung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes, der Auflagen, die darin gemacht sind. Nur so konnte ich so große Aktenmengen ventilieren. Das war ja bildlich gesehen so, als wenn ein Wal durchs Meer schwimmt und dann diese Meereskleintiere mit seinen Barteln filtert. Natürlich ist sehr viel Redundanz in diesen Akten. Von 30 000 Blatt eines Vorganges sind dann vielleicht nur 1 000 wirklich relevant und des Dokumentierens wert. Außerdem hatte ich über zwei Jahre eine Mitarbeiterin. Ich habe also von seiten der Abteilung Bildung/Forschung die beste Unterstützung gehabt, die man sich denken kann. Die Freiheit der Forschung war gegeben, und die Rahmenbedingungen stimmten. Ich denke, daß es heute gar nicht mehr möglich wäre, solch ein riesiges Projekt in so relativ kurzer Zeit „durchzuziehen“.

Sie haben ja nun sehr dezidiert Quellen nachgewiesen, alles belegt. Wenn ich jetzt, auf bestimmte Vorgänge neugierig gemacht, die Absicht habe, das weiter zu befragen, um vielleicht daraus eine Untersuchung vorzunehmen, kann ich als Nicht-Mitarbeiter alle diese Quellen aufspüren, nachvollziehen, wie bei jeder wissenschaftlichen Arbeit, wo ich mir ja die Quellen nehmen und sie mir im umfassenderen Sinne erschließen kann, als das in so einem Überblick der Fall ist? Ist das möglich?

Ja, das war auch meine Absicht. Deshalb ist der Quellenapparat auch so genau und so umfangreich geworden, um detailliertere Untersuchungen zu Personen oder Institutionen, zu gewissen Vorgängen oder auch zu territorialen Prozessen ermöglichen zu können.

Ihr Buch ist vor allem auch ein Gedenkbuch für die Opfer. Wie haben diese daran mitgewirkt, wie haben sie auf das Erscheinen des Buches reagiert?

Von der Seite gab es, was nicht weiter verwundert, Zustimmung zu diesem Projekt, auch eine Zuarbeit und auch eine Solidarität über die Jahre hinweg und nach Erscheinen auch. Das ist aber, denke ich, nicht unnormal. Das hat mich emotional bei dieser Arbeit gestützt, denn mitunter kam ich auch in leicht depressive Phasen, wenn die Angriffe eskalierten und ich vor diesem Berg saß und merkte, daß ich mit der veranschlagten Zeit - ich hatte ja ein Jahr für mich selbst veranschlagt - auf keinen Fall hinkomme. Es sind dann letztendlich vier Jahre geworden, die ich diesem Gegenstand gewidmet habe. Im nachhinein, denke ich, nicht ohne Gewinn für mich, und ich hoffe, auch für etliche andere.

Wie sind Sie bei einer unklaren Aktenlage verfahren, wenn z. B. nur Berichte des Führungsoffiziers aber nichts Schriftliches von dem IM selbst zu finden war, oder wenn nicht sicher war, ob es überhaupt ein IM war? Das könnte ja zu Fehldeutungen oder Ungerechtigkeiten führen.

Das war einer meiner Grundsätze, mit denen ich angefangen habe, daß auf jeden Fall vermieden werden muß, dem alten Unrecht neues hinzuzufügen, indem man unklare Dinge nicht als unklar kennzeichnet und wertet, ohne entsprechende Belege zu haben. Insofern war meine Methode, genau die Aktenlage darzustellen, wie sie sich zeigt, und wenn keine klaren Kriterien erfüllt sind, das dann auch so darzustellen. Das war auch absolut notwendig, um juristischen Anwürfen vorzubeugen.

Wie ein roter Faden durchzieht Ihr Buch die eingangs von Ihnen aufgestellte programmatische Äußerung, wonach Intellektuelle im allgemeinen und Schriftsteller im besonderen in Zeiten diktatorischer Herrschaftsverhältnisse die Pflicht haben, „sich zu wehren, um wieder frei zu werden“ und somit deren Literatur an ihrer verkündeten und gelebten Moral zu messen ist, der Schriftsteller sich nicht nur auf sein Werk zurückziehen darf.
Für mich gilt dies allerdings zu allen Zeiten, wenngleich nicht bestritten werden kann, daß zu Zeiten der Unfreiheit der Identität von Moral und Werk eine besondere Bedeutung zukommt. Ob und wie dieser Schriftsteller den Verführungen der Macht widerstanden hat, war für Sie ein entscheidendes Kriterium. Besitzt dies für Sie eine Rückwirkung auf die literarischen Werke der vierzigjährigen DDR-Geschichte, und was bleibt von diesen Werken Ihrer Meinung nach übrig? Ich denke da an die Diskussion, „Was bleibt“, die unmittelbar nach der Wende am Werk von Christa Wolf begonnen wurde.

Das ist ein umfangreiches und ein kontrovers diskutiertes Thema nicht erst heute, sondern über die Jahrhunderte hinweg. Das ist ja die Frage, welche Funktion Literatur habe, und dafür hat es verschiedene Modelle, verschiedene Haltungen gegeben. Ich neige allerdings zu einer Begriffsbestimmung von Literatur - der engagierten Literatur, was nicht heißt, der politisierten oder ideologisierten Literatur -, die Sartre ziemlich klar gefaßt hat, daß Literatur einen Auftrag hat, der sich auf die Gesellschaft bezieht und der auch mit Moral zu tun hat, nämlich mit dem Moralgefüge, was in Mitteleuropa spätestens mit der europäischen Aufklärung gewachsen ist. Andere sehen das anders. Andere sagen, daß Person und Werk völlig voneinander getrennt sind, daß auch der amoralische Mensch - und dafür gibt es Belege, die ich auch kenne, und deren Werke ich auch schätze -, daß Amoralität großartige Texte hervorbringen kann, und daß auch der Schriftsteller oder der Künstler das Menschenrecht haben muß, sich zeitweilig zu irren. Auch dafür gibt es haufenweise Belege, daß von diesem zeitweisen politischen oder ideologischen Abirren oder diesen Irrtümern deren Literatur ziemlich unbeschädigt geblieben ist. Ich nenne nur Gottfried Benn. Insofern habe ich zwar meine Haltung wiedergegeben, aber habe nicht beansprucht, daß dies die allein selig machende sei, sondern daß das eine Frage ist, die wahrscheinlich immer offen bleiben wird, wo Menschen unterschiedliche Positionen beziehen. Was ja auch in Ordnung ist, da die Pluralität der Meinungen gewahrt bleibt. Ich wollte nicht entscheiden, was bleibt. Ich halte das auch für eine sekundäre Frage. Was bleibt, wird nicht von den Menschen bestimmt, sondern von der Zeit. Ich habe dazu im Vorwort geschrieben, daß für mich nicht entscheidend ist, was bleibt, sondern was kommt. Was kommt, wenn wir uns ähnlich verhalten wie die Deutschen nach 1945? Was kommt, wenn wir nicht in der Lage sind, aus der Geschichte wenigstens ein paar Dinge zu lernen oder ein paar Kriterien für das eigene Verhalten zu finden nach zwei Diktaturen in Deutschland in diesem Jahrhundert. Soll sich Geschichte wirklich auf diese dumme Weise ständig wiederholen? Sollen wir immer wieder durch die gleichen unproduktiven Irrtümer und Verdrängungen hindurch, oder können wir es wirklich einmal besser machen, einmal wenigstens? Das sind für mich entscheidende Fragen.

Ihr Buch „lebt“ davon, daß es Täter und Opfer konkret benennt. Quelle sind die Dokumente des MfS. Ganz abgesehen davon, daß die Quellenlage von der Quantität und Qualität her unterschiedlich ist, blieb bei Grenzfällen die Entscheidung bei Ihnen, den Klarnamen eines IM zu benennen. Wie haben Sie im Zweifelsfalle entschieden? Was waren Ihre Kriterien?

Das war bereits im Vorfeld eine grundsätzliche Entscheidung. Bevor man so etwas macht, muß man sich über ein paar Grundsätze klar sein, weil das hochbrisant ist und, wie schon gesagt, neues Unrecht schaffen kann, wenn man unsensibel damit umgeht. Ein Grundsatz war, daß ich mir nicht anmaßen darf, selbst zu bestimmen, wer genannt wird und wer nicht. Ich hätte mich selbst in eine halbgottähnliche Position gebracht: sitzend zur Rechten Gottes beim Jüngsten Gericht ... Ich habe für mich entschieden, daß ich alles nenne, aber alles so, wie es sich aus den Akten darstellt, und das nicht bewerte. Im übrigen ging es in diesem Buch nicht um Anklage, um Vorführen, um Ermittlungen, sondern es ging um die Beschreibung dessen, was gewesen ist, mit allen differenzierten menschlichen Verhalten, was es gegeben hat. Der Sinn des Ganzen ist eine Analyse des Gewesenen, und natürlich steckt darin auch eine moralische Bewertung, aber keine juristische. Das Material wird nicht aufbereitet, um jemanden anzuklagen oder vor Gericht zu bringen. Insofern habe ich mich dieser Entscheidung gar nicht ausgeliefert, denn die wäre nicht durchzuhalten gewesen, wenn ich jeden einzelnen Fall geprüft hätte und vielleicht nach Sympathie und Antipathie, Bekanntheitsgrad oder Freundschaftsgrad entschieden hätte. Da wäre ich in furchtbare Verwicklungen gekommen, und das wäre ungerecht und selbstgerecht geworden.

Durch Christoph Links wurde mir anläßlich der Messe in Leipzig bekannt, daß es von jemand eine Klage gab, der erreichen wollte, daß untersagt werden sollte, daß sein Name in diesem Zusammenhang genannt wird. Das würde ja bedeuten, wenn derjenige durchkommt mit diesem Antrag, daß wir uns wieder auf einem Grenzpfad bewegen, wie weit kann man bei der Darstellung solcher Sachverhalte gehen, ohne Gefahr zu laufen, daß ein Buch verboten wird?

Zunächst ist es erfreulich und spricht für das Buch, daß, obwohl Hunderte von Namen genannt sind, bisher nur ein Gerichtstermin stattgefunden hat. Also nur ein im Buch Genannter hat geklagt. Er wollte die Klage. Denn wir hatten ihm auch angeboten, das außergerichtlich zu klären, d. h. uns zusammenzusetzen, seine Sicht der Dinge anzuhören, noch mal nachzusehen, ob inzwischen ein neuer Quellenstand gegeben ist, und uns dann zu einigen. Das wurde abgelehnt, es ging auf einen Musterprozeß hinaus. Der Rechtsanwalt des Germanisten, der da klagte, wollte das Grundsatzurteil, daß künftig IMs mit Klarnamen nicht mehr genannt werden dürfen, und zwar, was ziemlich schwerwiegend ist, in der Forschung als auch in den Medien. Dieser Prozeß hat inzwischen stattgefunden, und der Richter hat für die Klageerheber entschieden. Das Urteil beinhaltet einen sehr liquiden Begriff, daß, wenn die IM-Tätigkeit als „geringfügig“ zu bewerten sei, der Klarname künftig weggelassen werden müsse.

Wer bewertet das?

Das ist die Frage, was „geringfügig“ ist. Der Germanist führt ins Feld, daß seine Tätigkeit geringfügig gewesen sei. Das wird aber im Buch auch so dargestellt. Er steht in einem Kapitel unter der Kapitelüberschrift „Dekonspiration“. Das sind Leute, die aus eigener Kraft ausgestiegen sind, nicht etwa ausgemustert worden sind, weil sie nichts mehr geliefert haben, also ineffektiv für das Ministerium waren. Er war also jemand, der bewußt, aktiv, aus eigenem Entschluß ausgestiegen ist. Das ehrte ihn. Das steht auch so im Buch. Nun ist dieses Urteil von seiten des Verlages, von seiten der Gauck-Behörde und von mir so nicht hingenommen worden, und wir sind in Berufung gegangen. Wir werden sehen, wie in nächster Instanz entschieden wird. Ich hoffe darauf, daß dort ein Richter sitzt, der den größeren Zusammenhang sieht und was solch ein Urteil für die zeitgeschichtliche Forschung bedeutet.

Das hätte ja die Konsequenz, das Buch dürfte nicht weiterverbreitet werden. Oder ist das so weit nicht gegangen?

Doch, doch. Aber das Urteil ist nicht rechtskräftig, weil die Berufungsverhandlung noch aussteht. Aber wenn es in nächster Instanz entschieden würde, hieße das, daß die erste Auflage nur noch in revidierter zweiter erscheinen könnte und daß damit zu rechnen ist, daß etliche ehemalige Inoffizielle Mitarbeiter diesen Anspruch der Geringfügigkeit für sich in Anspruch nehmen möchten und den möglicherweise vor Gericht durchsetzen und sich bestätigen lassen wollen.

Herr Walther, Ihr Buch ist eine Dokumentation. Eine Sammlung von Dokumenten der Stasi. Einerseits authentische Beschreibungen von Personen und damit verknüpfter Ereignisse, andererseits Beschreibungen aus einer ganz bestimmten Sicht, d. h., die Urteile der hauptamtlichen Mitarbeiter des MfS bestimmen unser Bild von den involvierten Schriftstellern. Reichen diese Sichten in jedem Fall aus, ein Urteil über jeden der dort Aufgeführten zu fällen? Sie haben mehrfach betont, daß die Verstrickung von Schriftstellern mit der Stasi aus den unterschiedlichsten Motiven gespeist wurden: von solchen der Utopiegläubigkeit und ideologischen Überzeugung über Angst und Erpressung bis hin zum Karrieredenken und Denunziantentum. Insofern können die Dokumente der Stasi - zudem bei ihrer Lückenhaftigkeit - einer differenzierten Beurteilung über die Dokumentensituation hinaus nicht allzu dienlich sein. Zu bedenken ist, daß nur solche Quellen der Stasi übriggeblieben sind, die diese nicht mehr vernichten wollte oder konnte. Dahinter steckt ja vielleicht auch ein Konzept. Schränkt dies nicht die Objektivität der Betrachtung in einzelnen Fällen ein?

Ich habe diese Problematik nicht außen vor gelassen. Ich habe nicht behauptet, daß mit der Verschriftung durch das MfS ein Gesamtblick auf eine Person, einen Menschen, einen Kollegen möglich sei, sondern ich habe in aller Bescheidenheit angemerkt, daß hier ein Kontext zu einem Werk geliefert wird, der bisher unbekannt, da unter höchster Geheimhaltungsstufe und unter höchster Konspiration gehütet, nun zugänglich, eben nur eine Teilsicht und einen Teil des Gesamtkontextes darstellt. Ich habe weder Monographien über Personen noch habe ich eine Literaturgeschichte der DDR geschrieben, sondern ich habe einen Teil, und ich denke, einen wichtigen Teil, dazugeliefert, der berücksichtigt werden sollte, wenn künftig über einzelne Werke, über einzelne Schriftsteller oder die DDR-Literatur insgesamt geschrieben wird. Nicht weniger, aber auch nicht mehr habe ich damit gewollt. Und was die Sicht der Staatssicherheit betrifft, auch das ist ja interessant: Es gibt dazu in der jetzigen Auseinandersetzung sehr kontroverse Meinungen. Die einen, die die Aussagekraft der Akten insgesamt anzweifeln und als eine völlig verzerrte Sicht auf die Gesellschaft und die Menschen werten, und andererseits eine Haltung, zu der ich neige, und ich denke, auch begründet neigen darf. Die Hauptspeise eines Geheimdienstes, und zwar jedes Geheimdienstes auf der Welt, ist die Information. Und es macht keinen Sinn, wenn ein Geheimdienst falsche Informationen sammelt, um auf der Basis von falschen Informationen Aktionen zu starten oder Dinge zu analysieren und Lagen einzuschätzen. Insofern hat die Staatssicherheit, auch das ist belegt, getan, was in der Wissenschaft zum Grundhandwerkszeug gehört, nämlich Quellenkritik. Die Staatssicherheit hatte ein eigenes inneres System geschaffen, um Informationen auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Und die Staatssicherheit war ja, in den 70er und 80er Jahren zumal, nicht mehr dieses primitive stalinistische Instrument, was lediglich Feinde ortete, ergriff und liquidierte, wie das im schönsten Stalinschen Duktus hieß, sondern es wurde immer mehr zu einem intelligenten, modernen Repressionsapparat, was damit zu tun hatte, daß die Außenbedingungen sich veränderten, daß die direkte Repression abgelöst wurde durch das Lautlose. D. h., es kam immer mehr zur Verwissenschaftlichung, auch zur Psychologisierung des Apparates. In all den Forschungen der Staatssicherheit, also in Diplomarbeiten, Dissertationen und Lehrmaterialien, die in Potsdam-Eiche geschrieben worden sind, die man auch nachlesen kann, ging es immer wieder darum, wie man den Wert der Informationen erhöht. Es ging also nicht darum, daß man Dinge sammelt, die der Führung gefielen, sondern daß immer überprüft worden, also Quellenkritik betrieben worden ist. Und natürlich war die Gefahr der subjektiven Färbung auf der untersten Ebene der Informationsgewinnung am größten, d. h. wo Menschen direkt Menschen beurteilten, also der Spitzel den Bespitzelten, und dann Emotionen einflossen von Sympathie und Antipathie. Der Spitzel hatte es in seiner Macht, Menschen partiell zu schützen oder aber auszuliefern. Und je nachdem konnte er eins drauf setzen oder etwas zurückhalten. Das war die Macht des Einzelnen, und das war zugleich die Gefahr für das subjektive Einfärben solcher Berichte. Aber diese unterste Informationsgewinnungsebene wurde immer mehr verdichtet und objektiviert, d. h. im Zweifelsfall wurden zur gleichen Person oder zum gleichen Sachverhalt mehrere Spitzel angesetzt, um zu vergleichen und aus diesem Vergleich sich der Wahrheit zu nähern, und dann wurden die Informationen strukturell immer auf eine höhere Ebene gehoben und jedesmal überprüft und verdichtet, bis sie dann letztendlich in hochverdichteter Form als Entscheidungshilfen oder als Informationsmaterial an die Parteiführung gingen.

Die Dokumente des MfS belegen, im Zusammenhang erschlossen, zugleich auch etwas, was sicher nicht im Sinne der Auftraggeber von damals war: Bei nicht wenigen angezapften oder verpflichteten Quellen wuchs der Zweifel am Komplott, die Solidarität mit den Opfern, Zivilcourage, Widerstand - erst gegen die Bevormundung, dann gegen das System. Wäre hier nicht noch mehr aufzudecken?

Das war das eigentlich Schöne an dieser Arbeit, was mich zeitweise sogar fröhlich gemacht hat, solche Dinge zu erkennen. Daß solch ein System, was mit solch einem repressiven Aufwand am Leben erhalten wird, nicht nur mit einem Aufwand an Gewalt, an offener und verdeckter, auch mit einem verbalen Aufwand, daß solch ein System nicht überlebensfähig ist, also in der Substanz das Scheitern schon mit programmiert hat. Das läßt sich ablesen an verschiedenen Lebensläufen, beispielsweise, daß Leute sich einließen auf die Verheißung, auf das Programm, und meinten, aus politisch-ideologischer Überzeugung sich auch auf diese Praxis einlassen zu müssen, daß es notwendig sei usw., die aber dann durch die Praxis selbst darauf kamen, daß diese Gesellschaft gar nicht mehr auf dem Weg des ständig propagierten Zieles war, in Zweifel gerieten und Abstand nahmen. Oder selbst solche wunderbar tragikomischen Vorgänge, daß jemand auf eine Person oder Personengruppe angesetzt war und dann, wenn er diese Menschen näher kennenlernte, von deren Argumenten überzeugt wurde, daß er auf der falschen Seite stand. Die Tochter von Paul Wiens, Maja Wiens, die im Auftrag der Stasi auch mit den westdeutschen Grünen und der Friedensbewegung zu tun hatte, und die dann offenbar von deren Haltung so beeindruckt war, daß sie ausgestiegen ist. An solchen Menschengeschichten läßt sich auch Zeitgeschichte ablesen, der Niedergang einer Gesellschaft, die Erosion der Werte, der verlogenen, nur plakatierten Ideale, wie das immer transparenter wird, und wie sich das auch in Menschenschicksalen zeigt. Das gehörte zu den erfreulichen Seiten.

Ich glaube, solche Prozesse gab es auch innerhalb der Staatssicherheit selbst, bei bestimmten Leuten, die intelligent waren und kritisch bestimmte Sachen verfolgt haben. Wobei hier natürlich die Möglichkeiten der Äußerung nur ganz gering waren. Haben Sie das bei der Aktenlage auch feststellen können?

Ja, ich habe im Teil über die Hauptamtlichen einige Beispiele für Erosion auch innerhalb des Bewußtseins der MfS-Angehörigen, obwohl sie sich als Elite und als Leute, die über einen unverrückbaren Klassenstandpunkt verfügen, definiert haben. Aber auch da hat es Entwicklungen und Differenzierungen gegeben parallel zur Methoden-Modifikation der 70er und 80er Jahre. Und es gab Spannungen innerhalb der Staatssicherheit über die Aufgaben dieser Geheimpolizei nach Innen und des Geheimdienstes nach Außen, was ja auch personell ablesbar war. An der Spitze stand seit dem Ende der 50er Jahre das alte Schlachtroß Erich Mielke, der direkt durch den Stalinismus geprägt war und in seinem Inneren und auch in seinen nicht öffentlichen Äußerungen sich als Stalinist bis zuletzt erwiesen hat, d. h. das war seine Grundhaltung, das war sein Leben. Dieses alte Schlachtroß Mielke stand in einem gewissen Gegensatz zu einem herangewachsenen, jüngeren, intelligenteren, gebildeteren Offizierskorps, das nicht etwa diese Gesellschaft beseitigen wollte, sondern es ging ihnen um das Aufrechterhalten dieser Gesellschaft bzw. um das Umsetzen des Sicherheitsauftrages, den die Partei diesem Apparat erteilt hatte, nur eben mit moderneren, intelligenteren, geschmeidigeren Formen.
Interessant ist, daß es im Sicherheitsdienst der NSDAP so etwas ähnliches gegeben hat. Die haben ja Stimmungsberichte an die damalige Reichsführung gegeben, und interessanterweise hat es einen Stimmungsumschwung des Siegeswillens und der Siegeszuversicht innerhalb der deutschen Bevölkerung nach der Schlacht bei Stalingrad gegeben. Und nun passierte, was nicht selten ist in der Geschichte: Die Führung wies die Berichte zurück und verlangte schönere Berichte. Ein ähnliches Phänomen habe ich in den Akten gesehen. Die Staatssicherheit hat Ende der 80er Jahre über die malade ökonomische Situation sehr genau informiert, über die Höhe der Staatsverschuldung, die Situation in den Betrieben, die sinkende Arbeitsproduktivität usw., alles sehr faktisch belegt. Da diese hochverdichteten Berichte erst über den Tisch von Erich Mielke gingen, schrieb der auf solche realistischen Bestandsbeschreibungen mit kurzer Hand darauf: „Geht so nicht raus!“ D.h. diese Informationen wurden der Führung nicht mehr zugemutet, weil man mit Verärgerung und Zurückweisungen rechnete: also Realitätsverlust, Realitätsausblendungen, Realitätsverleugnungen im letzten Stadium, ein krankhafter Prozeß.

Wie haben denn eigentlich westdeutsche Leser reagiert? Wir kennen ja die Diskussion um die kritische Beleuchtung der Geschichte der DDR, daß die Westdeutschen oft, weil sie eben eine andere Erfahrung haben, ein anderes Leben in den letzten 40 Jahren gelebt haben, bestimmte Dinge gar nicht nachvollziehen können. Man kann ja nicht selten erleben, daß ein westdeutscher Schriftsteller oder Intellektueller dann einfach schlichtweg sagt: er wäre nie von denen verführt worden. Also, wenn dann sozusagen beckmesserisch geurteilt wird, was hätte man selbst getan, wenn man in dieser Situation gewesen wäre, was zum Glück für diejenigen ja nicht auf dem Prüfstand der Geschichte steht. Gibt es da unterschiedliche Resonanzen oder sind die Reaktionen auf das Buch gleichermaßen in Ost- und Westdeutschland?

Nein, natürlich nicht. Es hat immer einen Großteil der westdeutschen „Urbevölkerung“ gegeben, der mit dem Rücken zum Osten gelebt hat, was aber nicht weiter verwunderlich ist, denn besonders attraktiv war der nicht, man lebte nach Westen, war atlantisch und nicht osteuropäisch geprägt. Darüber hinaus hat es eine ganze Reihe von Intellektuellen oder politisch interessierten Menschen in der alten Bundesrepublik gegeben, in deren Optik durchaus der Osten und auch das, was da ideologisch passierte und programmatisch passieren sollte, lag. Es hat im Westen eine Linke gegeben, die sich damit auseinandergesetzt hat. Die haben das Buch schon gelesen, aber auch da hat es Verwerfungen gegeben bzw. sind noch ein paar Dinge offen. Zum einen gab es die Haltung, die Sie erwähnten, daß Westdeutsche sagten: Das betrifft uns nicht, wir hätten uns in einer ähnlichen Situation anders, nämlich besser verhalten, wir wären den Verführungen nicht erlegen. Es hat aber auch eine ganz andere Haltung gegeben, die mich geärgert hat, nämlich diese beleidigende Unterwerfungshaltung von westdeutscher Seite, die dann so lautete: Wenn ich unter diesen Bedingungen gelebt hätte, dann wäre ich bestimmt auch ein Inoffizieller Mitarbeiter gewesen. Das ist ein Angebot zur Verbrüderung, aber auf einer Ebene, auf der ich mich nicht verbrüdern möchte, d. h., eine amoralische Haltung zum Normalstand zu erklären bzw. moralische Kriterien zu nivellieren. Hinzu kommt, daß 20 000-40 000 Bundesbürger dem Ministerium für Staatssicherheit zu Diensten waren. Ich bin permanent auf Spuren gestoßen. Natürlich saßen Stasi-Mitarbeiter oder Informanten, sogenannte Quellen, überall, auch im westdeutschen Kultur- und Literaturbetrieb, also in Verlagen, in Zeitungsredaktionen, nur sind eben diese Vorgänge von der HVA geführt worden, also von der Markus-Wolf-Truppe, und diese Akten sind mit Genehmigung des „Runden Tisches“ nahezu vollständig vernichtet worden.
Es gibt verschiedene Mutmaßungen. Es sind in den wirren Wendezeiten offensichtlich Informationen noch gesichert worden, aber wo die sich befinden, ist nicht so ganz klar. Das bleibt eine offene Frage, und die müßte auch geklärt werden, damit jetzt im neuen Deutschland zumindest annäherungsweise Gerechtigkeit versucht wird und das Moralisch-Verwerfliche nicht nur auf den Osten projiziert und dort festgemacht wird, und die ehemaligen DDR-Bürger nun allein als die Korrumpierten dastehen. Ich halte dagegen, daß eine Mitarbeit im Ministerium für Staatssicherheit außerhalb des repressiven DDR-Rahmens viel verwerflicher war. Das Ministerium für Staatssicherheit war sehr knauserig, was die Bezahlung im Osten betraf, sehr freigebig dagegen im Westen, d. h. im Westen wurde kassiert, und nicht wenig.

In Ihrer Einleitung verbinden Sie mit der Offenlegung der Akten die Hoffnung, daß man daraus, „so man es möchte und vermag, für die Zukunft lernen“ könnte. Das ist sehr pessimistisch ausgedrückt. Fühlen Sie sich nach den bisher vorliegenden Reaktionen optimistischer in bezug auf die Lernfähigkeit der Menschen?

Der Menschen im allgemeinen sowieso nicht. Es ist immer nur ein Teil einer Gesellschaft, der offen ist, der wach ist, der bereit ist, überhaupt solche Fragen an sich heranzulassen und diese Fragen zu ventilieren. Das ist eine Minderheit, das war eine Minderheit und wird eine Minderheit bleiben. Das kann man pessimistisch nennen, ich würde es eher realistisch nennen. Alles andere wäre eine neue Illusion: anzunehmen, daß die Menschheit durch solche historischen Erfahrungen eine andere geworden wäre. Es zeigt sich ja auch in der Darstellung von menschlichen Verhaltensweisen, daß sich diese im Laufe der Jahrhunderte grundsätzlich nicht geändert haben, daß jeweils nur die politische Couleur wechselt, daß sich aber die Grundfragen menschlicher Existenz eigentlich immer gleich bleiben. Also die Frage Geist-Macht stand ja in der DDR nicht zum ersten Mal. Was DDR-Mitmenschen zum Vorwurf gemacht werden könnte, ist, daß sie das nicht erkannt haben, daß es dafür historische Muster, ja 'zig Verhaltensmodelle gegeben hat. Ich habe Ende der 70er Jahre einen Roman geschrieben, dessen Handlung im Feudalabsolutismus angelegt ist: Bewerbung bei Hofe. Das war ein Modell, um aufzuzeigen, daß die Zumutungen, Verführungen und Pressionen für einen Intellektuellen, für einen Schriftsteller, vor 200 Jahren denen vergleichbar waren, denen wir ausgesetzt waren, d. h. es ging um eine Historisierung, aber eben nicht um Geschichtsillustration, sondern um die vergleichbare, modellhafte Situation, in der die immer gleichen Grundfragen gestellt werden. Das sind Fragen der individuellen Moral und der Individualverantwortlichkeit. Es geht nicht darum, irgendwelche Gebote von außen zu setzen, sondern es geht um das innere, nicht um das äußere Gesetz. Oder, wie es Immanuel Kant formuliert hat: das moralische Gesetz in mir und der bestirnte Himmel über mir - das ist es. Und das ist zu allen Zeiten immer das gleiche, wie auch die Gesellschaft sich einfärben möge, welche Verfassung sie sich gibt oder den Menschen auferlegt, das ist und bleibt so.

Herr Walther, was sind Ihre nächsten Pläne als Schriftsteller? Oder wollen Sie sich diesem Thema jetzt als Chronist noch einmal widmen?
Würden Sie aus heutiger Sicht dieses Buch noch einmal schreiben? Wenn Sie dies täten, würden Sie es heute anders machen?

Ja, ich würde es wieder machen und aus gleichen Gründen, aus dem Pflichtgefühl der Geschichte und der Zukunft gegenüber, auch mit den gleichen Kriterien, die ich mir auferlegt habe. Sicherlich weiß ich jetzt mehr und würde andere Fragen stellen. Aber prinzipiell würde ich es noch einmal so machen wollen. Ich stehe dazu und habe auch nichts zu bereuen. Obwohl es mich viel Zeit gekostet hat, war es doch ein Gewinn. Gleichwohl war es eine Nebenstrecke des Schriftstellerischen, und ich will unbedingt wieder von dem dokumentarischen in den fiktionalen Bereich zurück. Das ist nicht so leicht, weil vier Jahre natürlich auch prägen und dieses begriffliche Fokussieren natürlich etwas ganz anderes ist als das milde Streulicht der Prosa oder Poesie - das Arbeiten mit Bildern, nicht mit Begriffen. Insofern arbeite ich noch an meiner eigenen Reliterarisierung. Aber wie es eben so ist, als Freiberufler muß man sich aufgrund der neuen Marktbedingungen das, was man gerne schreiben möchte oder was man schreiben muß, selbst finanzieren. Insofern bleibe ich dieses schriftstellerische Doppelwesen auf zwei Flugrouten: einerseits das zeithistorische gebundene Dokumentarische und andererseits das freischwebende Fiktionale. Ich sehe darin jedoch keinen Gegensatz: Vögel haben auch zwei Flügel.

Das Gespräch führten
Christine Büning und Hans-Jürgen Mende


Joachim Walter:
Sicherungsbereich Literatur
Ch. Links Verlag, Berlin 1996, 888 S.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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