Eine Annotation von Gudrun Schmidt
Burmeister, Brigitte:
Herbstfeste
Erzählungen.
Klett-Cotta, Stuttgart 1995, 159 S.

Mit ihrem 1994 erschienenen Roman Unter dem Namen Norma erregte Brigitte Burmeister Aufsehen. Die Lebensgeschichte einer jungen Frau, ihr Versuch, im neuen Deutschland anzukommen, wurde gelegentlich als „Roman der deutschen Vereinigung“ apostrophiert. In Herbstfeste begibt sich die Autorin wieder auf Spurensuche in jüngste deutsche Geschichte.

Sieben Erzählungen, in den Jahren vor und nach der Wende entstanden, sind in diesen Band aufgenommen. Schade, daß eine exakte Jahresangabe fehlt. Brigitte Burmeister, Jahrgang 1940, promovierte Literaturwissenschaftlerin, arbeitete 16 Jahre an der Akademie der Wissenschaften, bevor sie 1983 das Schreiben zum Beruf machte. „Die frühen Wege schrumpfen, wenn man sie wieder geht“... Behutsam versucht sie Erinnerungen wach zu halten, um jenem „unverdauten Klumpen Geschichte“, den wir in uns tragen, mit Geschichten beizukommen. Sie erzählt von alltäglichen Situationen - dem Leben in einem Mietshaus im Schatten der Mauer, den Anfängen der Ökologiebewegung, der Arbeit. Beklemmend die Schilderung eines Grenzübertritts am Bahnhof Friedrichstraße. Mit feiner Ironie und Distanz berichtet die Autorin in „Unterkunft in schöner Umgebung“ von einem sozialistischen Forschungskollektiv, in dem alles zum besten stand und wo Erfolg zur Pflicht gehörte. Nur diese pure Zukunftsgläubigkeit macht blind vor individuellen und gesellschaftlichen Konflikten. Zwischen Zukunftshoffnung und Endzeitstimmung - in dieser Balance ist „Herbstfest“, die Titelgeschichte, angelegt. Im Mittelpunkt steht Fabian, der Sonderling und einstige Aktivist der Ökobewegung, dessen leise Stimme im Festgetöse heute niemand mehr hören will. Eine Parabel, die zum Umdenken mahnt, das zerstörte Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur wieder in Ordnung zu bringen, damit die Erde für künftige Generationen bewohnbar bleibt. Und da ist im „Abendspaziergang“ wieder wie in „Norma“ jenes Mietshaus in Berlins Mitte, der einstigen Schnittstelle zwischen Ost und West. Indem die Ich-Erzählerin in der „Zeit, in der alles anders wurde“, ihr altes Viertel aufsucht, eigene Erinnerungen befragt und den Lebenswegen ihrer ehemaligen hochbetagten Nachbarinnen nachgeht, wird zugleich deutsche Geschichte in diesem Jahrhundert mit all ihren Verschränkungen und Brüchen erhellt.

Brigitte Burmeisters Geschichten erschließen sich nicht unmittelbar, oft nehmen sie überraschende Wendungen oder sind traumhaft überhöht. In allen erweist sie sich als eine sensible und kritische Beobachterin der Wirklichkeit. Eine wahrhaftige Zeitzeugin.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 05/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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