Wiedergelesen von Günter Wirth

Johannes Bobrowski: Levins Mühle

Union Verlag, Berlin 1964. 295 S.

Am 9. April 1997 würde Johannes Bobrowski seinen 80. Geburtstag begehen können. Nun ist ja heute ein 80. Geburtstag kein ungewöhnlicher Ehrentag mehr. Doch im Falle Bobrowskis gibt er genügend Anlaß zum Nachdenken und Gedenken. Schon vor mehr als 31 Jahren ist der Schriftsteller im Alter von 48 Jahren verstorben, am 2. September 1965. Fügt man diesen nackten Daten einige andere hinzu, wird das menschliche und schriftstellerische Schicksal Bobrowskis noch dramatischer: Vom Abitur (1937) weg mußte er zum Arbeitsdienst, von dort unmittelbar anschließend für zwei Jahre zum Militär. Da inzwischen der Zweite Weltkrieg ausgebrochen war, mußte er dann auch (von einem Urlaubssemester an der Berliner Universität abgesehen) Soldat bleiben. Schließlich geriet der Stabsgefreite 1945 in sowjetische Kriegsgefangenschaft und kam erst kurz vor Weihnachten 1949 nach Hause, und das hieß für den im Ostpreußischen Aufgewachsenen seit 1937/38 Berlin-Friedrichshagen. Bilanz: Zwölf Jahre von 48 Jahren war er so oder so „bei der Truppe“.

In den fünfziger Jahren - Bobrowski ist inzwischen Lektor in Ostberlin - gibt es hin und wieder in Peter Huchels „Sinn und Form“ oder in Heinz Flügels (protestantischem) „Eckart“ Einzelveröffentlichungen, vor allem von Gedichten, und in der Tat spricht sich herum, daß in Ostberlin (ein Geheimtip!) ein Schriftsteller, noch dazu „ein christlicher“, am Werke sei, von dem man hören und über den man reden werde. Der, von dem damals so gekündet wurde, glaubte hieran selber nicht so recht - im Gegenteil: „Vor nicht langer Zeit“, schrieb er am 30. Oktober 1958 an Heinz Flügel, „hab ich Ihnen versprochen, mich in Geduld zu fassen, zu warten und zu hoffen, aber es geht damit nicht so gut, wie ich wollte ... Ein Gedicht - ein eigenes, meine ich - ist ja erst wirklich da, wenn es gedruckt worden ist. Es mag anderen anders damit gehen, ich bin so unsicher und zur Resignation gestimmt, daß mir das Zutrauen je länger je mehr verloren geht, überhaupt etwas herzuzeigen ...“

Doch dann kam sehr bald tatsächlich der Durchbruch, und es waren an ihm die unterschiedlichsten Kräfte und Persönlichkeiten beteiligt, die „Gruppe 47“ mit Hans Werner Richter, Klaus Wagenbach, erst bei S. Fischer, dann im eigenen Verlag, und Felix Berner von der DVA in Stuttgart, Christoph Meckel, der Schriftstellerfreund, und die - wie man heute zynisch sagen würde - „Blockflöten“ vom Union Verlag, in dem Bobrowski seit 1959 als Lektor arbeitete, und auf der „Blockflöte“ spielte auch er (seit 1960) ...

Mit diesem Schriftsteller war, in Lyrik wie in Prosa (und das Drama war in Sicht), ein neuer Ton in der Literatur der DDR zu entdecken: In ungewöhnlicher formaler Gestaltung, zumeist in freien Rhythmen, mit eindrücklicher (sich mitunter allerdings schwer erschließender) Metaphorik und mit rhapsodischem Gestus, wurde ein Thema angeschlagen, das zwar durchaus in das politische Konzept der DDR zu passen schien, das sarmatische nämlich, und es war Anfang der sechziger Jahre, daß er dieses selber so definierte: „... ungefähr: die Deutschen und der europäische Osten. Weil ich um die Memel herum aufgewachsen bin, wo Polen, Litauer, Russen, Deutsche miteinander lebten, unter ihnen allen die Judenheit. Eine lange Geschichte aus Unglück und Verschuldung, ... die meinem Volk zu Buch steht. Wohl nicht zu tilgen und zu sühnen, aber eine Hoffnung wert und einen redlichen Versuch in deutschen Gedichten ...“

Freilich war der neue Ton Bobrowskis nicht allein auf die alsbald von vielen, ja allzu vielen, übernommene ungewöhnliche Form zu beziehen, in der er sein sarmatisches Thema gestaltete. Auch im Thema selbst hatten einige Leitmotive - Schuld, Sühne, Hoffnung - einen eigenen Klang, der nicht unbedingt in die verordnete Harmonie der damaligen DDR-Literaturgesellschaft paßte, und es war nicht allein deren weltanschaulicher, nämlich christlicher Gehalt, der Bobrowskis Eigenständigkeit und seine Fremdheit in dieser Literaturgesellschaft ausmachte. Es kam ein anderes hinzu, und das hatte mit der nationalen Situation in Deutschland zu tun: Bobrowski hatte nämlich nicht nur einen neuen Ton in die Literatur der DDR eingebracht (etwas klischeehaft heißt dies in Wolfgang Emmerichs Kleiner Literaturgeschichte der DDR „innovativ modern“), sondern in die zeitgenössische deutsche Literatur insgesamt. Sicherlich, in der gesamtdeutschen literarischen Szene, die ja - wie wir sahen - beim Durchbruch Bobrowskis eine wichtige Rolle spielte, fiel das Formale an Bobrowskis Dichtung so sehr nicht auf, auch nicht - angesichts der damaligen geistigen Situation in der alten Bundesrepublik - die christliche Tönung seines Leitmotivs, wohl aber dieses selbst, das Sarmatische, sein poetischer Versuch der Öffnung zur östlichen, der sarmatischen Welt. Dieses Leitmotiv stand gegen manches zentrale Klischee, das dem seinerzeitigen restaurativen politischen Milieu in der alten BRD eigen war und das allerdings eine Brücke schlug zu dort wirkenden Schriftsteller/innen, die im karolingisch-katholischen Umfeld ihrerseits Schuld und Sühne einforderten, Heinrich Böll zumal. Wenn der letzte Ministerpräsident der DDR, Lothar de Maizière, 1990 oft betont hat, mit der Wiedervereinigung werde Deutschland „östlicher und protestantischer“, dann mag man (er selber sicher auch) in Zweifel ziehen, ob diese damals tatsächlich vorhandene Möglichkeit Realität geworden ist: Im Literarischen war es, das Östliche und Protestantische, schon Ereignis geworden. Mit ihm war, paradoxerweise in der Zeit tiefster Spaltung kurz vor dem 13. August 1961 und danach, ein Stück DDR-Literatur deutsche Literatur geworden, und dies angesichts des „östlichen“, des sarmatischen Themas und des protestantischen Zeugnisses, das sich in ihm ausdrückt.

Am markantesten tritt das protestantische Profil Bobrowskis in seinem bedeutenden Roman Levins Mühle in Erscheinung, womit nicht in erster Linie die auch vordergründig faßbare „christliche“ Disposition der Personnage (die baptistische zumal) gemeint ist. Wie in jedem guten „christlichen Roman“ (ich denke etwa an Bölls Billard um halb zehn) tritt uns zumal auch in Levins Mühle das Christliche nicht plakativ oder erbaulich entgegen, es ist vielmehr verborgen in profanen Handlungen oder in zeichenhaften Begebenheiten, wie sie die Figuren und Figurationen des Romans bestimmen, wie sie also der Autor in die Spannung seiner Fabel und die Zeichnung seiner Personnage gebunden hat. Oder anders formuliert: Bobrowski ist nicht allein in seiner Lebenshaltung Christ, wie Emmerich dies in seinem erwähnten Buch immerhin festhält, ohne daraus Konsequenzen zu ziehen, nämlich die, wie für diesen Schriftsteller Schreiben Zeugnis und Zeitgenossenschaft bedeutet, er ist er in seinem Schreiben, und in der Rezeption des Geschriebenen und Gedruckten (wir mußten seinerzeit lange auf die Druckgenehmigung warten!) kann der Leser aus den Metaphern den Bezug herauslesen, auf den der Autor ihn eigentlich bringen wollte.

Tatsächlich ist Levins Mühle eine Art historischer Kriminalroman. Anfang der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts schwemmt der reiche deutsche (und baptistische) Mühlenbesitzer Johann die Mühle des Juden Levin, der mit einer Zigeunerin zusammenlebt, weg. Doch freilich wird er seines Tuns nicht froh. „... durch die Solidarität der armen Leute, die ihn zum Gespött machen, wird er, wenn auch nicht der Strafe zugeführt, so doch davongetrieben“, hat Eduard Zak, der seinerzeit in der DDR bekannte Kritiker („Sonntag“, Radio), den anekdotischen Kern der übrigens historisch belegten Geschichte resümiert. Freilich läßt dies den Großvater Johann, dessen „Enkel“ die Geschichte erzählt, nicht zum Nachdenken, geschweige denn zur Korrektur seiner Haltung kommen. Im Gegenteil: Als er am Ort seines „Exils“ in der „Gartenlaube“ einen antisemitischen Artikel liest, in ihm aber allzuviel Resignation und zu wenig Aggressivität entdeckt, schreibt er einen Brief an die Redaktion: „Und fordere ich Sie hiermit auf, die ganze Frage nach meinem Beispiele zu lösen. Unterschrift. Darunter: Rentier zu Briesen, Mühlenbesitzer a. D., Ehrenältester der Gemeinde Neumühl.“

Was hier in wenigen dürren Worten zum Charakter des Romans angeführt wird, läßt indes nichts erahnen von dem Bilderreichtum der Dichtung, der die Filmemacher (Horst Seemann) provozierte, und von der Musik der Sprache, die Udo Zimmermann in seiner Oper auf eigene Weise aufnahm (und gerade in diesen Wochen, Ende Februar 1997, wurden Szenen „Litauische Claviere“ nach Johannes Bobrowski von Paul Gratzik im Berliner Theater 89 uraufgeführt). Es sei dies aber, so Bobrowski selber, „ein vielleicht etwas melancholisches Buch, in dem Deutsche mit ihren Nachbarn agieren, diesmal den Polen: zusätzlich Zigeuner, jüdische Leute, Katholiken, evangelische Sekten, ein italienisch-polnischer Zirkus ...“

Insgesamt also ein auf seine Weise spannender Roman, ein dichterisches Buch. Aber was ist das Christliche - wir hatten es schon betont -, daß vordergründig viele Christen agieren (im Bobrowski-Zitat sind sie nach Konfession und Denomination aufgezählt), daß eine „Union von Malken“ vorgeführt wird, und der Altar in der Kirche von Malken, den der Dichter beschreibt, hat übrigens sein Vorbild in der Kirche des thüringischen Untermaßfeld ... Nein, der Schlüssel zum christlichen Zeugnis in diesem Roman und dieses Romans liegt woanders, er ist verborgen in jenem merkwürdigen Untertitel des Romans, der nicht nur auf den Erzähler verweist: „34 Sätze über meinen Großvater“.

Ich habe schon 1965 in dem ersten Kolloquium des Union Verlags über das Werk Bobrowskis eine These vertreten, die ich später, etwa in meiner biographischen Skizze von 1986 (Union Verlag Berlin), so formuliert habe, und ich habe dem nach wiederholtem Lesen des Romans nichts hinzuzufügen:

„Gerätselt wird oft über die Zahl 34. Gerhard Bassarak hat (im bewußten Anschluß an einige Arbeiten von mir) die letztlich sarmatische Deutung (Standpunkt 4/1982) gewagt:
‚Die Zahl 34 ist gewiß eine Bobrowskische hermetische Schlüsselzahl. Ich stehe nicht an vorzuschlagen, sie aufzulösen in die DREI und die VIER. Es geht um Gottes angedrohte Heimsuchung für die Sünden der Väter an den Kindern bis ins dritte und vierte Glied ...‘ Und: Heute lebt ‚das dritte und vierte Glied‘ der Väter, die den Nazismus heraufgeführt oder nicht verhindert haben ...“. Ich darf wohl ... mit Recht annehmen, daß wir damit nicht etwas in den Roman „hineingeheimnist“, sondern etwas Entscheidendes aus ihm herausgeholt haben. Zu Beginn des 9. Kapitels heißt es nämlich: ‚Der fünfzehnte Satz gehört nicht zur Handlung. Wenn auch zu uns, er heißt, nicht ganz genau: Die Sünden der Väter werden heimgesucht an den Kindern bis ins dritte und vierte Glied. Da reden wir also über die Väter oder Großväter und müßten doch wissen, daß diese Väter und Großväter ihrerseits ebenfalls Kinder sind, im dritten oder vierten oder siebenundzwanzigsten Glied. Da gibt es kein Ende, wenn wir erst anfangen herumzusuchen. Da finden wir Schuldige über Schuldige und halten uns über sie auf und nehmen uns unterdessen vielleicht stillschweigend aus. Obwohl doch zum Beispiel die ganze Geschichte hier unsertwegen erzählt wird.‘ (Hervorhebungen von mir, G. W.) Welche Bedeutung Bobrowski diesem Text zumaß, geht auch daraus hervor, daß er (auf S. 141 des schon beim Verlag eingereichten Manuskripts) zwölf Zeilen vor ihm und vier Zeilen nach ihm, die im Plauderton gehalten und eben doch auf die Handlung bezogen waren, strich, und dies offenbar deshalb, um den inneren Kern seiner Aussage freizulegen. Der Dichter hat damit selbst die Deutung seines Romans als Gleichnis sozusagen vorgegeben ...“

Vielleicht habe ich doch noch etwas hinzuzufügen, nämlich dies, daß der letzte Satz über den Großvater ein „Nein“ ist, ein ebenso schlichtes wie klares Nein - das des redlichen Malers Philippi zur Haltung des Großvaters, zumal zu seinem Antisemitismus. „Und dieses Philippische Nein, das soll gelten. Uns gilt es hier für einen letzten Satz.“ Für ein Bekenntnis also, das aus den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts über die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts zu uns dringen soll ...

Merkwürdig ist freilich, daß das Ja im Werk dieses Dichters, sein Zeugnis, und dieses Nein, sein Bekenntnis, heute oft genug überhört werden, obwohl es, so Wolfgang Emmerich im „Handelsblatt“ vom 17./18. Februar 1995, „nur gute Gründe gibt, sich mit dem Dichter Johannes Bobrowski ... zu beschäftigen, der wohl, noch zu Lebzeiten, der erste in Ost und West gleichermaßen hochgeschätzte, also: schlicht deutsche Autor war ...“ Diese gelten offenbar für Hendrik Birus nicht, der in einer 1996 für Peter Horst Neumann in Würzburg erschienenen Festschrift das nicht besonders gute Verhältnis von Bobrowski und Paul Celan dahingehend deutete, daß Celans Gedicht „Hüttenfenster“ ein „Wink“ für Bobrowski gewesen sei. Mit Blick auf Chagalls Witebsk, über das Bobrowski ein Gedicht geschrieben hatte, habe Celan an den „Schwarzhagel“ erinnert, der auch in Witebsk gefallen sei: „und sie, die ihn säten, sie / schreiben ihn weg / mit mimetischer Panzerfaustklaue!“

Sollte die Deutung von Birus stimmen, dann hätte einem solchen Mißverständnis des sarmatischen Themas von Schuld und Sühne, um die Position Celans zurückhaltend zu charakterisieren, auch nur ein schlichtes, aber klares „Philippisches Nein“ zu gelten ...


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

zurück zur vorherigen Seite