Eine Rezension von Irene Knoll

Helen - das Geheimnis von Lough Glass

Maeve Binchy: Der grüne See
Roman.
Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München 1996, 800 S.

Auf der Seite 788 kommt Lena Gray, eigentlich Helena McMahon, um. Der Autorin fällt nichts mehr ein. Alles, was über die Höhen und Irrtümer einer leidenschaftlichen Liebe gesagt werden kann, hat sie zu wiederholten Malen ausgebreitet. Die schöne Helen hatte Mann und zwei Kinder und ein auskömmliches Leben in dem kleinen Ort Lough Glass bei Dublin verlassen, um mit ihrer großen Liebe, Louis Gray, nach London zu gehen. In Lough Glass glaubt man, sie sei ertrunken. Sie dementiert nicht und ist nun eine lebendige Tote. Aus diesem Umstand zieht Maeve Binchy so viel tragische Konflikte und so viel Spannung, wie es ihr eben möglich ist. Sie läßt sich nicht anmerken, daß sie sehr wohl weiß, daß auch eine Tote eine amtliche Identität braucht, um beerdigt werden zu können. Und Lena wird beerdigt. Bei ihr sind die Tochter, der zukünftige Schwiegersohn, Freunde aus London und, von der Tochter Kit genötigt, der untreue Louis Gray. Das Geheimnis wird nicht gelüftet.

Für so dumm sollte Maeve Binchy ihre Leser nicht verkaufen, wiewohl es sie sicherlich deprimierte, als sie nach 780 Seiten Gestrick merken mußte, daß Trennen angesagt war, wenn das Muster aufgehen sollte. Es ist, wenn schon nicht eine Sache des literarischen Anspruchs, so doch eine des persönlichen Anstands, ob ein Autor seinen Leser ernst nimmt oder von ihm erwartet, er möchte doch ein Auge zudrücken angesichts seiner Notlage. Maeve Binchy hat darauf verzichtet zu trennen, denn sie hätte ein anderes Buch schreiben müssen. Und der Verkauf gibt ihr recht, das Buch war 1995 auf dem zweiten Platz der englischen Bestsellerliste. Die Verkaufszahlen eines Buches beweisen so viel wie die Einschaltquoten beim Fernsehen.

Gibt es für die Qualität von Unterhaltungsliteratur also andere Maßstäbe als für Belletristik, für die schöngeistige Literatur? Vielleicht genügt es den Lesern solcher Bücher, wenn sie sich damit nicht langweilen. Vielleicht fragen sie nicht nach der Logik des Verhaltens der Figuren und der Verhältnisse? Musikkritiker wollen in bezug auf U- und E-Musik nur nach guter oder schlechter Musik unterschieden wissen. Beide bedienen unterschiedliche Ansprüche mit unterschiedlichen Mitteln. Die Unterhaltungsliteratur hat sich seit Rinaldo Rinaldini sehr differenziert. Man kann Umberto Ecos Der Name der Rose dazuzählen und auch Patrick Süskinds Das Parfüm. Simmel hat ein anderes ästhetisches Niveau als Konsalik und Christine Brückner wieder ein anderes. Vergleiche sind nur selten ergiebig. Legitim und angemessen aber ist, jedes Buch an den von ihm selbst hervorgebrachten Sachverhalten und provozierten Fragen kritisch zu messen. Ich will, der Verständigung halber, auf ein paar Unzulänglichkeiten in Der grüne See aufmerksam machen. Die Geschichte Maeve Binchys beginnt 1952. Die Jahreszahl ist dem ersten Kapitel vorangestellt, was in besonderem Maße Aufmerksamkeit einfordert. Die Autorin verfolgt Lebensläufe über einen Zeitraum von etwa zehn Jahren, markiert diese Zeit aber nur durch ein paar Filmtitel und durch die Tatsache der Krönung Elizabeths II. Wenn sie also den politischen Geist der Zeit nicht reflektieren kann oder muß, weil es die Behandlung ihres Stoffs nicht erfordert, so vermutet man, da der Zeitraum so prononciert angegeben ist, ein gesteigertes Interesse an der Darstellung der Moral der Zeit oder doch wenigstens am modischen Geschmack der Jahre oder aber an ihrem Widerschein im kleinen irischen Ort. Das alles wird weitgehend ignoriert, in bezug auf die verinnerlichten moralischen Normen der fünfziger und sechziger Jahre sogar entstellt. Die Autorin zeichnet mit Mutter und Tochter zwei relativ souverän denkende und handelnde Frauen von blendendem Aussehen und guten Geistesgaben, die dank dieser Ausstattung mit der weniger begabten Umwelt leichtes Spiel haben. Es sind zwei Heldinnen ohne echte Gegenspieler, das ist wohl das Erfolgsrezept dieses Unterhaltungs-, in dem Falle eines Frauenromans, der seine Leser nicht überanstrengen will. Eine konkrete historische Zuordnung war für die Geschehnisse, die Maeve Binchy mitteilt, völlig unnötig. Ihre Geschichte hätte auch zehn oder zwanzig Jahre später spielen können.

Merkwürdigerweise versprechen die beiden ersten Kapitel, die ja die Exposition des Romans darstellen, viel mehr als plätschernde Unterhaltung. Es sind zwei Kapitel, die den Ort am See, seine Romantik, Legenden, das fahrende Volk der Kesselflicker zu einer Atmosphäre verdichten, in der das kratzbürstige Freundinnenpaar Kit und Clio und die schöne Helen, die am grünen See fremd geblieben ist und als ein wenig seltsam gilt, Aussichten auf eine spannende Handlung eröffnen. Da fällt ein Satz des Arztes über die „dumpfe Schicksalsergebenheit von Menschen, die am Rande eines Gefahrenherds lebten und dennoch keine Vorsichtsmaßnahmen trafen“, ein Satz, der aufhorchen läßt, und Helen spricht ihrer Tochter gegenüber die bestimmte Hoffnung auf mehr Frauenrechte und -souveränität in den sechziger Jahren aus. Es sind Sätze, von denen der Leser Erwartungen ableitet, die die Autorin nicht erfüllt. Ja, vom dritten Kapitel an scheint ein anderer Autor geschrieben zu haben, denn es vollzieht sich ein totaler Stilabfall; er ist so umfassend, daß er dem Umstand, daß drei Übersetzerinnen an der Übertragung gearbeitet haben, nicht angelastet werden kann. Erzählstil, Ausdruck, Dialogsprache sind völlig verändert, selbst Helen scheint nicht mehr dieselbe Person zu sein. Dieses Niveau behält das Buch dann bei. Eine Figur allerdings fällt aus dem Rahmen der oberflächlichen Handlung, obwohl sie sie in gewisser Weise zusammenhält. Das ist die Schwester Madelaine, eine Außenseiterin und gleichzeitig Menschen und Schicksalen diskret und hilfreich zugewandte Nonne, die ihre eigne Moral lebt. Wie Maeve Binchy den Wirkungskreis der alten Frau aus deren völlig uneitlem Bemühen darstellt und sie dann doch zu Zweifeln an der Richtigkeit ihres isolierten Handelns vordringen läßt, das ist bemerkenswert.

Maeve Binchy, die in Dublin geboren wurde, gönnt den beiden jungen Mädchen ganz muntere Wortwechsel. Das nimmt man erfreut zur Kenntnis, denn als Erzählerin tut sie sich nicht gerade mit Gedankenschärfe hervor, obwohl sie eine geübte Schreiberin ist. Sie hat als Kolumnistin bei der „Irish Times“ gearbeitet und Kurzgeschichten, Romane und auch Theaterstücke veröffentlicht. „Der Spiegel“ bezeichnete sie als die Rosamunde Pilcher Irlands. Das wäre ein Qualitätsmerkmal, das das Erscheinen des Buches im Zusammenhang mit der Repräsentanz der irischen Literatur auf der Frankfurter Buchmesse wohl rechtfertigt. Vielleicht wird es auch hierorts ein Bestseller.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10+11/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

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