Eine Rezension von Helmut Eikermann

Ein deutsches Heimatbuch

Ulrich Chaussy: Nachbar Hitler
Führerkult und Heimatzerstörung am Obersalzberg.
Mit aktuellen Fotos von Christoph Püschner.
Ch. Links Verlag, Berlin 1995, 220 S.

Der in München lebende Journalist Ulrich Chaussy, Verfasser einer ebenfalls bei Ch. Links erschienenen Rudi-Dutschke-Biographie und einer multimedialen Dokumentation des Münchner Studenten-Widerstandes gegen Hitler, hat in neunjähriger Arbeit das Material für diesen vorzüglich ausgestatteten Band zusammengetragen, der auf den ersten Blick wie ein Heimatbuch über einen idyllischen Winkel Deutschlands wirken könnte, wäre da nicht der Titel, der wenig Idyllisches verheißt: Nachbar Hitler. Im Mai 1923 kam Hitler zum ersten Mal in den Luftkurort nahe der Grenze zu Österreich, um seinen geistigen Mentor, den antisemitischen Barden und Mitbegründer der „Deutschen Arbeiter Partei“ Dietrich Eckart zu treffen. Fortan zog es den Parteivorsitzenden der NSDAP immer wieder ins Berchtesgadener Land, wo man ihm und seinen Ideen von Anfang an viel Sympathie entgegenbrachte. Ein Pensionswirt stellte ihm 1925 eine - später zum „Kampfhäusl“ verklärte - Holzhütte zur Verfügung, in der „Dr. Wolf“ ungestört den zweiten Teil von Mein Kampf diktieren konnte. 1927 mietete Hitler, immer noch nur einer von vielen „Sommerfrischlern“ am Obersalzberg, das Ferienhaus „Wachenfeld“.

Sofort nach der Machtergreifung erläßt Himmler eine Bekanntmachung über die eingeschränkte „Straßenbenützung“ während der Anwesenheit des Herrn Reichskanzlers, dessen bloßen Anblicks, ja vielleicht sogar Händedrucks nun allsonntäglich Tausende begeisterte Volksgenossen harren. Die Erwartungen der frühen Obersalzberger Hitleranhänger und der späten Mitläufer auf das große Geschäft aus diesem Rummel werden bald enttäuscht. Gegen den „Türkenwirt“ Karl Schuster - Mitglied der NSDAP seit 1930 - verhängt die Partei einen Boykott; Schuster wird inhaftiert, Rudolf Heß zwingt ihn zum Verkauf des Gasthofs. Die im Berchtesgadener Anzeiger veröffentlichte Bekanntmachung des politischen Leiters der NS-Ortsgruppe gegen angebliche Gerüchtemacher ist an Deutlichkeit nicht zu überbieten: „Der Fall Schuster ist abgeschlossen. Wir warnen die Verbreiter derartiger Gerüchte und müßten solche Personen als staatsfeindlich bezeichnen, so daß diese Schädlinge ins Konzentrationslager nach Dachau verbracht werden müßten.“

Für die Einwohner am Obersalzberg war das nur der Anfang. Mit den Honorareinnahmen von Mein Kampf hatte Hitler inzwischen das Haus Wachenfeld erworben, die bayerische Staatsregierung schenkte Göring ein Grundstück in der Nähe. 1935 beginnt Heß' Sekretär Martin Bormann mit dem Aufkauf der Liegenschaften für das geplante „Führersperrgebiet“, dem die Vertreibung aller Einwohner und der Abriß der Gebäude auf dem Fuße folgen. Nach den Entwürfen des Amateur-Architekten Hitler wird Wachenfeld zum „Berghof“ umgebaut, SS-Kasernen wachsen empor, Martin Bormann baut sich einen Gutshof. Auf dem Kehlstein entsteht mit ungeheurem Aufwand ein kaum genutztes Tee- und Gästehaus für Hitler. Der empfängt auf dem Obersalzberg nicht nur seine nächsten Kumpane, auch der britische Ex-Premier Lloyd George, der abgedankte König Edward VIII. und schließlich Premierminister Neville Chamberlain beehren den Berghof mit ihrem Besuch.

Die Bautätigkeit auf dem Obersalzberg läßt auch in den Kriegsjahren nicht nach. Die Arbeitskraft Hunderter Fremdarbeiter dient dazu, kilometerlange Stollen und Bunkerkavernen ins Gestein zu treiben - die einzigen Bauten übrigens, die Goebbels' Legende von der Alpenfestung einen Anschein von Realität geben. Diktatoren haben anscheinend eine unheilbare Vorliebe für Sperrgebiete und nutzlose Bunkerbauten. Am 14. Juli 1944 verläßt Hitler den Obersalzberg für immer. Erst am 25. April 1945 verwandeln 318 britische Lancaster-Bomber das Führersperrgebiet in eine ruinenübersäte Mondlandschaft. Eine Woche später fotografiert die amerikanische Kriegsberichterstatterin Lee Miller die brennenden Ruinen und die Plünderer aus der Umgebung.

Was folgt, ist eine Farce. Die Amerikaner nutzen den einstigen Türkenhof als Erholungshotel, durch die Ruinen der Hitlerbauten ziehen alljährlich Tausende Touristen. Keiner der ehemaligen Einwohner von Obersalzberg erhält sein Eigentum zurück; die Vergangenheit verklärt sich in Legenden. Chaussys Verdienst ist es, mit dem Tabu zu brechen, das über der Stätte liegt. Er recherchiert gründlich, spürt - auch unwillige - Zeitzeugen auf und befragt sie, macht die ach so deutsche Geschichte des Berges in all ihren Facetten und Brüchen sichtbar. Dem Auf- und Abstieg des Braunauer Gefreiten stellt er das Schicksal der einstigen Dorfbewohner und ihrer Gäste gegenüber. Drei Kapitel sind der jüdischen Familie des Erfinders und Kunststoffpioniers Dr. Arthur Eichengrün gewidmet, der seinen ehemaligen Nachbarn Hitler überlebte - im KZ Theresienstadt. Auf dem Obersalzberg aber blüht noch immer der Führermythos, wie die Bilder von Christoph Püschner beweisen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10+11/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

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