Eine Rezension von Waldraud Lewin

Geschichte einer Obsession

Haruki Murakami: Gefährliche Geliebte
Roman.
Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini.
DuMont Buchverlag, Köln 2000, 230 S.

Es hätte um dieses Buch genausoviel oder sowenig Wirbel gegeben wie um das meiste, was aus dem Japanischen zu uns kommt - zumal, wenn wir es nicht aus dem Original übertragen bekommen, sondern aus einer englischen Übersetzung weitervermittelt - wäre da nicht der Eklat zwischen den rechthaberischen alten Herrn und der pedantischen alten Dame des „Literarischen Quartetts“ gewesen.

Für alle, die sich auf Grund dieser Kontroverse eine wilde Porno-Geschichte vorstellen: Fehlanzeige. Erotik und Sex spielen in diesem Roman keine größere Rolle als in anderen fernöstlichen Büchern auch. Eine Kultur, die fern vom Diktat christlicher Körperfeindlichkeit und Moralinsäure existiert, findet ihre Tabuzonen, ihre Schamgrenzen in ganz anderen gesellschaftlichen Bereichen als in der Beziehung der Geschlechter. So sind denn Liebesszenen hier von der Klarheit einer Tuschzeichnung, ohne Verschleierungen oder Romantisierungen, brutal und rein zugleich, aber alles andere als „pikant“. Wer einmal einen der großen japanischen Sexfilme gesehen hat, weiß, wovon ich rede. Insofern ist der Gegenstand des Streites eigentlich irrelevant.

Dies Buch ist ein sehr spezifisch japanisches. Der Ich-Erzähler, von Haus aus eher Einzelgänger, aber durchaus gesellschaftlich angepaßt, gewinnbringend und glücklich verheiratet, Vater zweier Kinder, trifft eines Tages unvermittelt eine Frau, in der er seine Kindheitsliebe Shimamoto, ein introvertiertes Einzelkind mit einem zu kurzen Bein, wiederzuerkennen glaubt. Das Mädchen zog fort, als es zwölf Jahre alt war. Ein Viertel Jahrhundert später findet er sie wieder, meint er sie wiederzufinden - wenn sie es denn ist. Shimamoto kennt die Musik, die sie als Kinder gemeinsam gehört haben, sie zieht - zumindest zu Anfang - ein Bein nach, sie hat das bezaubernde, das rätstelhafte Lächeln der Kindheitsliebe. Sie erscheint an regnerischen Abenden, reich und geschmackvoll gekleidet, souverän melancholisch - und sie verrät nichts über ihr Leben.

Hijame, der Ich-Erzähler, verfällt ihr zusehends, wartet voll Ungeduld auf ihr erneutes Auftauchen. Manchmal vergehen Jahre zwischen den Begegnungen. Und immer mehr scheint es so, als sei Shimamoto nicht Shimamoto sondern - ja, wer? Ein Phantom, eine fleischgewordene Vision, die Verkörperung der Schuldgefühle Hijames (er hat einst eine junge Frau auf unschöne Weise sitzenlassen), seine geheime Todessehnsucht? Denn es steht fest: Sie will sterben, am liebsten mit ihm. Oder will sie ihn nur in den Tod stürzen? Als sie endgültig davonläuft - auf einmal hat sie kein lahmes Bein mehr -, begegnet ihm kurz darauf in einem Taxi seine verlassene Geliebte. Sie starrt ihn an „mit einem vollkommen ausdruckslosen Gesicht ... Was sich darin abzeichnete, war eine unendliche Leere.“

Hijame versucht, zu seiner Familie, zu seiner verzeihenden Frau zurückzukehren. Aber der Roman läßt, in der typisch fernöstlichen Kunst, nichts auszusprechen, den Ausgang offen. Wieder regnet es, wie immer dann, wenn Shimamoto ihm erschien, es regnet in seiner Erinnerung, und jemand kommt und legt ihm „sacht eine Hand auf die Schulter“. Ist es eine Frau? Ist es das Erinnerungsbild, das ihn einholt und zugreift?

Haruki Murakami ist ein Meister darin, die Grenzen des Wirklichen verschwimmen zu lassen. Jene behutsame Art, vom scheinbar gesicherten Detail ausgehend, Irreales zu weben, Triviales und Übersinnliches in einem Schwebezustand zu halten, Einzelheiten doppeldeutig zu werten, Situationen im nachhinein in ein anderes Licht zu stellen - das ist die hohe Kunst der japanischen Literatur, und hier ist der Autor durchaus in der Tradition der großen Meister. Man denke nur an Kobo Abes beklemmende Lebensparabel Die Frau in den Dünen.

Die hinkende Shimamoto - ist sie vielleicht irgendeine zwielichtige Göttin, wie die Fuchsgöttin und Beschützerin der Reisfelder Inari, die nachts die Männer besucht und ihnen nach der Liebe die Eingeweide herausreißt? Die Bilder der fremden Kultur schweben an unseren Augen vorbei wie Bruchstücke eines Films von Kurosawa. Wie in „Rashomon“ gibt es in alle Ewigkeit keine gültige reale Wahrheit. Zumindest nicht für unsere Augen.

Daß sich die Gefährliche Geliebte zum Teil banal liest, hat seinen Grund zweifellos darin, daß wir manche Hintergründe nicht verstehen. Inwieweit daran die Übersetzung schuld ist, vermag ich nicht zu beurteilen. Allerdings kommen mir Formulierungen wie „du bist jetzt besser gebaut“, ziemlich ungeschickt vor. Das Buch führt uns gleichsam über Ebenen an Abgründe. Wer es als Erotik-Thriller lesen möchte, kommt nicht auf seine Kosten.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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